Das Gasthaus der Witwe

Die Haustür mit den initialen von Wilhelm Behrens. Sie wurde vor einigen Jahren gestohlen.
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  • Die Haustür mit den initialen von Wilhelm Behrens. Sie wurde vor einigen Jahren gestohlen.
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Ende Mai 2017 rückten vor dem Anwesen Marktstraße 31 in Groß Lafferde mehrere Baumaschinen an und rissen mit brachialer Gewalt die denkmalgeschützten Gebäude nieder. Der Auftraggeber war so dreist, dass er sogar einen verhängten Abrissstop ignorierte und weiterarbeiten ließ (siehe Bericht der Braunschweiger Zeitung vom 03.06.2017). Ein erneutes Abrissverbot und die Versiegelung der Baustelle konnte nur noch den Schutthaufen sichern.

Das einzige noch weitgehend intakte Bauwerk ist ein Luftschutzbunker. Er wurde im 2. Weltkrieg errichtet. In ihn zogen sich die Menschen der näheren Umgebung bei Fliegeralarm zurück (siehe dazu den Beitrag: "Bunker in Groß Lafferde"). Gott sei Dank blieb Groß Lafferde von Bomben verschont.

Das Grundstück war seit Jahren unbewohnt und die Gebäude durch Reparaturstau sehr heruntergekommen. Die Instandsetzung hätte sehr viel Geld gekostet. Der Abriss wäre über kurz oder lang möglicherweise unvermeidbar gewesen. Dennoch hätte die illegale Nacht- und Nebelaktion nicht stattfinden dürfen.

Auf jeden Fall ging ein traditionsreiches Anwesen für immer verloren.

Im Jahre 1769 wurde der Hof von dem Vollköther Henrich Borgtorf bewirtschaftet. 1773 war er im Besitz des Christian Bolten (Kleinköther). Im Brandversicherungskataster von 1796 wird der Hof unter der Nr. 122 aufgelistet. Diese wurde mit Wirkung vom 17.09.1974 von der Gemeinde Lahstedt durch die Bezeichnung "Marktstr. 31" ersetzt.

Von Bolten ging das Anwesen auf Friedrich Behrens über. Der wurde im Jahre 1818 als Inhaber der 39. Kötherei geführt. Seitdem war sie im Besitz der Familie Behrens. Um 1860/1868 wurde die Kötherei mit 7 Morgen 117 Ruthen Land zu 1718 Talern bewertet.
Um 1820 herum könnte eine Gastwirtschaft eröffnet worden sein (Laut Chronik von Groß Lafferde geschah das zwischen 1780 und 1820).
Die früher geläufige Bezeichnung "Freibierns" ist möglicherweise auf einen der beiden Wirtschaftsinhaber "Friedrich Behrens" zurückzuführen.

Sehr rührig war Wilhelm Behrens. Er betrieb ab 1892 zusammen mit seiner Ehefrau Wilhelmine (Minna) neben Kötherei und Gastwirtschaft einen kleinen Kolonialwarenladen und ein Fuhrgeschäft. Zu dieser Zeit herrschte dort reger Betrieb. Das lässt sich aus der alten Fotografie mit den zahlreichen Menschen und Pferdegespannen erahnen.
Wilhelm Behrens starb am 13.06.1907 im Alter von knapp 40 Jahren (Kirchenbuch 8/1907). Witwe Minna führte nach dem frühen Tod ihres Mannes den Betrieb bis 1940 weiter. Fuhrgeschäft und Landwirtschaft waren zwischenzeitlich aufgegeben worden. Minna starb nach 35-jähriger Witwenschaft am 06.05.1942 im Alter von 72 Jahren.

Wer das Gasthaus Behrens aufsuchte, ging zu "Witwe Bierns" oder auch kurz gesagt "zur Witwe". Das diente der Unterscheidung zur Gastwirtschaft Behrens Nr. 118, heute Schäferkamp 15. Deren Inhaber wurde wegen seiner Gestalt "Großer Behrens" genannt.

Im Jahre 1940 ging die Gastwirtschaft auf Henny Behrens, eine von Minnas Töchtern, über. Drei Söhne waren nach Amerika ausgewandert. Henny war unverheiratet und wohnte zusammen mit ihrem ebenfalls unverheirateten Bruder Friedrich zeitlebens auf dem elterlichen Grundstück.
Großen Kummer bereitete ihr der Ziehsohn Horst. Als Kind war sein Traumziel, Beifahrer zu werden. Als Jugendlicher und Erwachsener lief er völlig aus dem Ruder.
Henny überließ die Wirtschaft im Jahre 1975 aus Altersgründen ihrem Neffen Karl Klingenberg, der die Wirtschaft im Jahre 1995 aufgab. Danach war das Gasthaus über mehrere Jahre nur noch zum Lafferder Markt geöffnet.

An der Westseite des Grundstücks befand sich das Hauptgebäude. Nördlich davon stand eine Scheune in Ost-West-Richtung, deren östlicher unterer Bereich zu einer Garage und einer Waschküche ausgebaut war.
In der Garage war eine Kaltwasserdusche installiert, um das Jahr 1950 eine Seltenheit. Sie bot im Sommer Gelegenheit zur Erfrischung, wenn dort nicht gerade das nach Fisch riechende Dreiradauto des Fischhändlers Jurochnik stand.
Über diesen Räumen und Richtung Norden ist nach dem Kriege eine Wohnung eingerichtet worden.

Am Ostrande des Grundstücks befand sich eine Kegelbahn, die um das Jahr 1900 erbaut worden ist. Das Kegelbahngebäude diente nach dem Kriege den Familien Kradel und Burgdorf als Milchgeschäft.

Betrat man das Hauptgebäude, befand sich linkerhand (Südseite des Flures) die Gaststube, westlich davon die Küche und ein Wohnzimmer.
Auf der rechten Seite, der Nordseite des Flures (dem Eingang zur Gaststube gegenüber) lag das Klubzimmer. Inmitten des Klubzimmers stand eine eiserne Säule, die den Fußboden des Saales abstützte. Westlich des Klubzimmers ging es zum Wirtschaftsteil und zu den Toiletten. Bevor die Toiletten gebaut wurden, gab es lediglich Plumpskloos und für die Männer unter dem Schauer geteerte Holzrinnen, später dachrinnenartige Abläufe.

Dem Eingang gegenüber, am Ende des Flures, befand sich der Laden. Neben dem Eingang war eine mehrere Quadratmeter große Klappe angebracht. Wenn sie heruntergeklappt war, konnte man vom Flur aus den Laden überblicken. Außer ein paar Grundbedarfsmitteln wie Gries, Graupen, Senf, Essig, gab es Anfang der 1950er Jahre dort nichts zu erwerben. Der Betrieb lohnte nicht und wurde eingestellt.
Damals hatte auch noch niemand kistenweise Bier zu Hause. Wer aus der Nachbarschaft mal eine Flasche Bier trinken wollte, der ging zu Tante Henny um seinen Bedarf zu decken.

Vom Flur führte eine Treppe in das Obergeschoss. Im linken Teil befanden sich Privaträume. Der gesamte rechte Teil wurde vom Saal eingenommen. Die Saaltheke befand sich rechts neben der Eingangstür. Tür und Theke waren von einer Empore überdeckt. Durch eine Luke im Fußboden konnten die Musiker in die Empore gelangen und zum Tanz aufspielen.
Im 2. Weltkrieg diente der Saal als Unterkunft für Kriegsgefangene.

Die Gaststube war ein kleiner, niedriger aber sehr anheimelnder Raum mit einem wunderschönen, zimmerhohen Kachelofen. Hennys Bruder Friedrich (Onkel Fritze) machte es sich in der Ofenecke bequem und hielt dort sein Nickerchen. Henny ruhte im fortgeschrittenen Alter auf dem Gaststättensofa. Die Gäste störten dabei nicht.
Tante Henny (so wurde sie von der nachwachsenden Generation genannt) hatte eine kräftige Statur und breite Hüften. Wenn sie sich zum Einschenken des Feldschlösschen-Bieres durch den schmalen Durchlass hinter die Theke begeben wollte, ging das am besten, indem sie nicht frontal durchging, sondern sich seitlich hindurchschob.

Ab den 1950er-Jahren war ein Rotamint-Glücksspiel-Automat vorhanden. Manche Gäste kamen fast täglich, um dort ihre Groschen zu versenken. Eine Musikbox war auch vorhanden.

Sonntags nachmittags spielten die alten Stammkunden Skat oder Doppelkopf. Das ging so lange, bis einer nach dem anderen das Zeitliche gesegnet hatte.

Damals sprachen die älteren Leute noch viel Platt. Eines Abends lag die Gaststube völlig im Dunkeln, weil im gesamten Dorf der Strom ausgefallen war. Henny sagte zu ihrem Bruder, der einfachen Gemüts war: "Fritze, gah mal nah buhmen un hale üsch ne Kerze (geh mal nach oben und hole uns eine Kerze). Der tat wie befohlen, kraspelte einige Zeit umher, kam dann stolpernd die dunkle Treppe herunter und sagte völlig entnervt: "Henny, ick kann in Düstern kaine finnen, dat elektische Licht funktioneiert nich" (Henny, ich kann im Dunkeln keine finden, das elektrische Licht funktioniert nicht).

Nach getaner Arbeit, oft auch während der Arbeit, kehrten die Briefträger ein, um sich von den Strapazen zu erholen.

Ein gehbehinderter Stammgast fuhr mehr oder weniger regelmäßig mit Pony namens Fanny und Wagen vor. Das arme Tier musste angespannt oft stundenlang warten, bis es wieder nach Hause ging. Manchmal wurden Zecher und Gefährt von der zürnenden Ehefrau heimgeholt.

Sehr beliebt war die Kneipe bei den Maurern. Direkt von der Arbeit kommend, kehrten sie in ihrer schmutzigen Maurerkluft ein. Niemand störte sich daran.

Tischtennisspieler und Federballspieler waren nach dem Training oder nach Spielen regelmäßig zu Gast und machten die Nacht zum Tage.

Das sind so einige Beispiele, an die ich mich spontan erinnere. Sicherlich gibt es noch viel mehr zu erzählen.

In dieses Gasthaus ging man gerne. Hier hatten weder Aussehen, Umgang noch Etikette eine Bedeutung (Man denke in diesem Zusammenhang an das Lied "Die kleine Kneipe in unserer Straße ..."). Diese Toleranz wussten auch die Junggesellen bei ihren Fastnachtsbräuchen zu schätzen. Allerdings war auf einem Warnschild zu lesen: "Wer die Wirtin kränkt, wird aufgehängt".

Anfang der 1950er Jahre gab es in der Gastwirtschaft weder Kühlschrank noch Kühlanlage. Wenn im Sommer der Feldschlösschen-Bierwagen kam, brachte er Eis in Stangen von ca. 1 Meter Länge und 15 cm im Geviert mit. Sie wurden mittels eines Eispickels aus dem Wagen gezogen. Die dabei abgesplitterten Eisstücke waren bei uns Kindern sehr begehrt.
Außer dem Bierwagen fuhr ein LKW der Bundesbahn regelmäßig vor und brachte Stückgüter, die dann von den Empfängern abgeholt werden konnten. Obwohl es die Reichsbahn schon seit Jahren nicht mehr gab, hieß es immer noch "Das Reichsbahnauto kommt".

Im Klubzimmer war nach dem Kriege der Kindergarten untergebracht. Rechts neben der Eingangstür befand sich ein altertümliches Wandtelefon. Gesprochen wurde in einen festangebrachtes Sprachrohr. Der Hörer hatte einen Stiel und wurde ans Ohr gehalten. Wenn das Telefon klingelte, wurde die Wirtin gerufen und den Kindern für die Dauer des Telefongesprächs absolute Ruhe befohlen. Der Telefonanschluss gehörte zu den ältesten des Dorfes. Er hatte die Telefonnummer 5.

Heute nicht mehr vorstellbar, aber in den 1950er Jahren war es gängige Praxis, dass monatlich im Klubzimmer den Rentnern des Dorfes die Rente in bar ausgezahlt wurde.
Das Klubzimmer diente auch über Jahrzehnte regelmäßig als Wahllokal.

So traurig der Abriss der Gebäude ist und so trostlos die Schuttberge aussehen, so haben sie doch ihr Gutes: Sie geben den Anlass, sich früherer Zeiten zu erinnern und die Erinnerungen schriftlich festzuhalten.

Bald wird der Schutt abgefahren. In einigen Jahren werden auch die Gräber von Henny und Friedrich Behrens eingeebnet sein. Dann erinnert nur noch der Bunker aus Kriegszeiten an das Anwesen Nr. 122 und dessen Bewohner. Vielleicht wird auch er der Spitzhacke zum Opfer fallen und neuen Häusern Platz machen.

Weitere Bilder siehe bei Hobuma38 unter
https://www.youtube.com/watch?v=AMRBngWKGqA&t=9s

Bürgerreporter:in:

Wilhelm Heise aus Ilsede

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