Ein Weinfest auf dem Lande - Teil 5
Wieder eine meiner Jugenderinnerungen aus den Neunzigern:
Kapitel 38. 13. 29.: Schlusssegen, Entlassung und Werbung für das Weinlesefest
Landau setzte zum Schlusssegen an. "Ich danke allen, die heute mit uns gefeiert haben. Ich danke Geistlichen Rat Johannes Groll, dem Pfarrer dieser Gemeinde, und den Frauen und Männern der Pfarrgemeinde und des Caritasbauernhofes Unternalb für die gemeinsame Gestaltung dieser Weinlesefestmesse. Mein Dank gilt den Gästen, die heute für die Feier dieser Heiligen Messe in das nordwestliche Weinviertel nahe der tschechischen Grenze gekommen sind, und die vielleicht noch anschließend zu den Höhepunkten des Retzer Weinlesefestes gehen werden, bevor es heute Abend auch schon wieder sein Ende findet. Nicht zuletzt möchte ich Ihnen zuhause danken, dass Sie uns zugehört haben und dass Sie mit uns gebetet haben. Ihnen allen wünsche ich einen schönen Sonntag, viel Freude heute und in dieser Woche. Erbitten wir dazu nun den Segen Gottes.
Der Herr sei mit euch!"
"Und mit deinem Geiste."
"Gott segne die Weinernte dieses Jahres", begann Landau den Schlusssegen zu sprechen, "die Trauben, in unsere Hände gelegt von der Mutter Erde, damit wir schmecken, wie süß das Leben ist, damit wir uns freuen am Wein. Wir bitten dich, Gott, lass die Arbeit unserer heimischen Winzer das Jahr über im Weingarten auch heuer nicht vergebens gewesen sein und gewähre ihnen eine Ernte, mit denen sie ein Auslangen für sich und ihre Familien finden. Dafür erbitten wir deinen himmlischen Beistand, denn wir wissen, dass trotz aller Technik und Züchtungsmethoden der heutigen Zeit dein Zutun, oh Herr, nach wie vor unabdingbar ist.
Gott segne uns und alle Menschen dieser Erde, alle, die nach dem Wein der Wahrheit und der Gerechtigkeit dürsten. Das gewähre uns der allmächtige und gütige Gott, der Vater, der Sohn und der Heilige Geist."
"Amen!"
"Gehet hin in Frieden!"
"Dank sei Gott, dem Herrn!"
Der Präsident tauschte wieder mit Pfarrer Groll den Platz.
"Bevor wir nun auseinandergehen", wandte sich Groll an die Messgänger, "möchte ich Sie noch über ein paar Dinge informieren, die den weiteren Verlauf des heutigen Tages betreffen.
Auch in diesem Jahr gibt es wieder Kleinbusse für den Transfer der in ihren Bewegungsmöglichkeiten Eingeschränkten unter uns. Jährlich werden sie uns freundlicherweise vom Transportunternehmen und Reisebüro Reither-Reisen in Pulkau kostenlos zur Verfügung gestellt. Schon bei der Hinfahrt wurde diese Möglichkeit gut angenommen. Zur Abfahrt stehen die Busse wieder vorn am Beginn des Weges bereit.
Der nächste Veranstaltungspunkt des Weinlesefestes wird ein Frühschoppen mit Jazz-Musik sein. Dieser findet gleich im Anschluss beim Windmühlheurigen hoch oben auf dem Kalvarienberg statt.
Ebenfalls musikalische Unterhaltung auf hohem Niveau wird ab Halb Elf auf dem Hauptplatz geboten. Und zwar bei einem Platzkonzert mit der Salinenmusikkapelle aus dem salzburgischen Altaussee. Der eine oder andere unter uns wird den Ort beziehungsweise die Region sicherlich aus einem Urlaub in den westlichen Teilen Österreichs kennen.
Weiter geht es mit einem Platzkonzert der Stadtkapelle Retz um 13:30 Uhr an selbigem Ort.
Spiel und Spaß für die Kleinsten gibt es dann ab 14:00 Uhr bei einem Kinderspielebus des Landes Niederösterreich. Die ÖVP Retz hat ihn auf ihre Kosten als Beitrag zum Fest für diesen Tag hierher in die Weinstadt geholt.
Ein Veranstaltungspunkt, der mehr die Großen unter uns begeistert, findet genau zur gleichen Zeit ebenfalls auf dem Hauptplatz statt. Nämlich die Eröffnung der Gratis-Weinbrunnen. Wie immer wird dabei an einem Brunnen kostenloser Weißwein und am anderen Rotwein ausgeschenkt werden.
Höhepunkt der Festtage ist dann schließlich wieder der Winzerfestzug. Er startet 14:15 Uhr vom Retzer Anger. Dauer wie immer eine bis eineinhalb Stunden. Viele Institutionen der Stadt und Umgebung werden sich wieder daran beteiligen. In kreativ und farbenfroh gestalteten Schaubildern und Festwagen präsentieren sie Bewohnern und Gästen unsere Region.
Der Umzug endet auf dem Hauptplatz. Dort werden im Anschluss auf der Bühne vor dem Rathaus bis gegen Abend abwechselnd Blasmusik und Folkloreauftritte dargeboten.
Und auch wieder auf dem Hauptplatz findet dann um 19:30 Uhr das traditionelle Riesenfeuerwerk statt. Mit dem das Fest wie immer seinen fulminanten Schlusspunkt finden wird.
Es befinden sich auch einige Gäste unter uns, die von etwas weiter her kommen beziehungsweise sich das erste Mal am Retzer Weinlesefest aufhalten. Ich möchte Sie ein wenig auf die Rahmenprogramme aufmerksam machen, die es während der Tage vom Freitag bis zum Sonntag über gibt.
So ist zum Beispiel im Café Wiklicky in der Znaimerstraße derzeit eine Foto-Ausstellung zu sehen. In ihr ist auf anschauliche Weise die mittlerweile 40-jährige Geschichte des Retzer Weinlesefestes dokumentiert.
Auf dem ehemaligen Sportplatz, welcher heute ein öffentlicher Parkplatz ist, wurde wie immer ein kleiner Rummelplatz aufgebaut.
Bestimmt werden Sie bei Ihrer Ankunft schon über den Hauptplatz inmitten des historischen Stadtkerns gekommen sein. Und haben festgestellt, dass sich dort anlässlich des Festes ein Großheuriger mit zahlreichen Ständen befindet. Regionale Speisen, regionale Weine und regionales Kunsthandwerk werden dort angeboten.
Hinweisen möchte ich Sie auch auf die touristischen Angebote, die es bei uns das ganze Jahr über gibt. Diese stehen selbstverständlich auch das Weinlesefest über den Gästen offen.
So befinden sich unter unserer Stadt Österreichs größte historische Weinkeller. Durch sie finden fast das ganze Jahr über Führungen statt. Zusammen mit einem Rundgang zu den wichtigsten Sehenswürdigkeiten der Innenstadt. Ein Erlebnis, das für Sie bestimmt unvergesslich sein wird.
Wenn Sie den Weg, den Sie gekommen sind, wieder zurückgehen, riskieren Sie mal einen Blick zu dem Berg gegenüber. Dort sehen Sie die einzige noch betriebsfähige Windmühle Österreichs. In ihr finden ebenfalls Führungen statt.
Ein sehr lohnenswerter Blick weit hinaus ins Retzer Land bietet sich Ihnen, wenn Sie eine kleine Strapaze auf sich nehmen und den Rathausturm besteigen. Umfangreiche Sicherungsmaßnahmen durch den Retzer Tourismusverein haben dafür gesorgt, dass eine Begehung gefahrlos möglich ist.
Und zu guter Letzt können Sie Ihr Retzer Weinerlebnis zuhause noch ein wenig verlängern. So gibt es jede Menge Möglichkeiten zum Erwerb von Weinen zu Abhofverkaufs-Preisen. Erste Anlaufstelle sind während dieser Tage natürlich die Verkaufsstände auf dem Hauptplatz. Möglichkeiten gibt es aber ebenso in den Weingütern in der Fladnitzerstraße und der parallel laufenden Langen Zeile.
Mir verbleibt nun nur noch, Ihnen allen noch ein paar schöne und unterhaltsame Stunden hier auf dem Retzer Weinlesefest zu wünschen. Und unseren Weinbauern für die kommenden Tage und Wochen einen erfolgreichen Beginn beziehungsweise einen erfolgreichen weiteren Verlauf der Weinernte."
Die Glocken der Kapelle wurden geläutet. Wieder von demselben Ministranten, der dies auch schon am Beginn der Messe getan hatte.
Kapitel 38. 13. 30.: Abmoderation von Radio Niederösterreich
Allgemeiner Aufbruch entstand. Mir kam die Idee, das Frühstück während des Jazz-Frühschoppens oben beim Windmühlheurigen einzunehmen. Ich machte mich daher auf den Weg dorthin. Während des Gehens bekam ich mit, wie der der ORF-Reporter die Schlussworte sprach: "Radio Niederösterreich übertrug den katholischen Gottesdienst von der Kümmerlkapelle zu Füßen des Gollitsch vor Retz. Mitgewirkt haben der Chor 'Rhythmix' und der Kinderchor Unternalb. Mit der Gemeinde feierten der Caritasdirektor Dr. Michael Landau und Pfarrer Geistlicher Rat Johannes Groll. Wenn Sie mit Caritasdirektor Dr. Michael Landau sprechen wollen, haben Sie jetzt dazu Gelegenheit. Die Telefonnummer lautet: 02942/ ... Ich wiederhole: 02942/ ..." Danach gab er dem Tontechniker ein Handzeichen, dass er die Sendung abbrechen soll.
Kapitel 38. 14.: Sonntagnachmittag – Der Festumzug
Kapitel 38. 14. 1.: Mittagshitze
Ich hatte die letzten Exemplare des "Stephanusboten" ausgetragen. Gleißende Mittagssonne hatte sich inzwischen über der leeren Lehengasse ausgebreitet. In den Händen hielt ich nur noch das für uns bestimmte Exemplar des Pfarrgemeindeblattes. Wie immer hatte ich es vorsichtshalber mitgenommen, falls die Abzähler im Pfarramt eines zu wenig auf den Stapel gelegt hätten. Daneben hatte ich noch den Umschlag mit dem Namen des Verteilungsgebietes in den Händen, für welches ich zuständig war: Lehengasse.
Ich sah auf die Uhr. Halb Zwei. Da ist noch viel Zeit, dachte ich, um das Kostüm anzuziehen und in aller Ruhe in den Pfarrhof zu gehen.
Der Garten des Schloßgasthauses zog vorbei. Nahezu alle Tische in ihm waren voll besetzt. Besteckklappern und Essengeruch mischten sich in der Luft.
Kapitel 38. 14. 2.: Gang zum Vereinslokal
Nach etwa einer Viertelstunde verließ ich das Haus wieder. Das Anziehen des Inder-Kostüms hatte entgegen meinen Erwartungen keine besonders lange Zeit in Anspruch genommen.
In der Lehengasse wollte ich den Weg durch den Park nehmen. Bereits von weitem erkannte ich jedoch, dass sich in der Mitte des Weges eine Komplettabsperrung befand. Es war eine, an welcher keine Eintrittsmarken kontrolliert wurden. Am Tag zuvor waren solche auch an einigen Zufahrtsstraßen des Hauptplatzes errichtet worden, erinnerte ich mich. Ich ging daher die Lehengasse weiter.
Ich kam am östlichen Ende der Pfarrgasse an. Sie war zum Bersten vollgestopft mit geparkten Privat-Pkw. Wie auch schon zuvor die Wallstraße in ihrer gesamten Länge. Auch zwei Reisebusse standen hintereinander entlang der Mauer zum Schulgelände.
Ich erreichte den Pfarrhof bis auf ein paar Schritte. In dem Augenblick hörte ich, wie in ihm der Motor eines Traktors gestartet wurde. Gleich darauf verließ das Gefährt den Hof in die Pfarrgasse und bog in Richtung Anger ab. Er zog den Festwagen der Rugia, wie ich gleich darauf anhand der Beschriftung des Holzschildes auf dem Wagen feststellte.
Der Torbogen mit dem altdeutschen, grünen, aufgemalten, halbrunden Schriftzug "Winzergenossenschaft Retz" tauchte vor mir auf. Ich betrat den Hof. Ein paar Kinder liefen auf dem Kleinpflasterbereich des Hofes umher. Einige saßen auch auf der sechseckigen Holzbank rings um den Baum in der Mitte des Hofes. Ein Stück weiter links stand bereits die Werbe-Rikscha des EFEU-Vereines. Ich musste bei ihrem Anblick kurz an ihre Geschichte denken. Vor Jahren hatte sie der Verein mal einem Salzburger abgekauft, welcher sie wiederum aus Indien importiert hatte.
Ich bewegte mich auf die Haustür an der linken Seite des Hofes zu. Im Vorbeigehen sah ich flüchtig durch das torbogenartige Gliederfenster des Vereinslokals. In dem Raum im pfarrgassenseitigen Trakt des Hofes waren bereits etliche Vereinsmitglieder zugegen.
Kapitel 38. 14. 3.: Vorbereitungen im Vereinslokal
Ich öffnete die Haustür, steuerte auf das Vereinszimmer zu und trat ein. Gleich hinter der Tür stand Elsa. Sie hantierte mit den Putzmitteln, die auf der im Schrank versteckten Spüle standen. "Hallo", rief ich in den Raum hinein.
Vereinsvorsitzende Erika kam auf mich zu. "Grüß dich, Christoph. Und, hat alles geklappt mit dem Kostüm?"
"Ja, ja, ging bestens."
Ich blieb zunächst im Eingangsbereich stehen. Überall waren bereits Umzugsvorbereitungen im Gange. Am Schrank rechts von der Tür stand Cornelia. Sie war gerade damit beschäftigt, Behälter für die unterwegs zu verteilenden Snacks herauszusuchen.
Automatisch sah ich dabei zu den Liederbüchern, die für religiöse Veranstaltungen im Raum genutzt wurden. Wie gewöhnlich standen diese im Schrank bei der Tür. Eine Reihe im Fach über den Schranktüren, eine unter dem oberen Rand. Ich dachte dabei an das, was Pastoralassistentin Marlene Landmann vor ein paar Tagen zu mir gesagt hatte. Das mit dem Artikel über die Geschichte eines bestimmten Kirchenliedes. Irgendeine kirchliche Zeitung in Wien hätte Interesse, dass ich etwas Diesbezügliches verfasse. Aber das wird sie mir in den nächsten Tagen noch ausführlich erklären, beendete ich die Sache für mich vorerst.
Am Regal daneben, wo sich zuoberst die Bücher allgemein religiösen Inhalts befanden, hantierte Franziska etwas.
Hinter der Bar, die sich schräg von der rechten Wand zur Stirnwand erstreckte, stand Roberta. Sie tat irgendetwas unter dem Videogerätschrank, der sich hinter der Bar ebenfalls quer über die Ecke zog. Erst nach ein paar Schritten erkannte ich Näheres. Sie entnahm Gläser aus den Regalfächern unter dem Videoschrank. Offenkundig wurden diese unterwegs auch für irgendetwas gebraucht.
An einem Tisch daneben unter dem schlichten Holzkreuz an der Wand standen Katrin und Irene. Sie packten irgendetwas zum Umzug Gehörendes aus Papiertüten mit dem Logo der Weltladen-Kette aus.
Alle Anwesenden trugen auch schon ihre einheitlich neutral-schwarzen Sachen für den Auftritt. Einzig die Efeu-Ranken fehlten noch, fiel mir auf. Jeder, der nicht als Inder verkleidet war, sollte sich ja eine um die Schultern hängen.
Etwas später war überraschend Paula aus meiner Klasse aufgetaucht. Zuerst hatte sie mir Make-up aufgelegt, damit ich dem Inder-Kostüm entsprechend zumindest annähernd exotisch aussah. Kurz danach erschien unser nach mir zweitjüngstes Vereinsmitglied Marina. Wie sie bei der letzten Sitzung zugesagt hatte, würde sie mit mir das indische Ehepaar bilden. Als Paula mit mir fertig war, begann sie Marina in einen Sari einzuwickeln. Sie erzählte nebenher, sie habe in Wien mal einen Kurs dafür besucht.
Wie es aussah, gab es mittlerweile vor dem Abmarsch nichts mehr zu tun. Ich ging daher zu der Pinnwand gegenüber der Tür, um mir die dortigen Aushänge anzusehen. Unzählige Zettel und Plakate waren dort angebracht. Befestigt mit Hilfe der kleinen Reißstifte mit den bunten Plastikköpfen. Alle möglichen der Retzer Pfarre nahestehenden Gruppen, die den Raum ebenfalls als Treffpunkt nutzten, hatten dort etwas verewigt.
Einen großen Teil der Wand nahmen verschiedene Mal- und Bastelarbeiten der Jungscharkinder ein. Im vorderen Teil in Richtung Fenster folgten Ankündigungszettel für die Mütterseminare der örtlichen Katholischen Frauenbewegung. Die Belange von zwei nicht zur Pfarre gehörenden kirchlichen Organisationen folgten. Zuerst eine Terminübersicht von der Dominikanischen Laiengemeinschaft im Retzer Kloster. Danach ein Plakat, das Reklame für die Hauskrankenhilfe der Caritas machte.
Ganz am äußersten Rand kam schließlich ein hellgrüner DIN-A-4-Zettel mit schwarzem Aufdruck. Intensiv angestrahlt von der schräg einfallenden Septembersonne. Er stach dadurch ein wenig heraus. Auf ihm wurde Werbung für eine Wallfahrt gemacht.
Ich begann ihn mir näher anzusehen. Er kündigte eine Wallfahrt nach Santiago de Compostela in Spanien an. Veranstaltet von der Katholischen Jugend Nord der Erzdiözese Wien. Im Sommer 1995 sollte sie stattfinden. Auf irgendeine Weise sprach mich das Angebot an. Ich beschloss, mich in den nächsten Tagen bei Pastoralassistentin Marlene Landmann diesbezüglich näher zu erkundigen.
Kapitel 38. 14. 4.: Gang zum Anger
"So, wir können dann langsam", rief Erika hinter mir zum Aufbruch. Auf dem Tisch direkt daneben hatte sich inzwischen alles Mögliche angesammelt, was unterwegs an die Zuschauer verteilt werden sollte. Vor allem die Behälter mit den Snacks, die es im Geschäft zu kaufen gab. Sie standen auf dem Tisch gleich außen, zum Fenster hin. Das Körbchen mit den Cashewnüssen. Das Körbchen mit den Bananenchips. Das mit den Schokoladenwürfeln. Die Schale mit den getrockneten Ananas. Daneben die mit den getrockneten Papayas und die mit den Guaves. Ein Stück weiter in Richtung Rauminneres Stapel von Lebensmittel-Werbezetteln. Es waren die im Format DIN-A5, die für alle österreichischen Weltläden einheitlichen. Werbung für den Grünen Tee. Den "Jambo"-Kaffee. Kakao-Pulver. Fruchtsaft.
Ein paar Augenblicke später trat Erika auf den Tisch zu und begann die Sachen an die Umzugsmitgänger zu verteilen. Danach verließen wir den Raum in Richtung Hof.
Draußen stand bereits wie angekündigt ein gewisser Herr Dechant bei der Rikscha, welcher das Gefährt steuern sollte. Auch er war als Inder zurechtgemacht. So wie es vorher vereinbart worden war, saßen als Fahrgäste in der Rikscha seine beiden Söhne im Volksschulalter.
Wir verließen den Pfarrhof. Einige Augenblicke später zog rechts die Wieden vorbei. Eine verstreut gehende Gruppe von Leuten kam die flach abfallende Straße hinauf. Augenscheinlich ging sie ebenfalls zum Umzug.
Auch in der Taberngasse gleich links danach waren etliche Leute in Richtung Znaimerstraße unterwegs. Nach der rechten Ecke jener Gasse tauchte die Fleischerei Hackl auf. Die Tür des Geschäftes stand offen. Irgendwelche Geräusche waren dahinter vernehmbar. Offensichtlich wurden gerade Stände auf dem Hauptplatz nachbeliefert, die Sachen mit Fleisch verkauften.
Auf der Znaimerstraße kamen gerade mehrere Autos vorbei. Wir machten kurz Halt. Rechts vor dem Eingang zum "Poseidon" hatte sich auch schon eine kleinere Gruppe Zuschauer eingefunden.
Während wir am Straßenrand standen, fiel mir wieder einmal die Ablaufrinne aus Schattauer Ziegeln direkt vor mir parallel zur Straße auf.
Schließlich wurde die Straße frei. Über die Znaimerstraße hinweg konnte man wie gewöhnlich in die Fladnitzerstraße hineinsehen. Jenen Teil, der parallel zur Pfarrgassen-Fortsetzung lief, nur durch die Reihe Kastanien abgetrennt. Auf beiden Straßen bewegten sich bereits Heerscharen von kostümierten Umzugsteilnehmern. Auch sie waren unterwegs zum Sammelplatz auf dem Anger.
Bald darauf hatten wir die St.-Felix-Statue vor dem Landkaufhaus Ganswidl am Beginn des Angers erreicht. Ich erinnerte mich, wie ich vor einiger Zeit einen Artikel über das Denkmal geschrieben hatte. Auch zwei Fakten aus den Recherchen fielen mir wieder ein. 1734 ließ sie ein Mann namens Josef Kleebinder errichten. Und ursprünglich stand sie mal in der Kleinhöfleiner Landstraße gegenüber vom ehemaligen Ziegelofen.
Der Langbau des Kaufhauses selbst schloss sich an. Mit ihm die Wegstrecke aus Schattauer Ziegeln entlang der Vorderfront. Man sollte einmal alle Stellen im Bezirk Hollabrunn katalogisieren, dachte ich, an denen solche Pflasterungen noch existieren. Irgendwer sollte sich mal die Mühe machen. Damit diese letzte blasse Erinnerung an einen Zustand normaler Beziehungen über die nördliche Landesgrenze hinweg eines Tages nicht völlig verloren geht.
Kapitel 38. 14. 5.: Ankunft auf dem Anger
Wenige Sekunden später hatten wir bereits die Brückenwaage am Beginn der Angerwiese erreicht. Unzählige Gruppen und Festwagen samt zugehörigen Traktoren standen bereits rings um die riesige Grünfläche positioniert.
Wir bewegten uns in Richtung Nordseite des Platzes. Per Zufall sah ich dabei zum Nordwestende des Platzes. Auch in der dort abzweigenden Langen Zeile standen noch etliche Gruppen hintereinander.
Etliche Musikkapellen, die überall irgendwo dazwischen standen, probten noch ein letztes Mal. Touristen mit Kameras liefen am Rande des Geschehens entlang, beobachteten die ständig neu ankommenden Gruppen.
Ein paar Sekunden später befanden wir uns bei der Stelle, wo der Weg mit der Brückenwaage auf den Nordweg stieß. Wir betraten ihn. Gegenüber, auf seiner rechten Seite, standen so wie überall auf dem Platz Wagen und Gruppen. Erika sagte zu uns: "Mia kumman genau hinter der Volkstanzgruppe Schmiedatal. Dös muaß iagndwo hia sei. Paaßts ihr moi mit auf."
Genau auf der Höhe des Brückenwaagen-Weges befand sich zunächst der Wagen des Kürbisfestkomitees. Er machte auf das in vier Wochen stattfindende Kürbisfest in Obermarkersdorf aufmerksam.
Unmittelbar darauf folgte der Wagen vom Tourismusverein Retz mit der Nummer 33.
Überall hinter den Wagen zogen sich die einstöckigen Bauernhäuser entlang.
Links tauchte inzwischen wieder der Obelisk auf, der an die große Überschwemmung von 1874 erinnerte. Ich dachte daran, wie sich an ihm zu Fronleichnam einer der vier Altäre befand.
Gleich darauf zog in der Mitte der Angerwiese der Entwässerungsgraben quer über den Platz vorbei. In seiner Mitte wiederum die Holzbrücke, die über ihn führte. In ihren Blumenkästen entlang der beiden Geländer standen wieder unzählige Geranien in voller Blüte. So wie fast das ganze Jahr über, erinnerte ich mich.
Von weitem bemerkte ich Kulturstadtrat Wiesmann, der wie immer an Ort und Stelle über die Aufstellung des Umzuges Regie führte. Er hielt eine Schreibunterlage mit mehreren Zetteln in der Hand und diskutierte gerade mit jemandem.
In der Umzugsreihe schloss sich unterdessen der gemeinsame Wagen der Gebietsvinothek und des Computerclubs Retz an.
Hinter ihm wiederum stand der eines Weingutes Josef Griebler aus Kleinhöflein.
Direkt neben dem Fahrzeug ging Direktor Schausenberger von der örtlichen Raiffeisenkasse in entgegenkommender Richtung an uns vorbei. Er trug die Uniform eines Soldaten aus der Zeit des alten Preußen. Über der Schulter hatte er eine Gewehrattrappe. "Gustav, so soitatst a in de Boank gehn. Doamit vaschoaffst da Respekt bei deine Oagstölltn", rief ihm Cornelia im Scherz zu.
Nach dem Werbewagen des Weingutes zog der des Bezirksweinbauverbandes vorbei.
Die darauffolgende Volkstanzgruppe Schmiedatal rückte ins Bild. Dahinter wurde bereits eine ziemlich breite freie Stelle sichtbar. Nicht weit dahinter wiederum kam auch schon der Altbach in Sicht. Jenes Stück des Gewässers, das an der Nahtstelle zwischen Anger und Lange Zeile quer rüber floss. Mit ihm die Brücke darüber. Auch an ihren Geländern befanden sich in gesamter Länge Blumenkästen mit blühenden Geranien.
Wir erreichten unsere Stelle. Vor mir stieg Herr Dechant von der Rikscha herunter.
Erika begann uns sofort zu postieren. Direkt am Beginn nahmen Roberta und Katrin Aufstellung. Gleich darauf entrollten sie auch das mitgenommene Leinwandtransparent. Der in Ölfarbe und mit allerhand Verzierungen aufgetragene Schriftzug "Weltladen Retz" kam zum Vorschein. Gleich hinter ihnen begann Herr Dechant die Rikscha in Fahrtrichtung in Position zu bringen. Nachdem das Wendemanöver um 180 Grad beendet war, bezogen Marina und ich dahinter Position. Danach begann sich auch der restliche Auftritt des Vereines zu formieren.
Kapitel 38. 14. 6.: Kurz vor dem Start
Mit fortschreitender Zeit hatte sich die Anzahl der Umzugsteilnehmer auf dem gesamten Platz noch einmal erhöht. Kinder waren auf einmal aufgetaucht. Tollten auf der riesigen Angerwiese im Schatten der Wallnussbäume umher. Einige von ihnen beschäftigten sich auch auf dem Holzspielplatz in der Mitte der Anlage. Auch direkt in unserer Nähe hielten sich ein paar der Kinder im Kindergarten- und Volksschulalter auf. Einige saßen auf dem Granitwürfelmäuerchen, das den Rasen ringsherum abgrenzte. Ein ganzes Stück daneben weiter östlich, auf den Holzbänken am Rande der Wiese, wurde noch irgendetwas zurechtgemacht.
Ich sah zu dem Teil unserer Gruppe hinter mir. Vereinsvorsitzende Erika lief ständig umher und gab überall letzte Anweisungen. Ganz am Ende unseres Aufmarsches befand sich mittlerweile die riesige, aufblasbare Weltkugel. Ohne dass ich es gemerkt hatte, war sie von irgendwoher aufgetaucht. Irene und Franziska, welche sie die ganze Strecke über rollen würden, hatten bereits links und rechts von ihr Aufstellung genommen.
Kapitel 38. 14. 7.: Der Umzug
Mit einem Male setzte sich die Volkstanzgruppe Schmiedatal vor uns in Bewegung. "'s geht los!" rief irgendwer hinter uns.
Am nordöstlichen Ende des Angers, wo die Fenthgasse abzweigte, begannen links und rechts die Zuschauermassen. Zunächst spärlich und vereinzelt.
Nur wenige Augenblicke später hatten wir die Fenthgasse auch schon wieder durchquert. An ihrem Ende bewegte sich der Zug nach Rechts in Richtung Innenstadt.
Kurz darauf erfolgte auch schon der erste Stop. Vor uns begannen die Tänzerinnen und Tänzer der Volkstanzgruppe einen Kreis zu bilden. Nach nur wenigen Sekunden hatten sie ihre Formation gefunden. Der etwas abseits stehende Akkordeonspieler begann eine Volksweise zu spielen.
Die Darbietung fing an. Händeklatschen und rhythmisches Stampfen waren mit einem Male zu vernehmen. Rasch breiteten sich die Geräusche in der Luft aus. Direkt neben der Gruppe vermischten sie sich mit der Musik des Akkordeonspielers. Zwei Stationen hinter uns mit den Klängen der Blasmusikkapelle.
Die Gruppe hinter uns verteilte unterdessen Wein in Gläsern. Ihre Mitglieder hatten ein kleines Holzfass bei sich, das sie auf einem Handwagen hinter sich herzogen. Aus ihm entnahmen sie mit einem Weinheber immer wieder frische Proben. Bei ihrem Anblick erinnerte ich mich daran, dass ich mit dem Cashewnüsse-Körbchen ja auch etwas in der Hand hielt, das ich austeilen sollte.
Nach einer ganzen Weile nahm der Zug seinen Weg in Richtung Stadtinneres wieder auf. Etliche Häuser zogen vorbei, in denen die Bewohner von geöffneten Fenstern aus zusahen.
Knapp bevor wir die Florianigasse erreicht hatten, erfolgte bereits wieder der nächste Stop.
Das "Poseidon" zog vorbei. Die gesamte Belegschaft stand vor der Tür und verfolgte den Umzug ebenfalls mit. Neben ihnen befand sich Hermann Neumayr, welcher wieder Bilder machte. Ich winkte ihm zu.
"De Wöd schrumpft!" schrie Franziska auf einmal entsetzt auf. Ich sah zurück. Offensichtlich schien es irgendwelche Probleme mit der Druckluft der Weltkugel zu geben.
Irgendwie war der spontane Ausruf unbeabsichtigt richtig symbolhaft, dachte ich schließlich.
Nach noch drei weiteren Stopps hatten wir schließlich die innere Znaimerstraße erreicht. Wir befanden uns an jener Stelle, wo links die Althofgasse und rechts die Schmiedgasse abzweigten. Beide Straßen waren mit einer Holzsperre abgeriegelt worden. Die Zuschauer standen hinter ihnen sehr dicht nebeneinander. Etwa in der Mitte hinter der Absperrung vor der Schmiedgasse entdeckte ich Antonia und Maria. "Waunst a so reich bist wie a Maharadscha, doa heirat ma di gloatt", rief mir Antonia lachend zu. "Mia oalle zwa!"
Im nächsten Augenblick war vom Hauptplatz her bereits die Stimme von Stadtrat Gruber durchs Mikrophon vernehmbar. Offenkundig hatte er auch von diesem Veranstaltungspunkt wieder die Moderation übernommen.
Je mehr sich der Zug dem Hauptplatz näherte, umso langsamer bewegte er sich vorwärts. Irgendwann hatten wir dann schließlich das Verderbertor durchschritten und den Beginn des Hauptplatzes erreicht. Zahlreiche politische Prominente hatten auf der Ehrentribüne vor dem Rathaus Platz genommen, wie ich gleich darauf von weitem erkannte. Ganz rechts saß Bürgermeister Schehr. Neben ihm befand sich Landeshauptmann Pröll. Nach ihm die Landtagsabgeordnete Marianne Lembacher. Die Nationalratsabgeordnete Rosemarie Bauer. Verteidigungsminister Werner Fasslabend. Am Ende der Reihe saßen schließlich Klubobmann Hannes Bauer und Verkehrsminister Viktor Klima. Auf dem Platz davor hatte gerade die ein paar Gruppen vor uns platzierte Kostümgruppe "Matthias Corvinus" ihren Auftritt. Im Stil von Soldaten des 15. Jahrhunderts angezogen, lieferten sich die Mitglieder in drei Duellpaaren Schwertkämpfe.
"40 Gruppen beteiligen sich an diesem Umzug", verrrrrkündete derrrr moderrrrrierrrrrende Stadtrrrrat Grrrrrruber. "Als Themen stehen die Kaiserin Sisi, Europa, der Kürbis und natürlich der Wein im Mittelpunkt. Einige Gruppen stellen spezifische Themen dar, wie zum Beispiel die Gruppe Fritz Kurtl, die auf historischen Fahrrädern das künftige Fahrradmuseum in Retz präsentiert, oder der EFEU-Verein Retz. Weiters beteiligen sich am Festzug unter anderem: die Dorferneuerungsvereine Altstadt Retz, Obernalb, Kleinriedenthal und Hofern. Die Weinbauvereine Pulkau und Unternalb. Die Kürbisfestkomitees Obermarkersdorf und Zellerndorf. Die Volksschule, die Sonderschule, die Hauptschule und die Höhere Bundeslehranstalt für Tourismus Retz. Die Gymnastikgruppe der Hauptschule Retz. Die Katholische Jugend Retz. Die Rugia. Der Fischereiverein 'Petrijünger'. Der Modellbauclub Retz. Der ÖKB Retz-Kleinriedenthal-Kleinhöflein. Die Caritas Betriebsgruppe Retz. Die Jugend Oberfladnitz. Der FC Kleinhöflein. Die Kindergruppe Märchenwelt Retz. Das Retzer Hilfswerk. Der Tourismusverein Retz. Der Retzer Männergesangsverein. Die Trachtengruppe Arbeitskreis Südmähren. Die Volkstanzgruppen Retz, Schmidatal, Sonnberg und Wullersdorf. Die Stadtkapelle Retz. Die Musikkapelle Obermarkersdorf. Der Musikverein Christkindl. Die Trachtenkapelle Unterretzbach. Die Traditionsmusik Neusiedl/See und die Waldviertler Grenzlandkapelle Hardegg."
Als dann wenig später die Volkstanzgruppe Schmiedatal einzeln vorgestellt wurde, forderte mich Cornelia auf: "Zu de Prominenten koast a geh'n un eahna woas vuan de Cashewniss gebn. Hoast eh nau woas drin im Kerberl?"
Ich nickte und machte mich auf den Weg. An der Bühne angekommen, hob ich kurz den Turban und sagte angesichts des Lärmpegels so deutlich wie möglich in die erste Reihe hinein: "Grüß Gott! Ich komme vom Weltladen Retz, der jetzt gleich als Nächstes vorgestellt wird und möchte Ihnen eine kleine Kostprobe von den Cashewnüssen überreichen, die wir neben vielen anderen Sachen im Sortiment haben. Herr Bürgermeister ... Herr Landeshauptmann ... Frau Abgeordnete ... Frau Abgeordnete ... Herr Minister ... Herr Klubobmann ... Herr Minister ..."
"Als nächstes Bild sehen Sie nun", begann Gruber mit der Präsentation unseres Vereines, "die Darstellung vom 'Verein zur Förderung von Entwicklung, Frieden, Eigenständigkeit und Umwelt', kurz 'EFEU-Verein', mit Sitz in Retz. Der im Mai 1991 gegründete Verein will einen gerechten Handel mit den Ländern des Südens fördern und über die bedrückende Situation der Menschen in diesen von den Industrienationen benachteiligten Staaten informieren.
Ich darf Ihnen nun die Selbstdarstellung des Vereines vorlesen, beginnend mit der Erläuterung der Vereinsziele:
'Entwicklung: Wir wollen zu einer Entwicklung beitragen, die wirtschaftlichen Fortschritt mit sozialer Gerechtigkeit verbindet.
Frieden: Wir wollen zum Abbau der sozialen Spannungen beitragen und damit ein kleines Stück am Frieden mitbauen.
Eigenständigkeit: Wir wollen die Eigenständigkeit der Bauern und Bäuerinnen, der Handwerker und Handwerkerinnen in den Ländern des Südens unterstützen und ihnen einen fairen Preis bezahlen.
Umwelt: Wir wollen den Verkauf von gesunden, umweltschonenden und mit Bedacht auf Nachhaltigkeit hergestellten Waren fördern.
Der Verein unterhält den Retzer 'Weltladen' in der Znaimerstraße 2 mit 20 ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. In ganz Österreich gibt es 71 solcher 'Weltläden', die beschlossen haben, diesen Namen und ein gemeinsames Logo zu tragen. Dreimal pro Jahr treffen sich Vertreter aller Weltläden, um Erfahrungen auszutauschen und sich weiterzubilden. Monatlich finden in Wien und Salzburg Warenbörsen statt, bei denen neue Produkte von unseren südlichen Partnern vorgestellt werden und die einzelnen Läden ihre Lager auffüllen.
Die Geschichte unseres eigenen Ladens begann im Jahr 1991 im Rahmen der so genannten Mütterseminare für KFB-Mitgliederinnen im Retzer Pfarrhof. Der Oberretzbacher Dritte-Welt-Experte Dipl.-Ing. Josef Tumpel hielt damals einen Vortrag über die Weltladenbewegung. Nur kurze Zeit nach diesem Impuls ging aus der KFB des Dekanates Retz der EFEU-Verein als Träger eines Weltladens hervor. Dieser bezog Quartier in einem vorerst sehr kleinen Lokal im Verderberhaus. Welches wir mit den Jahren so erfolgreich führten, dass wir schließlich einen etwa fünfmal so großen Geschäftsraum im ehemaligen Eissalon Wiklicky in der Znaimerstraße 2 beziehen konnten.
Dort bieten wir Ihnen Waren, die Sie sonst in Retz nicht bekommen. Lebensmittel großteils aus biologischem Anbau, wie Kaffee, Tee, Kakao oder Schokolade. Hochwertige Handwerks- und Kunsthandwerksartikel, wie zum Beispiel mundgeblasene Gläser aus Mexiko, seidene Schals und Tücher aus Indien, Körbe von den Philippinen, ... und vieles mehr.
Hinter jedem Produkt steht die Geschichte von Menschen, die durch ihre fair bezahlte, gute Arbeit ihre Lebenssituation verbessern können."
Nachdem wir an der Bühne vorbeigezogen waren, zeigten ein paar Jugendliche am Straßenrand auf mein Körbchen. Ein etwa Vierzehnjähriger fragte: "Kenn' ma doa a no woas kriagn?"
Ich warf einen Blick in das fast leere Gefäß und entgegnete: "Die Reste sind aber nicht mehr sehr ansehnlich."
"Dös moacht nix", antwortete er.
"Gut, dann halt mal die Hände auf."
Er tat, wie ich ihm sagte, und ich schüttete den gesamten Rest hinein.
Ich war begeistert. So gefragt waren also die Sachen aus dem Weltladen, dachte ich.
Kapitel 38. 15.: Sonntagnachmittag – Nach dem Festumzug
Kapitel 38. 15. 1.: Auf dem Schloßplatz
Nach dem Hauptplatz hatte der Umzug noch durch die Kremserstraße geführt. Danach ging er, vorbei an EDV-Himmelreich, über den Schloßplatz. Durch die Wienerstraße bewegte er sich dann zur Ostseite des Hauptplatzes. Dort lösten sich alle Gruppen auf. Irgendwer kümmerte sich dann um das Wegfahren der Rikscha. Daraufhin waren die meisten an der Aktion beteiligten Vereinsmitglieder wieder zurück durch die Wienerstraße zum Schloßplatz gegangen. Vereinsmitglied Annemarie hatte alle anderen vom Verein zu sich nach Hause ins Schloss eingeladen. Ihr Mann und ihre Söhne verkauften dort an zwei Tischen verschiedene hausgemachte Speisen. Aufstrichbrote gab es, Bäckereien sowie Weine aus der der Familie gehörenden Schlosskellerei. Eine ganze Weile waren wir an dem Tisch mit den Broten und Bäckereien in der Schlosseinfahrt gewesen. Wir vom Verein durften alles umsonst essen. Im angrenzenden Hof bellten unterdessen die ganze Zeit über die Schlosshunde. Offenkundig irritierte sie der Riesenauflauf. Im Anschluss hatte uns Annemaries Mann zum zweiten Festverkaufsstand der Familie geholt. Er befand sich nur wenige Meter entfernt, vor der Glockengiebeldachfassade des Schloßgasthauses. Dort ließ er uns seine neueste Kreation aus der Schlosskellerei verkosten, den "Bertha-Wein". Benannt nach seiner prominenten Ahnin, der Friedensnobelpreisträgerin Bertha von Suttner.
Irgendwann war ich dann die paar Schritte nach Hause gegangen. Dort hatte ich meine "Zivilsachen" wieder angezogen und mir das Make-up aus dem Gesicht gewaschen. Danach war ich gleich wieder los in die Stadt. Ich wollte als Nächstes zum ÖVP-Heurigen in der Znaimerstraße.
Kapitel 38. 15. 2.: Beim ÖVP-Heurigen
Das Erste, was mir vom Heurigen auffiel, war das Bündel langer, gerollter Hobelscharten. Es hing von dem aus Metallstäben gebogenen Zunftschild über dem Tor des Bürgerspitalshofs herunter. Bereits von weitem machte es auf den Heurigenbetrieb hinter dem Eingang aufmerksam.
Ich betrat den engen Hof aus der Renaissancezeit. Etwa zwanzig Heurigentische mit jeweils zwei Bänken dazwischen befanden sich in ihm hintereinander aufgestellt. Fast alle davon waren nahezu vollständig besetzt. Einzig im hinteren Bereich des Hofes kurz vor der Bibliothek am Kopfende standen noch drei leere Tische. Ich ging ein paar Schritte nach rechts und begann mich, zwischen Hausmauer und Tischen, in diese Richtung zu schieben.
Links kam der alte, steinerne Türrahmen in Sicht. In dessen Mitte oben der Schlussstein mit der eingemeißelten Inschrift "Erbaut anno 1716". Die Tür darunter stand bis zur Wand hin offen. Ebenso die Büros der Orts-ÖVP und des Hilfswerks gleich links dahinter. Die Geräusche von klappernden Kaffeetassen und Bestecks drangen daraus hervor.
An der gegenüberliegenden Seite zog die ehemalige Bürgerspitalskapelle vorbei. Ich dachte dabei an die Geschichte der Weinstöcke davor. Sie wurde auch immer erzählt, wenn eine Stadtführung vor dem Tor vorbeikam, erinnerte ich mich. Die Pflanzen gingen zurück auf einen Mann namens Ferdinand Goldgruber. Dieser war in der Mitte des 19. Jahrhunderts jahrzehntelang als Gemeindebediensteter der Stadt tätig gewesen. Im seinerzeitigen Bürgerspital, in dem heute die ÖVP und das Hilfswerk untergebracht sind, hatte er eine Dienstwohnung. Und zur Geburt seines ersten Sohnes im Jahre 1856 pflanzte er an der Außenmauer der ehemaligen Kapelle gegenüber sechs Rebstöcke. Vier davon tragen heute noch Trauben. Diese hatten sogar die große Reblauskatastrophe im 19. Jahrhundert überlebt.
Kurz nachdem ich mich gesetzt hatte, kam Stadtrat Gruber auf mich zu. Nach dem Umzug hatte er offensichtlich einen fliegenden Wechsel vom Moderator zum Kellner vorgenommen. Das Jackett hatte er inzwischen ausgezogen und dafür eine weiße Schürze umgebunden. In der Hand trug er ein Tablett. Es war eines von der Sorte, wie sie auf nahezu allen Freiluftfesten in der Region verwendet wurden. Rund, gelb und mit dem schwarzen Raiffeisen-Werbeaufdruck auf dem Rand. "Griaß Gott schee", rief er mir zu. "Woas deafs 'n sei?"
"Zum Trinken nehme ich einen roten Gschpritztn und zum Essen so ein belegtes Brot wie ein paar Tische hinter mir."
Noch während ich am Tisch aß, war mir der Korb für den permanenten Abverkauf antiquarischer Bücher aufgefallen. Auch an diesem Tag stand er vor dem Bibliothekseingang. Und auch in der Bibliothek selbst schien sich aus irgendwelchen Gründen am Sonntag jemand aufzuhalten. Vermutlich aufgrund des Heurigens im Hof, spekulierte ich. Irgendwann hatte ich dann auch das Glas Gschpritztn bis auf den Grund geleert. Danach war ich, wie immer, wenn ich so etwas entdeckte, gleich auf den Korb zugesteuert. Dort hatte ich dann damit begonnen, mir die einzelnen Stücke näher anzusehen. Eine ganze Weile hatte ich auf einen Einband nach dem anderen einen Blick geworfen. Irgendwann war mir ein Buch aufgefallen, welches den Titel trug: "Das neue Weltbild. New Age, Paradigmenwechsel, Wendezeit: Das Entstehen eines ganzheitlichen, holistischen Denkens." Ganz offensichtlich handelte das Buch von Grenzwissen und Ganzheitlichkeit. Ich beschloss, es zu kaufen, da mich solche Dinge schon immer sehr interessiert hatten.
Ich hatte das Buch bezahlt und damit die Bibliothek verlassen. Draußen tauchte vor mir plötzlich der Haugsdorfer Bürgermeister Schüller auf. "Im Althof-Restaurant ist groad a Essen fia de Eahngäst vuam Weilesefest", teilte er mir mit. "Kumman Sie a doahin?"
Kapitel 38. 15. 3.: Im Althof-Restaurant
Ich sah auf die Armbanduhr. Kurz nach Um Fünf. Ich hatte inzwischen das ganze angebotene Menü gehabt. Zuerst eine Vorsuppe mit Fleischklösschen. Dann den Hauptgang, den man sich am Buffet selbst zusammenstellen musste. Dazu hatte ich ein "Hubertus"-Bier aus dem nur 30 Kilometer östlich entfernten Laa an der Thaya geordert. Zum Abschluss zwei Tassen Kaffee und auch wieder vom Buffet ein paar Nachtischkreationen.
Nachdem ich den letzten Schluck Kaffee aus der Tasse getrunken hatte, überlegte ich, ob jetzt noch irgendetwas zu erledigen sei. Den Artikel übers Weinlesefest für Thomas hatte ich schon vor einigen Tagen anhand des Programms vorformuliert. Da musste ich nur noch ein paar wenige Ergänzungen hineinsetzen. Der nächste Programmpunkt vom Fest, der mich interessierte, war erst das Feuerwerk am Abend. Und mein letzter Dienst im Stand begann danach.
Kapitel 38. 16.: Sonntagabend – Das Feuerwerk
Es war schon Nacht geworden, als ich gegenüber vom Eingang der Post auf dem Hauptplatz ankam. Auf dem gesamten Hauptplatz schienen fast schon die Stehplätze knapp geworden zu sein. Solche Unmassen von Gästen hatten sich eingefunden. Einzig auf der Straße vor der Ostseite des Platzes herrschte noch etwas mehr Bewegungsfreiheit.
Ich beschloss, nach einer Stelle zu suchen, von der aus man das Schauspiel günstiger mitverfolgen konnte. Ich trat daher vom Fußweg herunter und begann mich zunächst in Richtung Nordseite des Platzes zu bewegen. Nebenbei bekam ich mit, wie Stadtamtsdirektor Piglmayr am Mikrophon das Wort ergriff. Er bat darum, die obere Hälfte des Hauptplatzes zu verlassen, da es während des Feuerwerks gefährlich werden konnte.
Ich blieb schließlich auf der breiten Fußwegecke zwischen dem Spielwarengeschäft und der Sparkasse stehen. Hinter mir begann bereits die Herrengasse. So wie auf der Straße standen auch an diesem Ort die Zuschauer noch etwas weniger dicht beisammen. Außerdem konnte man mühelos das gesamte Rathaus erkennen, vor welchem das Feuerwerk stattfinden würde.
Ungefähr zwanzig Minuten ohne besondere Ereignisse waren vergangen. Stadtamtsdirektor Piglmayr hatte übers Mikrophon noch mehrere Male dazu aufgerufen, den oberen Hauptplatzteil aus Sicherheitsgründen zu verlassen. Gleichzeitig hatte er darauf hingewiesen, dass von weiter unten die Sicht auf das Feuerwerk um sehr vieles besser sei. Nach dem letzten Aufruf war weit vorn etwas Bewegung in die Massen gekommen. Ich konnte nicht genau erkennen, was an der Stelle vor sich ging. Ich vermutete jedoch, dass die Feuerwehr, die sich wie in jedem Jahr um die technische Abwicklung des Spektakels kümmerte, eine großräumige Absperrung vornahm.
Mit einem Male ging im Ratssaal das Licht an. Der Bürgermeister erschien an einem zentral in Richtung Hauptplatz gelegenen Fenster als pechschwarzer Schattenriss. Direkt hinter ihm musste sich eine Lichtquelle befinden. Aufgrund der zentralen Lage des Fensters hoch über dem Hauptplatz drängten sich Assoziationen mit einem mittelalterlichen Turmausrufer auf.
Eine Sekunde später erschien auch die Silhouette von Gemeindetechniker Bandl am Fenster. Offensichtlich stellte er das Mikrophon für die bevorstehende Rede des Bürgermeisters ein.
Kurz darauf verschwand Bandl wieder von der Bildfläche und der Umriss des Bürgermeisters blieb allein zurück.
"Liebe Gäste unserer Stadt! Werte Bürgerinnen und Bürger!" begann er einen Augenblick danach seine Festabschlussansprache. "Liebe Mitarbeiter beim Weinlesefest! Ich darf allen, die beim diesjährigen Bezirksweinlesefest in irgendeiner Funktion mitgearbeitet, Wagen gestaltet, Festabzeichen verkauft oder durch den Ankauf eines Festabzeichens unsere Großveranstaltung unterstützt haben, sehr herzlich danken.
Ich danke aber auch allen unseren Bürgerinnen und Bürgern und allen Gästen, die durch ihr Dabeisein mitgewirkt haben, diese Weinwerbeveranstaltung zu einem vollen Erfolg werden zu lassen.
Durch gemeinsame Arbeit wollen wir auch künftig versuchen, für unsere Grenzregion, insbesondere auch im Hinblick auf die Weinwirtschaft und den Fremdenverkehr, Positives zu leisten.
Ich danke sehr herzlich für die wirklich hervorragende Gestaltung des Festzuges und darf meiner Hoffnung Ausdruck verleihen, dass Sie auch in Zukunft so viel Engagement diesbezüglich zeigen werden.
Abschließend darf ich mich noch einmal bei Ihnen allen sehr herzlich für Ihr Kommen bedanken, und ich würde mich freuen, Sie alle beim 41. Bezirksweinlesefest 1995 wieder hier in der Weinstadt Retz begrüßen zu dürfen."
Beifall erklang. Danach erlosch das Licht im Ratssaal. Im Sekundentakt wurden darauf auch Bereich für Bereich sämtliche Lampen auf dem Hauptplatz gelöscht. Auch die Scheinwerfer auf dem Verderberhaus, die das Rathaus anstrahlten, gingen aus. Einen kurzen Augenblick später war das einzige Licht auf dem Platz, das noch brannte, die grüne Glühbirne in der Mitte des Heurigenbuschens am Rathausturm.
Danach herrschte eine Weile Ruhe. Mit einem Male fiel Feuerregen von der Kante des Rathausdachturmes herunter.
Gleichzeitig setzte Hintergrundmusik aus dem Lautsprecher ein. Diese war fast so laut vernehmbar wie das Explodieren der Raketen selbst.
Wieder danach geschah einen kurzen Moment nichts, als plötzlich eine einzelne Rakete in die Höhe stieg. Sie explodierte am Himmel, hinterließ dabei ein elektrisierendes Knistern. Die Rakete breitete ihre Sterne, in die sie am Himmel zerfiel, wie ein riesiger Schirm aus. Immer weiter blähte er sich auf. Das Gebilde drohte auf die Menschenmassen herabzustürzen. Kurz bevor es sich dem Erdboden näherte, verlosch es jedoch. Spaghettiförmige Rauchsignaturen in der gleichen Form wie die herabstürzenden Sterne blieben zurück. Eine weitere Rakete stieg empor, explodierte. Auch sie bildete wieder eine Art riesiger Glocke. Ihr gesamter unterer Rand setzte sich aus blauen Sternen zusammen, während der restliche Körper aus weißen Sternen bestand. Überall waren Begeisterungsausrufe zu vernehmen.
Zunächst war eine ganze Weile jeweils nur eine Rakete nach der anderen abgeschossen worden. Ab irgendeinem Punkt des Feuerwerks startete man dann gleich mehrere auf einmal. Fließend hatte man die Zahl der gleichzeitig abgeschossenen Raketen danach immer weiter erhöht. Die ganze Luft war inzwischen erfüllt mit Pfeifen, Zischen und Krachen.
Mit einem Male war der gesamte Himmel rot erleuchtet, dann auf einmal blau, dann wieder grün. Eine riesige Qualmwolke begann das Rathaus einzuhüllen.
Ein fliegender Wechsel bei der Art der Feuerwerkskörper erfolgte. Nachdem seit dem Feuerregen ganz am Beginn des Schauspiels ausschließlich Raketen abgefeuert worden waren, schossen mit einem Male Feuerräder in den Himmel.
Wieder waren Raketen zu sehen, gleich etliche auf einmal, so wie vor den Feuerrädern. Zwischendurch erschien einmal ganz kurz vor einem Himmel aus Blitzen und Rauch das Rathaus wie eine riesige Scherenschnitt-Silhouette.
Raketen stiegen auf, die sich wie riesige Kaulquappen aus Feuer über den Himmel bewegten. Es folgten welche, die sich spiralförmig durch die Luft drehten.
In immer größerer Zahl wurden die Raketen gleichzeitig abgeschossen. Mehrfach folgten Massenabschüsse nach links und rechts. Diese sollten mit langen, feurigen Schweifen scheinbar Düsenjäger nachahmen.
Mit fortschreitender Dauer des Feuerwerks kam irgendwann einmal ein Punkt, ab dem der gesamte Himmel über dem Hauptplatz ständig lückenlos erleuchtet war. Abermals wechselte die Hintergrundmusik. "Also sprach Zarathustra" wurde nun gespielt. Unbemerkt war bereits von Anfang an kontinuierlich eine schleichende Impulsivitätssteigerung der Musikauswahl erfolgt. Mit "Also sprach Zarathustra" kam dann ein Musikstück, das an Bombastizität kaum noch überboten werden konnte. Ein Zeichen, dass sich das Feuerwerk seinem Höhepunkt und damit seinem Ende zunäherte.
Rasch war der leise hämmernde Anfang der Nummer zu Ende. Immer theatralischer wurde danach die Musik, steigerte sich immer mehr. Als sie schließlich auf dem totalen Höhepunkt angelangt war, entflammte mit einem Male hoch oben in der Luft eine riesige "40".
Auf dem Boden brach Jubelgeschrei aus. Etliche Männer warfen vor Begeisterung ihre Hüte in die Luft.
Eine ganz außergewöhnliche Dokumentation!
Gruß Eugen