Mainz im Oktober 1977: Lee Barracks, Terrorherbst und mehr ... Teil 2

Am Freitag, dem 14.Oktober 1977, einen Tag nach der Entführung der Landshut trifft sich Lydia mit ihrem Freund Steve, einem GI, vor den Lee Barracks. Es fängt gut an, aber schließlich zeigen sich „Unterschiede".

Leseprobe aus "Calling USA" von Paula Dreyser

Fragend zog er die Augenbrauen nach oben. „Davon habe ich nichts gehört“, antwortete er mit einem unergründlichen, merkwürdig verschlossenen Gesichtsausdruck.
Lydia traute ihren Ohren nicht. „Hast du mitgekriegt, dass die RAF einen wichtigen Mann der deutschen Wirtschaft entführt hat?“
„Nein.”
„Den Namen Schleyer schon mal gehört?”
Langsam schüttelte er den Kopf. Kaum merklich fror seine Mimik ein. „Wieso redest du in diesem aggressiven Ton mit mir? Was soll das werden, ein Verhör?“
Lydia schluckte, versuchte, sich zu mäßigen. „Steve, ständig wird davon berichtet. Ihr hört doch auch Radio und seht fern.“
„Klar, wir hören AFN und lesen die Stars and Stripes. Zum Appell kriegen wir die neuesten Nachrichten aus den USA und alle Informationen, die unsere Streitkräfte betreffen, mitgeteilt.“
Sie sehen und hören keine deutschen Sender! Die Verblüffung über diese Erkenntnis nahm Lydia den Wind aus den Segeln. Im nächsten Moment wurde ihr etwas klar: Natürlich nicht, sie sprechen ja kein Deutsch. Irgendwie leben wir doch in zwei verschiedenen Welten. Der Gedanke stimmte sie traurig.
Entschlossen nahm er ihre Hand, um weiterzugehen.
Lydia fühlte sich gemaßregelt, spürte, dass er sauer war, konnte aber keine Ruhe geben. „Was ist mit der RAF, Rote Armee Fraktion, Baader Meinhof Gruppe?“ Mist, das hörte sich schon wieder schulmeisterlich und ziemlich spitzfindig an.
„Wir GIs kümmern uns um unsere eigenen Angelegenheiten.“ Das klang arrogant.
Von einer Litfaßsäule am Straßenrand starrten ihnen die schwarz-weißen Gesichter von zwölf noch flüchtigen RAF-Terroristen entgegen. Mühsam verbiss sich Lydia einen Kommentar.

Den Rest des kurzen Weges schwiegen sie. Mit dem Betreten des Gasthauses an der Krim löste sich die schlechte Stimmung zwischen ihnen auf. Alles war wie immer, eine Kneipe, in der Freunde warteten, Zigarettenrauch, leichter Bierdunst, dazu Glen Campbells Wichita Lineman.
Ben und Ellen winkten stürmisch, waren offensichtlich bester Laune.
Sie setzten sich zu ihnen.
„Hey.“
„Alles klar bei dir?“ Lydia griff über den Tisch und berührte ihre Freundin leicht an der Schulter.
Vor zwei Wochen war Ellen aus dem Haus ihrer Eltern ausgezogen, nachdem die ständigen Streitereien mit ihrem Vater, der zu viel trank, eskaliert waren. Mit Hilfe ihrer Mutter hatte sie ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft gefunden. Ellen war bereits neunzehn Jahre, also volljährig. Bei dem Umzug hatten Schulkameraden und amerikanische Freunde geholfen.
„Alles bestens“, erklärte Ellen aufgeräumt. „Ben regt sich immer noch über das einfache Badezimmer in meiner WG auf. Vor allem die Badewanne findet er altertümlich. Er hat auch überhaupt kein Verständnis dafür, wenn Leute nicht jeden Tag duschen.“
Ben nickte heftig. „Nur GIs im Manöver sind entschuldigt“, erklärte er.
„Na ja, ich kenne viele Leute, die gar keine Dusche haben. Es ist noch nicht lange her, da war Samstag Badetag.“ Die irritierten Gesichter der beiden Männer amüsierten Lydia.
„Unter der Woche gab es nur Katzenwäsche“, fügte Ellen hinzu, die offensichtlich ebenfalls ihren Spaß hatte.
Die Amerikaner schüttelten die Köpfe. Bei der jungen Kellnerin bestellte Steve für sich ein Bier und für Lydia eine Bluna.
„Mann, das vermisse ich, korrekte Duschen“, Ben zündete sich eine Zigarette an.
Steve lachte. „Ja, und die Autos!“
Lydia und Ellen wechselten einen vielsagenden Blick. Sie mochten die riesigen amerikanischen Kutschen überhaupt nicht.
„Was vermisst ihr denn sonst noch so?“, wollte Ellen wissen.
Lydia war ganz Ohr.
„Angeln im Ozean. Zelten mit den Kumpels.“ Das war Steve.
Ja, New Jersey lag ja am Meer.
„Autokinos und Eistee.“ Genüsslich zog Ben an seiner Zigarette.
„Mit jeder Menge Eiswürfel.“ Steve strahlte über das ganze Gesicht, fuhr sich unbewusst mit der Zunge über die Lippen. „Geschäfte, die immer offen sind“, fiel ihm noch ein.
Nachdem die Kellnerin die Getränke für Steve und Lydia serviert hatte, erhob Ben sein Glas und prostete seinem Kumpel zu. „Lass uns darauf trinken, dass das hier irgendwann vorbei ist, und dann heißt es ‚back to the world‘.“
Sie stießen ihre Biergläser gegeneinander.
Lydia erstarrte.
„Wie lange hast du eigentlich noch, Gardner?“
Bei dieser Frage schnürte sich Lydias Hals zu.
„Neun Monate, drei Wochen, vier Tage.“
Lydia fühlte Ellens besorgten Blick auf sich ruhen. Sie sah zu ihrer Freundin und lächelte tapfer. Bis nächstes Jahr im August blieb ihnen ja noch Zeit.

© Carolin Olivares, Lektorat Carolin Olivares, Paula Dreyser
Foto: Michael Ciaccio (Danke für die Genehmigung zur Veröffentlichung)

Bürgerreporter:in:

Carolin Olivares Canas aus Mainz

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