Ein lauer Sommerabend auf dem Lande
Eine weitere meiner Jugenderinnerungen:
Mitte Juli 1994
1.: Die Einladung
Ich war von der Gemeinderatssitzung im Rathaus zurückgekommen und öffnete die Haustür. Stille herrschte im Inneren des Gebäudes. Mutter war also schon bei der Bibelrunde im Dominikanerkloster. Ich betrat die Stube und legte meine Pressenotizen auf dem Tisch ab. Danach beschloss ich, ein Bier aus dem Kühlschrank zu holen, bevor ich mich im Fernsehsessel niederließ.
Kurze Zeit später betrat ich mit einer geöffneten Flasche und einem Glas in den Händen wieder die Stube. Ich stellte beides auf dem Tisch ab und ging zum Fernsehapparat, um den Thriller auf ORF 1 einzuschalten.
Ungefähr fünf Minuten später begann plötzlich das Faxgerät auf dem Tisch bei der Tür zum Flur zu rattern. Ich stellte das Glas, aus dem ich gerade einen Schluck genommen hatte, auf dem Tisch ab und ging hin, um zu sehen, was da gerade ankam. "Programm des Retzer Musiksommers 1994" las ich auf jenem Teil des Blattes, den das Gerät schon ausgespuckt hatte.
Schließlich war das Blatt zur Gänze durchgelaufen. Ich zog es aus dem Gerät heraus, um es mir durchzulesen. Tabellarisch waren auf ihm sämtliche Termine des diesjährigen Musiksommers aufgelistet worden.
"30. 06. Warepu Brass", stand zuoberst geschrieben. "Regionales Blechbläserensemble, benannt nach den Heimatorten seiner Mitglieder: Waitzendorf, Retz und Pulkau."
Der 07. 07. mit "All Stars Brno, Jazzorchester aus Brünn" schloss sich an.
"14. 07. Stadtkapelle Retz.
21. 07. Kaho High School Blasorchester. Schülerorchester aus Japan.
28. 07. Militärmusik des Gardebataillons Wien."
Abschließend war unter den Terminen vermerkt worden: "Sämtliche Veranstaltungen finden im Arkadenhof des Hotels Althof statt. Beginn, wenn nicht anders angegeben, jeweils um 19:30 Uhr."
2.: Gang über den Hauptplatz
Als ich den Hauptplatz betrat, machte ich schon von weitem zu Füßen des Rathauses den "Promille-Express" des Tourismusvereines aus. Ich erinnerte mich, wie ich erst kürzlich über die Einrichtung geschrieben hatte. Es handelte sich um die traktorbetriebene Kindereisenbahn, die sonst nur in der Weihnachtszeit fuhr. Ab diesem Jahr war sie auch im Sommer tätig. Sie brachte da alle 14 Tage gegen ein geringes Entgelt eine Gruppe Touristen zu jeweils einem anderen Heurigen. Damit die Teilnehmer dort auch einmal ein wenig mehr trinken konnten und nicht ans Autofahren denken mussten. "Tourrrrrrrrismusstadtrrrrrrrrrrat" Gruber, der Vereinsvorsitzende, ließ gerade die Gäste einsteigen. Einen Augenblick später setzte er sich persönlich hinter das Steuer der "Lok".
3.: Juli-Abend im historischen Hotel-Hof
Etwa fünf Minuten später errreichte ich das Tor zum vorderen Hof des Althofes. Wie immer bildete dabei der an der Nordseite gelegene Hoteleingang den ersten Eindruck. Mit ihm sein galerieartiger Steinvorbau mit den glaslosen Fensterbögen. Deren weiße Ränder sich wieder einmal besonders stark vom Theresiengelb abhoben, in das der übrige Hof getaucht war. Dazwischen standen die Geranien gerade in voller Blüte.
Erst auf den zweiten Blick bemerkte ich die Zuschauermassen. An die 300 Gäste hatten sich schon auf dem Rasenoval inmitten des Kopfsteinpflasterringes niedergelassen. Wie immer waren dort unzählige Heurigenbänke bereitgestellt worden. Danach fielen mir auch die Gäste auf der langgezogenen Terasse des Hotelrestaurants zwischen Torfahrt zum hinteren Hof und Nordwand auf.
Links neben mir fiel der Blick in das Kopfende des südlichen Arkadengangs. Naturfarben-Weiß, als einziger andersfarbig als die anderen Arkaden im Hof, breitere Bögen. An seinem vorläufigen Ende nach rechts abzweigend und schließlich an die Wand zur Treppe hinter der Stadtsaalbühne stoßend. In dieser Ecke waren ein paar zusammengeklappte Holzstühle abgestellt.
Eine Gruppe Althof-Angestellter in vollständiger Kochadjustierung kam mir entgegen. Sie schickte sich an, das Areal durch das Tor zu verlassen, welches ich gerade durchquert hatte. Jeder der Angestellten trug in den Händen ein silberglänzendes Tablett mit Kaltem Buffet drauf. Ich trat aus Sicherheitsgründen einen Schritt nach links an das Kopfende der Bogenfenstermauer des Arkadengangs. Direkt neben mir tauchte dabei das vom Boden bis zum oberen Ende reichende ecksteinsimulierende Sgrafitto auf.
Als die Köche vorüber waren, bewegte ich mich wieder auf die Sitzreihen hinzu. Rechts vom Hoftor zog der Ausstellungswagen mit den Exponaten der Keramikwerkstatt Unterretzbach vorbei. Wie immer stand das kleine, kaum mannsgroße, überdachte Gefährt an der dort beginnenden Hotelwand.
Hinter dem Wagen tauchte an der Wand des Gebäudes die gusseiserne Gedenktafel für den in Retz geborenen Fotografen Fritz Gettlinger auf, auf der er im Brustbildformat mit Baskenmütze und umgehängter Kamera dargestellt war.
Der lange Arkadengang rechts vom Tor, welcher bereits zum theresiengelben Gebäudekomplex gehörte und bis an die Nordwand des Hofes reichte, begann. Der erste Bogen in ihm zog vorbei. Rechts in ihm wiederum begann das halboffene Treppenhaus, welches in den Zimmertrakt über den Arkaden führte. Wie immer ragte ein Stück von dem Geländer über die Mauer hinaus.
Durch das Fenster in der Mitte des Bogenstücks fiel der Blick in das Vorzimmer des Büros von "Retzer Land"-Manager Fritz Stiedl.
Der nach drei Seiten abgemauerte Bogenabschnitt folgte. An seiner rechten Seite erschien die Tür zum gesamten "Retzer Land"-Büro. Rechts von ihr wieder in Augenhöhe die Steinguttafel mit dem Firmenemblem.
An der Vorderfront des Bogenabschnitts folgte das grüne, ebenfalls bogenförmige Strukturfenster. Ich sah im Vorbeigehen kurz hindurch. Wie immer lagen auf der Bank hinter dem Fenster etliche Stapel druckfrischer Tourismusprospekte ausgebreitet.
Dahinter wieder tauchte das einfache Sprossenfenster in der Abmauerung der linken Bogenabschnittsseite auf. Der Blick fiel auf die Bank, die unter der Innenseite dieses Fensters stand und rechtwinklig an die vordere Bank stieß. Auf ihr entdeckte ich einen Stapel der neuesten Ausgabe unserer Zeitung.
Draußen vor dem Büroeingang begann entlang der Arkaden auch die lange Reihe hölzerner, viereckiger Blumenkästen mit Geranien drin. Wie immer erinnerten sie mich von der Konstruktion her ein wenig an Blockhütten in Kanada.
4.: Ein rustikaler "Zuschauerraum" – Heurigenbänke auf dem Rasenoval
Ich kam den im hinteren Bereich des Rasens befindlichen Zuschauerbänken näher. Während des Gehens hielt ich Ausschau nach freien Plätzen. Am Ende der Aufstellung, kurz vor dem Abschnitt des Ringweges an der Westseite des Hofes, befanden sich noch einige. Ich betrat die Grünfläche, um dorthin zu gelangen. Fast ein wenig wie auf einem Teppich lief es sich auf ihr, wie ich gleich nach den ersten Schritten feststellte. Gleich am Rande des Rasens tauchte neben mir ein Dampfloch der historischen Kelleranlagen unterhalb des Areals auf. Wie gewöhnlich abgeschlossen durch den dafür vorgesehenen Schlussstein. Es war einer, wie er in dieser Form typisch für die ganze Umgebung war. Etwa 30 Zentimeter lang, quadratisch, mehrseitig mit Aussparungen versehen und an der Oberseite leicht abgerundet.
Kinder rannten zwischen den Rundhölzern umher, die rings um das Rasenoval zum Schutz gegen das Überfahren von Autos errichtet worden waren. Zwischendurch hielten sie sich an den Laternen an, welche ebenfalls in regelmäßigen Abständen um den Rasen platziert standen. Wieder einmal fielen mir ihre suppenschüsselartigen Schirme auf.
Ich hatte die runde Kiesfläche in der Mitte des Rasens erreicht. Direkt neben mir stand die junge Linde, die im Jahr zuvor bei der Einweihung des Hotels gepflanzt worden war. Die kleinen Steinchen knirschten unter den Sohlen. Gleich in der Nähe des Baumes befand sich eine leere Bank. Ich setzte mich an ihren Rand und stellte die Pressetasche neben mir ins Gras.
Die Ecke zwischen dem Osttrakt und dem Nordtrakt des Hofes, wo die Musiker spielen würden, war indes noch leer. An den Masten am Ende der Fläche hingen wie gewöhnlich die drei Flaggen. Die von Europa, die der Republik Österreich und die des Landes Niederösterreich. Ein fast nicht spürbarer Wind bewegte sie ganz leicht.
5.: Der erste Teil des Konzerts
Mit einem Male pflanzte sich Beifall durch die Reihen fort. Ich sah auf die Uhr. Wenige Minuten nach Halb Acht war es inzwischen geworden. Geradeaus, auf dem Kopfsteinpflaster vor den Bankreihen, zeigte sich der Grund für den Applaus: Die Musikerinnen und Musiker der Stadtkapelle traten in ihren Ulanenuniformen aus einem Raum hinter den Arkaden. Sie bewegten sich in Richtung Nordostecke des Hofes. Zu der geräumigen Fläche zwischen den zwei Gebäudeteilen. Dort waren in der halben Stunde zuvor bereits sämtliche Sitze und Notenpulte für die Kapelle aufgebaut worden.
Ein paar Musiker betraten noch rasch den Flur hinter dem Orchesteraufbau, der durch die gleiche Art von Arkadenteilverglasung entstanden war wie der Eingangsbereich des "Retzer Land"-Büros. Von dort aus verschwanden sie dann hinter der Mauer des Rezeptionsraumes.
Wenige Augenblicke später erschienen sie wieder durch die Tür am Kopfende des Flures. Im Freien nahmen sie ebenfalls auf den Sitzen davor Platz. Kapellmeister Herbert Neumayr gab mit den Händen einige Anweisungen. Ein paar letzte Instrumentenstimmungen erfolgten und das erste Musikstück des Abends setzte ein.
Tosender Beifall beendete das Eröffnungsstück. Die beiden Intendanten Ida Ruberl und Gerhard Altmann erhoben sich aus der ersten Reihe, um die Gäste zu begrüßen. Ich nahm die Tasche zu mir hoch und begann das Schreibzeug auszupacken. Ich hatte schon vor Beginn der Veranstaltungsreihe Papiere mit der Post zugesandt bekommen. Aber für den Fall, dass noch irgendwelche Informationen kamen, die nicht darin standen, wollte ich vorbereitet sein.
Vor den Zuschauern lief inzwischen das übliche Begrüßungszeremoniell ab, wie ich nebenbei mitbekam. Ich legte die Mappe neben mir auf der Bank ab, um das Stiftefach zu öffnen. In dem Moment wurden gerade die Landtagsabgeordnete Lembacher und nach ihr Klubobmann Bauer begrüßt.
Kurz darauf schlossen sich an die Begrüßungsworte der Dank an jene zwei örtlichen Sponsoren an, die speziell diesen Abend ermöglicht hatten. Es waren die Heinrich-Versicherungen und die Volksbank Donau-Weinland.
Die übliche Vorstellung jedes einzelnen Musikers mit Namen und Instrument folgte. Der jeweils Angesprochene erhob sich immer kurz nach der Nennung seines Namens und gab ein kurzes Solo auf seinem Instrument.
Nachdem bereits einige Musikstücke gelaufen waren, beschloss ich, mich um die Bilder zu kümmern, bevor das Licht dazu unbrauchbar wurde. Ich öffnete meine Tasche auf dem Boden, entnahm die Kamera, hängte sie mir um und trat den Weg nach vorn an.
Als ich auf der Höhe der Rezeptionstür angekommen war, blieb ich erst einmal einmal stehen. Ich wollte zunächst vom Orchester als solchem eine Gesamtaufnahme machen. Von weitem bemerkte ich am anderen Ende des Orchesteraufbaus in Richtung Hofausgang auch wieder Hermann Neumayr, welcher ebenfalls fotografierte.
Ich hatte meine Gesamtaufnahme erledigt. Ich ging nun etwas näher an die Kapelle heran, um auch Aufnahmen von einzelnen Musikern zu machen, damit Thomas die Auswahl hatte. Ein Kellner vom Althof überholte mich. Er brachte den Kapellenmitgliedern auf einem Tablett etwas zu Trinken.
Schließlich kehrte ich wieder zu meinem Platz zurück. Eine Gruppe Touristen verließ gerade den Eingang zur Rezeption. Sie bewegte sich über den Kopfsteinringteil hinter den Bänken in Richtung Hofausgang. Ungefähr in der Mitte des Weges blieben die Leute an der Spitze des Zuges kurz stehen, um ebenfalls dem Konzert zuzuhören.
Zwischendurch kündigte Intendantin Ruberl an, dass das nächste Stück eine Nummer mit einem Trompetensolo sei. Und dass sich das Althofareal vom Akustischen her geradezu hervorragend dafür eigne.
Wenige Augenblicke später sah ich auf dem Weg vor der Rezeption einen Trompetenspieler mit seinem Instrument in der Hand vorbeikommen. Gleich darauf stieg er die seitlich angebaute Treppe empor, die links neben dem Rezeptionseingang auf die darüberliegende Galerie führte.
Es war etwas dämmrig geworden. Per Zufall sah ich zur südöstlichen Ecke des Hofes. Der dortige erste Stock, der geschlossene, grüne Holzaufbau mit den engmaschig gitterartigen Holzfenstern, lag bereits im Graulicht. Noch dunkler war es um den grundflächendeckungsgleichen, weißen Arkadengang darunter.
Irgendjemand bewegte sich hinter den weißen Fenstern des Holzaufbaus. Offensichtlich war noch jemand vom Telebüro anwesend.
Hinter all dem ragte die Spitze des Rathausturmes empor. Vor dem Hintergrund des farbigen Abendhimmels war sie inzwischen zu einer milchig-grauen Silhouette geworden.
Die Kapelle hatte schon etliche Stücke gespielt, als Intendantin Ruberl vor die Musiker trat und anzukündigen begann: "Eine ganze Reihe traditioneller niederösterreichischer Blasmusik haben wir Ihnen unter den Programmpunkten des heutigen Abends schon dargeboten. Passend dazu soll nun auch ein Stück niederösterreichischer Heimatdichtung folgen. Niederösterreich, und speziell darunter das Weinviertel, brachte eine ganze Reihe bedeutender Mundartdichter hervor. Eine davon ist Magdalena Heuberger, von der wir nun ein Gedicht mit dem Titel 'D Lestn orbatn in Weingart' hören werden."
Einen Augenblick herrschte Ruhe, dann begann eine Musikerin der Kapelle den Text vorzutragen: "…"
Eine unbestimmte Zeit war vergangen. Die Kapelle hatte inzwischen mehrere weitere Stücke gespielt. "Bevor sich nun die Stadtkapelle mit der 'Leichten Kavallerie' musikalisch in die Pause verabschiedet", gab Intendantin Ruberl bekannt, "wollen wir uns zuvor an einem weiteren Stück aus dem reichen Schatz niederösterreichischer Mundartdichtung erfreuen. Hören Sie nun 'Nogn Weder' von Adolf Jagenteufel.
Zuvor noch ein kleiner Hinweis: Sie werden es vielleicht schon bemerkt haben, die Belegschaft des Althofes hat hinter ihnen zu Füßen der Terrasse einen Tisch aufgebaut. Dort wird dann in der Pause jede Menge zu Essen und zu Trinken für Sie bereitstehen.
Doch nun darf ich bitten."
Die gleiche Musikerin, die bereits das Gedicht zuvor gelesen hatte, erhob sich wieder von ihrem Platz.
6.: Buffet in der Pause
Mit frenetischem Beifall endete der erste Teil. Die Zuschauer erhoben sich massenhaft von ihren Plätzen. Innerhalb weniger Minuten hatten sich die Reihen völlig entleert. Ebenso verwaist standen die Sitzplätze der Musiker da. Teilweise lagen Instrumente und Uniformen im Kies auf dem Boden und bildeten unfreiwillige Stillleben. Auch ich stand auf, hängte mir die Tasche über die Schulter und trat hinter der Bank hervor.
Wie bereits angekündigt worden war, hatte man zu Füßen der Hotelrestaurantterrasse zwei Tische mit Essen und Trinken aufgebaut. Kopf an Kopf standen diese dort aneinander. Sie befanden sich genau zwischen den beiden seitlich an die Terrasse angebauten Treppen, von denen eine links und eine rechts hinauf führte. Alle möglichen belegten Brote, Gläser mit Weißwein, Rotwein, Sekt und Orangensaft befanden sich darauf. Zwei Althofkellner standen hinter den Tischen und verkauften.
Ich bewegte mich seitlich an den Massen vor dem Tisch vorbei. Ein ganzes Stück rechts davon, wo nicht so viel Gedränge war, blieb ich dann stehen.
7.: Beim Althof-Heurigen
Geradeaus war der Althof-Heurige der Familie Gessl in die Nähe gerückt. In ihm herrschte ebenfalls wieder sehr viel Betrieb, wie auch schon bei den vorigen Konzerten. Auf beiden für den Freiluftbetrieb ausgewiesenen Geländen. Auf der abenteuerlichen Bruchsteinpflasterung, auf dem kleinen Kopfsteinpflastersockel. Beide Flächen reichten für den Gästeansturm wieder einmal bei weitem nicht aus. Dasselbe galt für die beiden grün gestrichenen Heurigentisch-Arrangements unter den ebenfalls grünen Weinrankengerüsten links und rechts der Tür. Auch dort befand sich nahezu kein einziger freier Platz mehr. Aufgrund dessen hatte man wieder den Parkstreifen am Süd-Ende des Rasens von Autos freigehalten. Auf seiner gesamten Länge standen die wegräumbaren Heurigentische und –bänke. Diese waren ebenfalls weitestgehend besetzt.
Herr Schneider aus der Lehengasse trat mit einem Tablett in der Hand aus dem Inneren des Heurigens heraus. Offensichtlich half er wieder als Kellner aus so wie jedes Mal, wenn mehr Betrieb war. Er steuerte mit dem Essen direkt auf die Gäste zu, die an den Tischen auf dem kleinen Kopfsteinsockel saßen. Gleich darauf erschien auch der Wirt persönlich mit zwei Tabletts in den Händen. Eines davon stellte er zunächst auf einem der beiden rot angestrichenen Holzfässer im Eingangsbereich ab. Mit dem anderen ging er zu dem Sitzarrangement in der Ecke zwischen Heurigen und der mehrfach nach links verschwenkten Natursteintreppe zum Stadtsaal.
Am linken Ende des Heurigenbereiches öffnete sich am Gebäude die Tür zum Stadtsaalbühnenaufgang. Ein paar Leute kamen heraus, gingen ein paar Schritte auf dem anschließenden kurzen Weg zur Ringbahn. Sie blieben schließlich bei den zwei Natursteinstufen in der Mitte stehen. Dabei fiel mir wieder einmal die Pflasterung der Treppe an dieser Stelle auf. Oberhalb der Stufe ging sie fließend in die des Heurigensockels über. Unterhalb in die des Ringweges. Offensichtlich fand auch oben im Saal gerade irgendeine Veranstaltung statt.
8.: Im Torhaus
Ich beschloss, mal in den hinteren Teil des Geländes zu sehen. Ich ging daher zur Torfahrt hinab, die dorthin führte. Automatisch sah ich dabei an dem dazugehörigen Gebäudeteil hoch. In dem Augenblick wurde wieder einmal sein Verbindungscharakter zwischen Stadtsaaltrakt und Restauranttrakt sichtbar. So wechselten gerade ein paar Leute über die Dachplattform von einem Gebäudeteil in den anderen. Einige standen auch an der Brüstung und sahen in den Hof hinab. Vermutlich handelte es sich bei den Umherstehenden um Hotelgäste.
Ich trat in die Unterführung ein. Links zog der geparkte Kleinbus der Hotelfachschule mit dem Schullogo an der Seite vorbei. Ein Stück davor stand das vom Althof für Koffertransporte verwendete Elektroauto. Wie immer erinnerte es mich vom Äußeren her ein wenig an das Papstauto.
9.: Allein im hinteren Hof
Nach etwa fünf Metern war die Torfahrt durchquert. Geradeaus tauchte ganz links der Parkplatz des Hotels auf. Rechts daneben erschien gleichzeitig die steile Natursteintreppe. Unsichtbar dagegen am oberen Ende der gleich breite Weg zur Holzbrücke über den Stadtgraben. Zwischen Parkplatz und Treppe der steile Abhang mit den zahlreichen Immergrüngewächsen.
10.: Im Hotelgarten
Direkt neben mir erschien rechts die kleine Brüstungsmauer. Dahinter die terrassenartige, höhere Fläche vor dem Zeremoniekeller. Ich stieg die kleine, geschwungene Natursteintreppe empor, die dort hinführte.
Oben blieb ich kurz stehen. Der übliche Anblick tat sich vor mir auf. Geradeaus, entlang der Rückseite der Westwand des Vorderhofes, der kleine Hotelgarten. In ihm grünte und blühte es gerade vielfältig.
11.: Beim Zeremonienkeller
Gegenüber in westlicher Richtung die weißgestrichene Fassade des Zeremonienkellers. Die zwei kleinen, länglichen, vergitterten Fenster des so genannten Kellerstüberls gleich neben der Tür des Kellers. Ich dachte daran, wie ich selbst schon ein paar Mal in dem rustikal eingerichteten Raum, den man für kleinere Feiern mieten konnte, zugegen war. Ich hatte über Ehrungen an verdiente Persönlichkeiten berichtet, die dort übergeben wurden.
Gleich vom Ende der Treppe an nach links abzweigend der schmale Kleinpflasterweg entlang des Brüstungszauns. An seinem Ende der Eingang des Zeremonienkellers. Die scharnierbeschlagene, halbovale Holzflügeltür. Der mit grüner Farbe aufgetragene Schriftzug "Zeremonienkeller" an der Wand darüber. Wie ich von ein paar Presseterminen wusste, kam dahinter zunächst ein kleiner Vorraum. Danach folgte die lange, tiefe Treppe in den für verschiedene Anlässe genutzten Gewölberaum.
12.: Die Treppe zum Zeremonienkeller-Dach
Ich entschloss mich, auf das flache Dach des Gebäudes zu steigen. Um dorthin zu gelangen, überquerte ich die Kiesfläche in Richtung rechtes Ende der Kellerfassade.
Der knirschende Kies unmittelbar vor der Vorderfront des Kellerhauses war nach nur wenigen Schritten zurückgelassen. Vor mir lag die den Berg hinaufführende, an die Seite des Hauses dran gebaute, schmale Natursteintreppe zum Dach. Die wie gewohnt sichtbar machte, wie stark die Schräglage des Hofes war, in die das Gebäude hineinerrichtet worden war.
Langsamen Schrittes, um Zeit zu schinden, stieg ich die Treppe empor. Ungefähr in der Mitte tauchte links die äußere Tür zum Kellerstüberl auf, das normalerweise über den Kellereingang betreten wurde. Rechts zog die bergige Wiese vorbei, in deren Mitte der riesige, alte Baum dominierte.
13.: Auf dem Kellerdach
Schließlich hatte ich die Treppe hinter mir gelassen und das obere Gelände erreicht. Ich stand am Beginn des kurzen Kiesweges. In Sichtweite lag bereits wieder der lange Kiesweg, auf den er führte. Jenes Verbindungsstück zwischen der großen Treppe beim Parkplatz und der Brücke über den Stadtgraben war vollkommen menschenleer. So wie die ganze Umgebung.
Geradeaus tat sich der Kinderspielplatz mit den verschiedenen Holzgeräten auf. Ein Stück weiter erschien der horizontal verlaufende Stadtgraben. Hinter ihm parallel gehend die Klosterbrückl-Promenade. Abermals im Hintergrund all dessen begannen bereits die Weingärten. Diese versanken mittlerweile in der gelblichen Abendsonne.
Links hinter mir lag das tief mit Kies angefüllte Flachdach des Kellers, an den Rändern stufenlos in den Rasen übergehend. Ich überquerte die Kiesfläche und blieb an der Brüstung an ihren Rändern stehen. Direkt vor mir konnte ich in die Althofküche hinab sehen. Ein paar Angestellte in voller Kochmontur räumten in ihr gerade irgendetwas hin und her. Die riesigen Kochtöpfe erinnerten mich ein wenig an die Klischeevorstellungen von einer Schlossküche.
14.: Im Eckturm
Rechts von mir geriet mir die Südostecke des Kellers ins Auge. Darauf, mit der Ecke optisch verschmolzen, der winzig kleine Turm genau über der Kellertür. Darin der vertikal zum Eingang aufgestellte Tisch mit je einer Bank links und rechts. Es befand sich gerade niemand daran. Ich kam auf die Idee, mich für die Dauer der Pause dort hineinzusetzen. Und dort gleich den Artikel über den heutigen Abend zu beginnen.
Wie beschlossen, betrat ich das Innere des winzig kleinen Raumes. Gleich darauf stand ich auch schon vor der Sitzgarnitur, die ziemlich genau in den kleinen Raum hineinpasste. Wie jedes Mal bereitete das Platznehmen einige wenige Mühen.
Der Anblick des Baus erinnerte mich wieder einmal an die ähnlich strukturierte Architektur der griechischen Küste. Die überall schlohweißen Wände, die über nichts weiter als vier Aussparungen verfügten. Eine türartige Aussparung Richtung Westen, je eine flachbogenartige in jede andere Himmelrichtung. Ich dachte daran, was ich schon an dementsprechenden Aufnahmen im Reiseshoppingkanal im Fernsehen gesehen hatte.
Ich stellte meine Tasche auf die Bank, öffnete das hintere Fach, packte wieder das Schreibzeug aus, legte es auf den Tisch und begann.
15.: Der zweite Teil des Konzerts
Die Musiker der Kapelle kehrten zu ihren Plätzen zurück. Kurz nachdem sich der letzte eingefunden hatte, erklangen die ersten Töne von "Bohemian Rhapsodie". Mit dem Einsetzen der Musik kehrten auch nach und nach die Gäste zu ihren Plätzen zurück.
Der zweite Teil war also offensichtlich moderneren Stücken gewidmet, schlussfolgerte ich. So wie das bei Konzerten "quer durch den Gemüsegarten" ja meistens der Fall war.
"George Gershwin war ein Musiker, welcher ...", kündigte Ruberl dann auch nach dem Ende des Stückes eine weitere modernere Nummer an.
16.: Das Konzert neigt sich dem Ende zu
Unmerklich hatte sich die Nacht über den Hof gesenkt. In Folge davon waren zuerst die Lampen rings um die Grünfläche angegangen. Danach auch die Lampen in der Galerie über der Rezeption. Anschließend in den Fenstern der zwei Reihen Dachgeschossausbauten mit den Flachdächern über dem Restaurant. Nach und nach erhellten sich diese. Am längsten dunkel blieb es in der einzelnen Reihe Dachausbauten mit Satteldächern über dem langen Arkadengang. Zuletzt brannten auch dort in einigen Fenstern in die Lichter.
Nachdem das laufende Musikstück beendet war, trat die Intendantin wieder vor die Zuschauer und verkündete: "Damit, meine Damen und Herren, sind wir am Ende des heutigen Abends angelangt. Ich möchte mich bei Ihnen allen sehr, sehr herzlich für Ihr Kommen und Ihr Interesse bedanken. Ich hoffe, es hat Ihnen gefallen, und ich möchte Sie an dieser Stelle gleich schon zu unserer nächsten Veranstaltung in einer Woche zur selben Zeit am selben Ort einladen.
Als krönenden Abschluss des heutigen Abends werden die Musikerinnen und Musiker für Sie den Marsch der Märsche spielen, den Radetzkymarsch von Johann Strauß Vater. Ich bitte dabei um fleißiges Mitklatschen."
17.: Am späteren Abend nach dem Konzert
Drei Zugaben hatte die Kapelle aufgrund des starken Beifalls noch gewähren müssen. Danach beendete sie ihr Konzert endgültig.
Innerhalb von Sekunden entstand überall in den Reihen allgemeine Aufbruchstimmung. Auch die Musiker begannen ihre Instrumente und Notenpulte wegzuräumen. Ich sah auf die Uhr. Kurz vor Um Zehn war es geworden. Über der Stadt herrschte mittlerweile stockfinstere Nacht. Halbtrüb fiel das Licht der nostalgisch wirkenden Hoflaternen auf die Oberfläche des Kopfsteinpflasters.
Ich packte meine Tasche ordentlich zusammen, zog den Reißverschluss zu. Danach begann ich mich über die obere Kopfsteinringhälfte in Richtung Ausgang zu bewegen.
Beim "Gessl" herrschte noch Hochbetrieb. Zahlreiche Mitglieder der Stadtkapelle hatten bereits an den Tischen innerhalb und außerhalb des Lokals Platz genommen. Die mystisch grün brennende Heurigenlaterne in der schmiedeeisernen Halterung über der Tür schien. Ebenfalls brannten die zwei Laternen links und rechts des Eingangs. Nur noch schemenhaft erkennbar waren ihre Schirme – die gleichen "Suppenschüsseln" wie die Laternen um die Wiese. Sie beleuchteten den auf die gelbe Wand gepinselten grünen Schriftzug "Althof Vinarium". Im Halbdunkel verschwunden hingegen war inzwischen das obligatorische, von der Unterseite der grünen Laterne herunterhängende Bündel Hobelscharten.
Ich setzte meinen Weg in Richtung Ausgang fort, nachdem ich am Heurigen kurz stehengeblieben war. Im Bogen des Torhauses brannte die Laterne, die von der Decke herunterhing, inzwischen ebenfalls. Sie war mit das hellste Lichtelement im ganzen Hof. Trotzdem verbreitete auch sie ein wenig jene etwas mystisch wirkende Dämmerlichtatmosphäre. Umso dunkler wirkten dahinter die geradeaus führende Althofgasse und die links auf den Hauptplatz führende Burggasse.
Ich hatte gerade das Tor durchschritten und wollte über die Burggasse nach Hause gehen. In dem Moment fiel mir ein, dass zur Zeit der Brandstetter-Heurigen wieder für einige Wochen geöffnet hatte. Mir kam die Idee, gleich im Anschluss dorthin zu gehen, um noch irgendeine Kleinigkeit zu essen oder zu trinken. Zuvor jedoch, beschloss ich, würde ich kurz nach Hause zu gehen, um die Tasche bei mir im Zimmer abzustellen.
18.: Im Heurigen Brandstetter
Etwa zehn Minuten später betrat ich die Vinzenzigasse. Die schmale Gasse, in der sich die Renaissancehäuser des Hauptplatzes fortpflanzten, lag in nahezu vollständiger Dunkelheit. Die einzige wirklich auffällige Lichtquelle stellte die grüne Glühbirne inmitten des Heurigenbuschens dar. Weithin sichtbar kennzeichnete er den Brandstetter-Heurigen am Ende der Gasse kurz vor dem Vinzenziplatz.
Nur wenige Augenblicke später hatte ich bereits den Eingang des Heurigen fast erreicht. Direkt vor mir war der aus Föhrenzweigen gebundene Kranz sichtbar geworden. Wie immer hing er von einer Stange unter einem Fenster im ersten Stock herunter. Die grüne Glühlampe vor dem Hintergrund des Nachthimmels verbreitete eine auffallend mystische Atmosphäre. Wie kurz zuvor die Laterne in der Torfahrt des Althofes.
Ich öffnete die kleine Holztür mit den zahlreichen Schnitzereien auf der Oberfläche. Wie immer erzeugte sie dabei ein Knarren, das stufenlos in ein Quietschen überging.
Der kleine Vorraum tat sich auf. An den Wänden erschienen das Pferdegeschirr, die Fassböden mit Schnitzereien, die Maiskolben und die Strohblumen. Rechts neben mir stand die Tür zu der kleinen Gaststube offen. Nur wenige Leute saßen darin.
Ich bewegte mich auf den kleinen Gang zu, der an der Wand gegenüber der Haustür ganz links in Richtung Hof führte. An der Wand über der Spitze des stollenartigen Flures kamen die beiden ironischen Pappschilder in Sicht. Automatisch überflog ich kurz ihren Inhalt. "Es trinkt der Mensch, es säuft das Pferd, in Retz, da ist es umgekehrt", hieß es auf dem einen. "Geborgt wird nur einer Hundertjährigen in Begleitung ihrer Eltern", stand auf dem anderen zu lesen.
Kurz vor dem Ausgang zum Hof zweigte rechts die kleine, gewölbeartige Küche ab. Wo die Hauerplatten, Radlerjausen, Aufstrichteller, belegten Brote, Ribiselkuchen, Heidelbeerkuchen, die Holundersäfte, Himbeersäfte, Apfelsäfte, Johannesbeersäfte, Erdbeersäfte und Melissensäfte zubereitet wurden. Im Vorbeigehen rief ich ein "Grüß Gott" in den Raum hinein.
Ich betrat den Hof. Geradeaus lag direkt vor mir der vollbesetzte Stammtisch. Danach fiel der Blick in den länglichen Hofteil ein Stück weiter links dahinter. Dort waren ebenfalls Tische und Bänke platziert worden. Bis ans Ende, wo sich das Tor zur Klostergasse befand. In der Rabatte an der Wand links neben dem Weg wuchsen auch in diesem Jahr wieder an Stöcken Klematispflanzen hoch. Dazwischen hatten Malven gerade ihre auffallenden lila Blüten zu voller Ausprägung gebracht. Trotz der Dunkelheit konnte ich das feststellen.
Rechts tauchte der höher gelegene Teil des Gartens auf. An seiner Grenze das aus allerlei Stöcken und Pfählen zusammengebundene Weinrankengerüst. Wieder davor das kleine Beet mit den Jesustränen. Ich beschloss, mich wieder an meinen Stammplatz dort zu setzen. Ich stieg daher die drei schmalen Stufen dahin empor.
Ich blieb kurz stehen, als ich das Drahtbogentor mit den blühenden Rosen am oberen Ende der Treppe durchquert hatte. Auch in diesem Teil des Hofes brannten bereits überall die Laternen. Trotz vorgerückter Stunde war noch eine ganze Reihe von Gästen versammelt. Die meisten der Anwesenden hielten sich an den Tischen an der Rückwand des Hauses auf. Ich erkannte etliche Gäste vom Musiksommer wieder. Der Grünbewuchs an der Hauswand stand der Jahreszeit entsprechend in dichtem Blattwerk. Der Flieder, die Forsythie, der Glimmer.
Es war verhältnismäßig ruhig, trotz der nicht geringen Anzahl von Gästen. Die breiten, alten Mauern des Hauses schluckten sehr viel Schall. Geschirrklappern drang aus dem kleinen, halbrunden Küchenfenster in Erdbodenhöhe.
Beide Tische, die Kopf an Kopf in der Ecke links standen, waren noch frei, bemerkte ich schließlich. Ich setzte mich daher wieder an meinen Stammplatz. Erster Tisch, vordere Bank, linke Ecke.
Vor mir zeigte sich wieder das gewohnte Bild. Die rechtwinklig abgebogene Fortsetzung des Weinspaliers an der Grundstückteilsgrenze. Dahinter in Augenhöhe die Dachrinne des ohnehin schon niedrigen und darüber hinaus noch etwas tiefer stehenden ehemaligen Stalls. Die roten Dachziegeln und der Schornstein aus roten Ziegelsteinen auf dem Dach des Stalls, die einen farblichen Kontrast zu der weißen Kalkfarbe seiner Mauern bildeten. Die alten Holzräder, die an der Stallmauer hingen. Die Bäume in der Mitte zwischen Tisch und Stall. Der Pflaumenbaum, in dessen Zweigen auch einige der Laternen hingen. Der Aprikosenbaum, dessen Zweige von den reifen Früchten nach unten gezerrt wurden. Der Birnbaum.
Herr Brandstetter erschien an einem Tisch hinter mir, um ein Tablett Getränke zu servieren. Ich beschloss, ein großes Glas Hollersaft zu bestellen.
Der Zeiger der Uhr war auf Dreiviertel Elf vorgerückt. Vor mir auf dem Tisch stand inzwischen das zweite Glas Hollersaft.
Im Hof war es mittlerweile etwas leerer geworden. Einzig in der Ecke links beim Stall herum saßen noch zwei Runden zusammen. Aufgrund ihrer Kleinheit wirkte die Ecke etwas heller als der übrige Hof. Auch die weiße Kalkfarbe, in der sämtliche Wände des Hofes gehalten waren, kam dort dadurch stärker zum Ausdruck.
Eine Katze erschien auf der südlichen Wand der Ecke. Von dort aus stieg sie auf die Wand, die unmittelbar an diese dran gebaut worden war. Ich vermutete wieder einmal, dass sie der letzte Rest eines Gebäudes sein könnte, das dort einmal gestanden hat. Vor allem wegen der von links unten nach rechts oben verlaufenden oberen Kante. Auch wenn die Mauer heute in demselben einheitlichen Weiß gestrichen war wie der gesamte Hof. Die Katze stieg die Reihe Dachziegel herab, mit denen die Schräge gedeckt war.
Hinter der Südwand der Ecke ragte wie gewohnt ein Stück der benachbarten Dominikanerkirche hervor. Vor dem Hintergrund des schwarz-blauen Nachthimmels war es mittlerweile als stockfinstere Silhouette zu sehen.
Ich beschloss, die Rechnung zu machen. Mir war die Idee gekommen war, noch ins "Vinzenz Liebl" zu gehen.
19.: Im "Vinzenz Liebl"
Ich hatte bezahlt und stand auf, um das Lokal zu verlassen. Zwischen dem Weinrankenspalier vor mir schienen inzwischen der Mond und ein paar Sterne hindurch.
Das Hoftor zur Klostergasse klappte etwas, als ich es hinter mir schloss.
Die leere, nach links abfallende Straße lag vor mir. Von weitem hörte ich bereits die Gespräche der Gäste in der Weinkostbar am unteren Ende der Straße. In dem Augenblick musste ich daran denken, wie ich erst vor kurzem eine Reportage über den Namensgeber des Lokals geschrieben hatte. Jenen Retzer Weingroßhändler, der geboren und gestorben in Retz, von 1797 bis 1881 gelebt und in dieser Zeit der Stadt einiges hinterlassen hatte.
Ich ging die Straße in ihrer Mitte hinab. Sie war vollkommen leer. Nach ein paar Metern hörte ich aus dem Geräuschpegel der Gespräche auch einige Musiknoten heraus. Wahrscheinlich veranstalteten sie wieder mal einen Jazzabend, schlussfolgerte ich.
Ein kleiner Windstoß kam auf. Mit einem Male hatte sich die Temperatur merklich abgekühlt, was mir selbst noch im Heurigen vorerst gar nicht aufgefallen war. Ich war daher froh, die schwarze Lederjacke angezogen zu haben.
Drei Minuten später erreichte ich das Haus neben der Gendarmerie. Wie immer wirkte es auf mich aufgrund seiner extrem niedrig gelegenen Fenster des ersten Stockwerks ein wenig spielzeugartig. Etliche Gäste standen mit Weingläsern in der Hand um den Eingang herum. Im Inneren des Raumes wurde gerade "Flip Fantasia" von "US3 cantaloop" gespielt.
Ich trat auf den Fußweg. Hinter den im Freien befindlichen Gästen kam der tannengrün gestrichene, hölzerne Eingangsbereich des Lokals zum Vorschein. Wieder einmal erinnerte er mich optisch stark an den Eingangsbereich der Werkstatt von Schuster Flammer. Direkt vor mir tauchte das gitterartig strukturierte Gliederfenster auf. Nach wie vor war in ihm zur Dekoration ein Riesenberg Weinkorken aufgeschüttet. Ich betrat den grün gestrichenen Holzrahmen zwischen den beiden Fenstern. Vorsichtig schob ich mich zwischen den Leuten hindurch, die zu beiden Seiten vor der geöffneten Tür standen.
Nachdem ich den ersten Schritt in das Innere des Gebäudes gesetzt hatte, hielt ich es erst einmal nicht für möglich! Die Jazzmusiker waren Johannes, Wilhelm und Cornelius! Sie saßen links in der Ecke zwischen dem Fenster links von der Tür und der kleinen Nische mit der Madonna. Dort hatte man die da befindliche Sitzgelegenheit weggeräumt, damit sie für sich und ihre Instrumente zumindest etwas Platz hatten. Viel war es dennoch nicht. Von der ebenfalls tannengrün gestrichenen Holzverschalung, die die gesamte untere Hälfte der linken Wand bedeckte, war aufgrund der Gästemassen praktisch nichts zu sehen.
Ich hatte ja keine Ahnung gehabt, ging es mir schließlich durch den Kopf, dass sie neben dem klassischen Rock, den sie sonst so spielten, auch Jazz in ihrem Repertoire hatten. Und dass sie so gut darin waren!
Ich versuchte, die restlichen drei hölzernen Stufen hinabzusteigen, was sich jedoch als nahezu unmöglich erwies. Die Gäste standen in dem kleinen Raum so eng zusammen, dass kein Stein zur Erde fallen konnte. Ich beschloss daher, die drei Musiker irgendwann später zu begrüßen, wenn es etwas günstiger war.
Ich begann, mich zwischen den weniger dicht Beieinanderstehenden in Richtung Theke hindurchzuschieben. An der Wand rechts von mir wurde unterdessen das kleine hölzerne Stehpult zur Seite geschoben, damit mehr Platz entstand. Es schrammte ein wenig auf den ausgetretenen Holzdielen, während es bewegt wurde.
Viele der Anwesenden hatten Weingläser in der Hand. Gleich an mehreren Stellen des Raumes hörte man das Klingen zusammenstoßender Gläser.
Schließlich hatte ich es geschafft und blieb an einer freien Stelle an der Bar stehen.
Eine ganze Reihe brennender weißer Kerzen stand auf der gesamten Länge des Tresens verteilt. Mit herunter gelaufenem Wachs waren sie auf einfachen weißen Untertassen befestigt worden.
Zwei der drei Betreiber standen hinter der Theke. Beide trugen sie weiße Hemden und weiße Schürzen. Einer der Männer hantierte an dem Regal an der Wand hinter der Bar, dessen Seitenwände aus in die Wand eingelassenen Steinen bestanden. Während meines Eintreffens beendete er gerade das Aufeinanderschichten von Weinflaschen. Danach begann er ein paar Fächer weiter oben mit dem Aufstellen leerer Gläser.
Auf dem obersten Fach des Regals bemerkte ich zwei Ziergegenstände. Eine besondere Holzkiste von einer Weinverpackung und eine dickbäuchige, in einem Korb steckende Weinflasche. Beide befanden sich bei meinem letzten Aufenthalt im Lokal noch nicht an dieser Stelle.
Ebenfalls neu seit meinem letzten Mal war eine kleine, schwarze Tafel, welche in der rechten Ecke hinter der Bar lehnte. Mit weißer Kreide wurde auf ihr ein Käseteller zu 55 Schilling angepriesen.
Ein Stück weiter links machte der andere der zwei Betreiber am Nachbarregal etwas. Es war das Regal zwischen dem großen Regal und dem Durchgang zum Hinterzimmer. Wo es mit ebenfalls eingemauerten, viertelkreisförmigen Platten exakt die Ecke ausfüllte. Als er einen Schritt zur Seite trat, sah ich, dass er gerade die dort befindlichen Brände von den regionalen Bauern nachfüllte.
Gleich daneben schloss sich der kleine, gewölbeartige Gang an. Wie ich wusste, führte er zunächst ein paar Stufen hinab und bog dann nach rechts ab, wo das Hinterzimmer lag. Auch dort standen die Gäste wie die Mauern. Einige der Anwesenden befanden sich gerade auf dem Weg ins Hinterzimmer. Sie hatten große Mühe, sich mit in die Luft gehaltenen Weingläsern an den Umherstehenden vorbeizuschieben.
Ich drehte mich auf meinem Platz in Richtung Weinübersicht. Wie immer hing diese in der Mitte der linken Wand rechts neben dem dortigen Weinregal. Ich begann zunächst, die linke Hälfte durchzulesen. Mit Kreide auf schwarzem Untergrund waren jeweils fünf Angaben gemacht geworden. Der Name des Weinbauern, der Ort, in dem das Weingut lag, die Menge, in der der Wein hier im Lokal verkauft wurde, die Sorte, der Jahrgang und schließlich der Preis. "Klein. Pernersdorf. 1/8 Chardonnay 93. 30,--" war als Erstes zu lesen. Gleich darunter wurde ein Wein vom Weingut von Wilhelms Familie angepriesen: "Burgstaller. Pulkau. 1/8 Riesling 92. 25,--". Na, da kommt vorerst natürlich nichts Anderes in Frage, dachte ich.
Ich überflog nur noch der Vollständigkeit halber die Namen der restlichen Weinsorten: Grüner Veltliner, Gelber Muskateller und Traminer.
Auf der rechten Hälfte der Tafel, jenseits des senkrechten Kreidestrichs, standen noch "1/8 Weiß 17,--", "1/8 Rot 17,--", "G'spritzer 21,--" und "Frizzante 30,--" angeschrieben.
Ich blieb bei meiner Entscheidung. "Einen Riesling vom Burgstaller bitte", teilte ich dem Mann direkt vor mir an der Theke meine Bestellung mit.
"Kommt sofort." Er griff unter die Theke, holte eine Flasche hervor und setzte den daneben liegenden Korkenzieher an, um sie zu öffnen. Nachdem dies beendet war, entnahm er ein leeres Glas aus dem Regal hinter sich, stellte es neben die Flasche und goss ein. Schließlich hob er das gefüllte Glas über die Theke hinweg und stellte es vor mir hin.
"Danke!"
Wieder war eine Nummer der Gruppe verklungen. Frenetischer Beifall erklang. So wie auch schon nach allen anderen Nummern.
Von weitem tauchte in den Gästemassen plötzlich mein Geografielehrer Tumpel auf. Ich erinnerte mich, wie er uns im Unterricht mal erzählt hatte, dass das Haus sein Elternhaus war.
Hinter der Theke standen inzwischen die drei Betreiber zusammen, tranken Wein, unterhielten sich. Zwischendurch redeten sie auch mit Gästen jenseits der Theke. Von irgendwoher kam ein kleiner Windstoß, ließ die Lichter auf der Theke ein wenig flackern.
Ein paar weitere Nummern waren gespielt. Hinter der Bar ging es inzwischen wieder etwas turbulenter zu. Dutzende Bestellungen prasselten von allen Seiten auf die Betreiber ein: "A Oachtl Weiß!", "A Viatl Muskatölla!", "A Viatl Riesling!"
Einer der Männer nahm ein Körbchen und breitete ein weißes Tuch darin aus. Danach begann er, geschnittene Weißbrotscheiben hineinzufüllen. Als er damit fertig war, stellte er das Körbchen auf die Theke.
Der dritte der Lokalbetreiber schob sich zwischen den Massen in Richtung Bar hindurch. Er schien sich hauptsächlich um die Gäste vor der Tür zu kümmern. Mit einer Hand balancierte ein Tablett voller Gläser in der Luft. An der Bar angekommen, stellte er das Tablett auf der Theke ab. Danach rief er seinen Kollegen zu: "I kriag zwa weiße Gschpritzte!"
Einer der Männer hinter der Theke holte sich zuerst das Tablett zu sich hinter. Dann nahm er zwei Henkelgläser aus dem Regal hinter sich und stellte sie vor sich ab. Sein zweiter Kollege hinter der Bar nahm inzwischen eine Flasche Wein aus dem Regal. Er stellte sie auf der Theke ab, setzte den Korkenzieher an und begann sie zu öffnen.
Wieder war eine unbestimmte Zeit vergangen. Die Band spielte inzwischen leise, sehr getragene, sehr sentimentale Melodien. Die Musik passt irgendwie zur Dämmerstimmung des Kerzenlichts, dachte ich.
Auch hinter dem Tresen ging es inzwischen wieder ruhiger zu. Einer der beiden Männer wusch Gläser ab. Der andere trocknete sie ab und stellte sie ins Regal zurück.
Klirrend wurden von den Gästen laufend neue Gläser auf dem Tresen abgestellt, welche sich der Abwascher gleich nahm.
Ich sah auf die Uhr. Es war kurz vor Mitternacht. Ich beschloss daher, die Rechnung zu machen und zu gehen.
Bürgerreporter:in:Christoph Altrogge aus Kölleda |
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