Bedrohung / Kurzgeschichte

Es gibt Legenden über Orte, die das Böse anziehen.
Die untergehende Sonne warf lange Schatten über den See. In den Birken am Seeufer raschelten die Blätter. Jem hielt den Schwimmer seiner Angel fest im Auge und wartete auf das leise Rucken, das ihm verriet, wenn einer angebissen hatte. Die Hechte bissen um diese Zeit am besten.
Im Ort hatte man ihm gesagt, hier würde das Böse hausen und er solle diesen Platz meiden. Jem hielt das für Aberglaube. Doch seit er vor einer halben Stunde hier angekommen war, verspürte er eine seltsame Unruhe.
Die Wärme des Tages war erstaunlich schnell einer merklichen Kühle gewichen. Dennoch stand ihm der Schweiß auf der Stirn.
Links von sich hörte er ein leises Plätschern. Sein Kopf ruckte herum. Da war aber nichts.
Was war nur los mit ihm? Woher kam diese Unruhe?
Ein leises Jaulen drang an sein Ohr, wurde lauter und schwebte lang anhaltend über den See hinweg. Jem lief ein Kribbeln die Wirbelsäule herunter. Wölfe? Gab es hier Wölfe? Wahrscheinlich war es nur ein verwilderter Köter.
Das Jaulen verklang. Jem spürte sein Herz pochen. Irgendwie war ihm die Lust zum
Angeln vergangen. Entschlossen stand er auf und kurbelte die Angelschnur ein. Er würde in sein Hotel fahren, sich an der Bar ein, zwei Drinks genehmigen und dann zu Bett gehen. Morgen könnte er an einem anderen Ort sein Anglerglück noch einmal versuchen. Er hob seinen Rucksack auf und ging zu seinem Wagen, den er in der Nähe abgestellt hatte.

Als er ihn erreichte hatte, spürte er wie die Anspannung von ihm abließ. Was war das gewesen dort am Seeufer? Warum hatte er so ein Grausen gespürt? Hatten ihm die Bemerkungen der Dorfbewohner solch eine Angst eingejagt? ‚So ein Quatsch, dachte er. Er schüttelte den Kopfund war drauf und dran wieder zurück ans Ufer zu gehen. Doch irgendetwas hielt ihn davon ab. Er stieg ein, ließ den Wagen an und fuhr los. Die Sonne, die eben noch knapp über dem Horizont zu sehen gewesen war, war verschwunden. Schwarze Wolken verdeckten sie.
In weniger als zehn Minuten hatte Jem sein Hotel erreicht.
Den von Bisswunden übersäten weiblichen Körper, der nur wenige Meter neben ihm am Seeufer in einem Gewirr von Rohrkolben halb im Wasser gelegen hatte, hatte er nicht gesehen.

© R. Güllich

Bürgerreporter:in:

Rainer Güllich aus Marburg

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