Zeitreise in die 70er - Die Magie der Christuskirche und die Faszination einer Kneipe

Die Christuskirche steht da wie ein Fels in der Brandung. Aber die eine oder andere Kneipe hier in der Gegend gibt es nicht mehr. Meine Gedanken schweifen ab, in die späten 70er...

Samstag, November 1979

„Leute, eigentlich will ich da jetzt gar nicht rein“, erklärte Steffi und drehte sich zu ihren Begleitern um.
Zusammen mit ihren Schulkameraden Peter und Martin stand sie vor dem Eingang zum Coupe 70 auf der Kaiserstraße in Mainz.
„Frauen!“, stöhnte Martin.
„Hatten wir das nicht gerade am Bahnhof besprochen? Erst Coupe 70, dann in der Pinte vorbeischauen und danach – mal sehen …“ Peter zog die Augenbrauen hoch.
„Ja!“ Steffi betrachtete sich intensiv ihre Fingernägel. „Pinte find ich jetzt aber doch besser.“
„Na gut.“ Martin zuckte die Achseln. „Da wären wir ja sowieso als Nächstes hin.“
„Ja, was soll´s?“ Peter machte auf dem Absatz kehrt.
Sie überquerten die Fußgängerampel und liefen in Richtung Neubrunnenstraße.
„Nicht, dass Frauen oft ihre Meinung ändern würden …“ Martin konnte es nicht lassen.
Steffi ignorierte ihn. Immerhin hatte sie ihren Willen durchgesetzt.
Die Kaiserstraße war durch eine bepflanzte Anlage in zwei Fahrbahnen unterteilt. Zu ihrer Linken erstreckte sich die von Bäumen umgrenzte Grünfläche bis zur Christuskirche. Die Dämmerung setzte gerade ein, an diesem milden Septemberabend. Eine Weile blieben sie stehen und betrachteten die Kirche.
„Irgendwie hat der Anblick was Magisches …“, seufzte Peter.
„Sieht toll aus“, bestätigte Martin knapp und zündete sich eine Zigarette an.
„Nicht der Dom, aber sehr schön“, fügte Steffi hinzu.
„Am schönsten sind die Schulgottesdienste am Anfang vom Schuljahr“, feixte Peter.
Sie lachten.
„Gegengewicht zum Dom, sollte sie sein. Also ich weiß nicht“, überlegte Steffi.
„Wie kommst du jetzt auf so was?“ Verwundert blickte Martin zu ihr.
„Wie sprechen gerade in Geschichte darüber.“
Sie schwiegen. Die Kuppel der Kirche wirkte wie ein Tempel. Das hatte was! Einige Passanten verlangsamten ihren Schritt, andere blieben ebenfalls einen Moment stehen.
„Irgendwie gibt es so ein paar Dinge in der Heimatstadt, die einem ans Herz gewachsen sind.“
„Heimatstadt! Mensch, Peter! Du hörst dich an wie mein Opa.“ Martin grinste.
„Ja, aber er hat doch recht.“ Steffi nickte Peter zu.

Fünf Minuten später betraten sie die Pinte. Hier herrschte eine andere Art von Magie, die eine andere Art von „Heimatgefühl“ auslöste.
Junge Leute unterhielten sich lärmend an voll besetzen Tischen. Die Bar neben dem Eingang war ebenfalls dicht bevölkert. An der Decke blitzten leere Flaschen, Rauchspiralen hingen wie bizarre Quallen in der Luft, der Zigarettenqualm schmerzte in den Augen.
„Gude!“ „Ihr hier und nicht in Hollywood – grosaadisch!“ „Hallo?“ „Alles klar?“
Das war Heimat pur!

Weiter hinten fanden sie – oh Wunder – einen freien Tisch. „Zwei Cola, ein Pils“, rief Martin gut gelaunt der Bedienung zu.
Peter Maffay seufzte So bist du.
Verrückt, dachte Steffi. DEN spielen sie hier doch sonst nie. Deutsche Musik. Fast ein Schlager. Nee. „Was habt ihr eigentlich nach der Schule vor?“, rief Steffi jetzt über den Tisch hinweg.
Der Geräuschpegel war ziemlich hoch.
„Jura studieren.“ Martin zog die Nase kraus. „Mal sehen, ob es das ist, was ich wirklich will. Isch waas es nidd.“ Seine Zigarette klebte in einem Mundwinkel. Wegen des aufsteigenden Rauches musste er ein Auge zukneifen.
„Germanistik ist für mich auf jeden Fall das Richtige.“
Peters tiefe, volle Stimme brachte Steffi immer noch zum Schmelzen. In der elften Klasse war sie in ihn verknallt gewesen, aber jetzt nicht mehr. „Wir sehen erst mal zu, dass wir unser Abitur hinkriegen“, warf sie ein.
„Ja, Mann.“ Martin stöhnte. „Im April geht es los. Aber danach …“ Er setzte sich gerade hin, legte eine Hand an die Stirn, als wollte er salutieren. “… Dann heißt es: Schlossgymnasium auf Nimmerwiedersehen!“
„Perversiko – uff Ex!“ Am Nachbartisch, den Steffi mühelos anfassen konnte, wenn sie sich etwas vorbeugte und dabei den Arm ausstreckte, warfen drei junge Männer die Köpfe nach hinten und kippten sich Persiko in den Hals.
Peter schüttelte sich. „Koppweh …“
„Männä …“ Der Redner vom Nachbartisch, so um die zwanzig mit aschblonden kinnlangen Locken, wischte sich mit dem Ärmel über den Mund.
Steffi erinnerte sich daran, dass er gerade sein Moped vor der Pinte geparkt hatte, als sie gekommen waren. Er gefiel ihr.
„Jetzd bestelle mä Cola-Bieä“, fügte der Blonde hinzu.
Zustimmendes Gemurmel.
„Rischdisch“, erklärte sein Gegenüber, ein drahtiger Dunkelhaariger mit Palästinenser-Tuch um den Hals. „Sunsd see mä die Zahle dobbeld.“
„Des wäer nidd so gud“, pflichtete der Dritte im Bunde, ein kleiner Zierlicher in schwerer Lederjacke, bei, während er die Würfel mit einer Hand zusammenschob und in den Becher fallen ließ.
„Würfel-Pasch!“, stellte Martin fest. „Wir könnten auch ein paar Runden spielen.“ Grinsend sah er von Peter zu Steffi.
„Och nee!“ Steffi wehrte ab. Sie hasste es, wenn die Jungs ständig Würfel-Pasch spielten, ein verbreiteter und beliebter Zeitvertreib in der Pinte.
Peter zog die Brauen nach oben, setzte an, um einen Kommentar abzugeben, kam aber nicht dazu.
Weiter vorne in der Nähe der Theke grölte jemand: „Mann, kann mal einer Peter Maffay abdrehen“.
Sofort wurden zustimmende Rufe laut. Kurz danach klangen die ersten Töne von Smoke On The Water durch den Raum, begleitet von beifälligen Kommentaren und vereinzeltem Klatschen.
Als wieder etwas Ruhe eingekehrt war, wendete sich Peter an Steffi. „Was machst du nach der Schule?“
„Eine Lehre als Buchhändlerin.“ Sie griff nach ihren Zigaretten, was ihr einen missbilligenden Blick von Peter einbrachte.
„Wo?“, fragte Peter nach.
„Buchhandlung Krichtel.“
„Sind Buchhändlerinnen nicht so ein bisschen wie graue Mäuse?“ Martin grinste.
Bevor Steffi sich darüber aufregen und ihre Berufspläne verteidigen konnte, schwoll die Geräuschkulisse an. Einige sangen den Refrain des Liedes lauthals mit. Smoke On The Water … Fire In The Sky.
„Ob ´ne Buchhändlerin eine graue Maus ist, hängt ja wohl von der Frau ab“, kam Peter ihr zu Hilfe, als die Sänger verstummt waren. „Dafür sehe ich bei Steffi keinerlei Anzeichen.“
Dafür schenkte sie ihm ihr schönstes Lächeln.
„Jaja, ist klar“, stimmte Martin rasch zu.
„Was würde dich denn interessieren, wenn du dir mit Jura nicht sicher bist?“ Herausfordernd wandte sich Steffi an ihn.
„Politik, die Grünen. Oder ich eröffne einen Buch- und Schallplattenladen. Hätte ich auch Lust zu.“
Grammy in der Augustinergasse ist super.“ Peter wedelte mit der Hand vor seinem Gesicht, um den Rauch zu vertreiben.
Für Nichtraucher war der Aufenthalt in der Pinte eine echte Herausforderung.
„Stimmt!“ Martin deutete mit dem Zeigefinger in Peters Richtung.
Wieder wurde es lauter, weil mehrere Leute in den Refrain von Who Are You einstimmten.
Der blonde Mopedbesitzer vom Nebentisch erhob sich, machte sich auf in Richtung Theke, nicht ohne Steffi zuzuzwinkern.
„Du weißt ja Bescheid, Karl. Wer hinter die Theke läuft, muss den Jungs und Mädels hinter dem Tresen ´ne Runde Appelkorn ausgeben“, rief der mit dem Paläsinenser-Tuch ihm hinterher.
Nach der kurzen Ablenkung wandte sich Martin wieder seinen Freunden zu. „Wo gehen wir eigentlich später hin? Die Pinte ist ja zum Aufwärmen!“
La Bastille“, erklärte Steffi kategorisch.
„Magisches Dreieck: Goldstein – Orfeo – Terminus!“ Peter nickte bekräftigend.
„Mensch Leute …“ Der Mopedfahrer, erstaunlicherweise bereits zurück von der Theke, blieb kurz stehen, hob den Zeigefinger und grinste. „Vodoo ist angesagt.“
Sie sahen sich an: Ja, warum nicht?
Lektorat Carolin Olivares

Bürgerreporter:in:

Carolin Olivares Canas aus Mainz

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