Erinnerungen
Zum heutigen Tag: Eine Reise in die Vergangenheit ...
Leipzig kurz nach der Wende - 19 August 1990
Leipzig ist die Heimatstadt meiner '"Adoptivmutter" Ruth Salzer (die früher Inge-Ruth Einschlag hieß). Sie ist dort aufgewachsen und zur Schule gegangen. Ihren sächsischen Akzent ist sie über all die Jahre niemals ganz losgeworden; sie konnte ihn nicht verbergen, auch wenn sie Englisch sprach. Ihr Hebräisch war fantastisch, sie arbeitete sogar als Übersetzerin, aber beim Sprechen ließ sich das Sächsische ebenfalls nicht ganz unterdrücken ;-).
Im Jahre 1990 habe ich mit ihr, ihrer Tochter Elischewa und ihrem Enkel Dedi von Berlin aus eine Fahrt nach Leipzig unternommen, da sie die Stadt noch einmal sehen wollte - eine sehr emotionale Reise in ihre Vergangenheit. Sie hat nach Rückkehr in ihre Heimat Israel einen Bericht für die dortige Gruppe der "Ehemaligen Leipziger" geschrieben, den ich rekonstruiert habe. Das Fax, was sie mir geschickt hatte, war schon ein wenig verblasst, ich glaube aber, dass die wesentlichen Aussagen erhalten sind.
Ich war für Ruth/Inge so etwas wie ihre dritte Tochter und habe nur die besten Erinnerungen. Daher möchte ich diesen Bericht unbedingt aufheben. Einige Grau-in-Grau-Fotos habe ich dazugefügt, die Qualität lässt leider zu wünschen übrig, ich denke jedoch, dass sie zum Bericht passen und ihren Eindruck widerspiegeln.
WIR UND LEIPZIG
Mit diesen Begleitworten schickte uns Inge Salzer, geborene Einschlag, folgenden Beitrag:
"Leipzig, meine Geburtsstadt, ist heute für mich eine Stadt wie jede andere, die ich im Lauf der Jahre besucht habe. Einige Erinnerungen sind geblieben, und die ersten neunzehn Jahre meines Lebens, die ich dort verbracht habe, haben ihren Stempel hinterlassen, aber den Begriff „Heimat“ kann ich damit nicht verbinden.
Die Erziehung, welche wir in der Schule erhalten haben – die „Gaudigschule“ war eine gute Schule – hat unsere Persönlichkeiten geprägt, ohne damit sagen zu wollen, daß sich auch alles Gelernte und Wissenswerte erhalten hat. Zu viel haben wir damals erlebt, und in den auf die Auswanderung folgenden Jahren hatten wir andere Sorgen, als an Wissenschaften zu denken, die wir mit großem Fleiß und dank der Ausdauer unserer Lehrer erworben hatten.
Leipzig war eine Stadt, welche viel an Kultur zu bieten hatte, und wer nur irgendwie interessiert war, konnte viel Freude daran haben und viel Nutzen daraus ziehen.
Ich selbst hatte das Glück, in einer Familie aufzuwachsen, für die Musik eine Lebensnotwendigkeit war: mein Großvater war Mitglied des Leipziger Männergesangvereins, eine Tante Klavier- und Gesanglehrerin (mit einem sehr schönen Mezzosopran). Leider hat es bei mir nur zu einer platonischen und lauschenden, keiner ausführenden Liebe zur Musik gereicht. Ein Bruder meines Vaters, Eduard Einschlag, war ein bekannter Kunstmaler und Mitbegründer des Leipziger Künstlervereins, ein Onkel meines Vaters, Viktor Armhaus, war vereidigter Dolmetscher am Reichsgericht für nicht weniger als 24 Sprachen !
Meine Kindheit verlief sehr schön. Fast die gesamte Familie mütterlicher- und väterlicherseits war in Leipzig konzentriert, und als einziges Kind meiner Eltern wurde ich von den zahlreichen Tanten, Onkel und Vettern sehr verwöhnt.
Der zionistische Jugendbund I.P.D. nahm alle meine Freizeit in Anspruch, und ich bin ihm dankbar, denn er war der Rettungsanker, der mir ermöglichte, 1933 ein Chaluz-Zertifikat zu erhalten und im November desselben Jahres nach dem damaligen Palästina auszuwandern und mich dadurch vor den Klauen der Nazis zu retten.
1937 fuhr ich noch einmal nach Leipzig, insbesondere um nach meinen Eltern zu sehen, die sich nicht entscheiden konnten, auszuwandern), und um ihnen ihre anderhalbjährige Enkelin „vorzuführen“ (Anm: das war Elischewa).
Ein sehr freundlicher Beamter, ein „gemiedlicher“ Sachse, bei dem ich mich am Einwohneramt anmelden mußte, weil ich etwas mehr als zwei Monate bleiben wollte, sagte mir mit typisch sächsischer Gemütsruhe „Na, sach’n Se mal, Baläsdina soll doch furchbar heiß sein. Wollen Se denn nich wieder nach Hause gommen?“
Eine Einladung zur Gestapo regte mich nicht sehr auf. Ich war mir ganz einfach der Gefahr nicht bewußt. Und damals glaubten wir ja noch, dass die deutsche Staatsangehörigkeit Sicherheit bedeute. Erst als ich nach einer verhältnismäßig kurzen „Audienz“ die Höhle des Löwen verlassen hatte, bekam ich - nachträglich - ein gewaltiges Herzklopfen.
Schon damals war mir Leipzig eine fremde Stadt, und zwar noch vor den schlimmsten Ereignissen, der Vertreibung der polnischen Juden und der „Kristallnacht“.
Ein kurzer Besuch von ein paar Stunden von Berlin aus vor einigen Jahren bestätigte meine Befürchtungen. Ich kam in eine Stadt, die ich gewissermaßen als Touristin besuchte. Das Haus, in dem ich aufgewachsen war, sah noch genau so aus, wie ich es verlassen hatte, vielleicht etwas ramponiert und älter geworden – wie ich selbst ja auch – aber alles andere war mir fremd.
Keine Menschen, mit denen man etwas Gemeinsames hatte, mit denen man frohe Jugenderinnerungen austauschen konnte. In der Innenstadt ein vollkommen anderes Bild. Nur der Hauptbahnhof war keine Enttäuschung. Sonst nichts, mit dem man sich identifizieren konnte.
Da wir damals schon fast ein Jahr nach dem Fall der Trennungsmauer waren, gab es in der grauen vernachlässigten Stadt schon einige Lichtpunkte und Farbkleckse an wenigen hergerichteten Gebäuden. Ja, die Stadt fing an, wieder aufzuleben, mit einer Fülle an Geschäften mit Lebensmittelangeboten, sehr gutem Kuchen und Kaffee im Informationszentrum, aber irgendwie war es seltsam, all die neuen Gebäude zu sehen, die mir nichts mehr sagten.. . Nein, das ist nicht mehr meine Heimatstadt!"
Bürgerreporter:in:Gudrun Schwartz aus Berlin |
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