„Geht auf die Strasse“
Auftakt der Gewerkschaftskampagne „Gerecht geht anders“ in Kaiserslautern.
von Stefan Gleser
Während Frankreich aufsteht und kämpft, formieren sich in Deutschland wenigstens die Bataillone. Der „Kurswechsel für ein gutes Leben“ begann in der Westpfalz mit einer Tagung zu den Themen „Bürgerarbeit, Ein-Euro-Jobs, Zwangsarbeit.“ Zur Begrüßung wies Christine Wetz den genossenschaftlichen Charakter des Veranstaltungsortes Bahnheim hin. Dieser sei von einer Eisenbahner-Genossenschaft vor über 100 Jahren geschaffen worden. Dies sei das Gegenmodell zu einer neoliberalen Ellenbogengesellschaft.
Hans Sander, Sprecher des Erwerbslosenausschusses des ver.di Bezirkes Westpfalz kritisierte in seiner Einleitung die Erhöhung des Regelsatzes um fünf Euro. So würde weiterhin das System der Niedriglöhne, der Leiharbeit und der Minijobs zementiert werden. Wer reich sei, könne sich weiterhin einen arbeitenden Menschen, einen „Aufstocker“ von der Allgemeinheit mitbezahlen lassen. Es beraube ferner Millionen von Menschen, die oft Jahrzehnte in die Sozialversicherungssysteme einbezahlt hätten, einer gesunden Ernährung und der Teilnahme am sozialen und kulturellen Leben. Die Streichung des Eltergeldes und die Pauschalierung der Wohnkosten sei unverhüllter Ausdruck des Klassenkampfes von oben. Den Eigentümer von Hotelketten sei das Geld geradezu nachgeschmissen worden. Er hoffe, dass von den Demonstrationen in Oldenburg und Hamburg ein Signal ausgegangen sei gegen diese Politik der Kaltschnäuzigkeit und des Zynismus. .
In den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts, so Sander in seinem Vortrag, über die Armutsindustrie, seien viele Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaften mit einem emanzipatorischen Anspruch gestartet. Heute seien sie als Arbeitshäuser und Verwahranstalten gelandet. Viele Alg II-Bezieher seien gezwungen bei Trägern verschiedenster Couleur zu arbeiten. Solche Gesellschaften erhielten Geld von den Job-Center, vorwiegend in Form von Kopfpauschalen. Dies wird allerdings nicht für die Weiterbildung verwendet, sondern um die `Arbeitsbereitschaft` der Erwerbslosen zu testen und sie in „Ein-Euro-Jobs“ zu vermitteln. Die Träger sind stark daran interessiert, ihre „Kunden“ mit möglichst wenig Aufwand abzuwickeln, nur dann ist ihr Geschäft einträglich. Jede Qualifizierung schmälert den Gewinn und das Gehalt der Geschäftsführung . Die Job-Centern schicken nur dann Erwerblose zu den Trägern, wenn diese möglichst viele Teilnehmer in Ein-Euro-Jobs vermitteln. Es liegt also im Sinne eines solchen Trägers nicht genau zu überprüfen, bei wem und unter welchen Umständen die Erwerbslosen tätig sind. Deshalb forderte Sander eine öffentliche Kontrolle.
Wer profitiert von der Arbeitnehmerüberlassung?
Wer kontrolliert ob die Arbeit gemeinnützig, im öffentlichen Interesse und Beschäftigungsneutral ist oder die noch verbliebenen Reste des gewerblichen Mittelstands in den Abgrund reißt?
Wer kontrolliert ob öffentliche Gelder für Weiterbildung und Qualifikation oder für die Geschäftsführung verwendet werden?
Spitze des Eisbergs sei die „Treber-Hilfe“ in Berlin mit ihrem Maserati als Dienstfahrzeug gewesen. Niemand überprüft, wie die Träger die ihnen zugewiesenen Menschen behandeln.
Das Wort „Betreuung“ und dessen amoralischen Charakter beschrieb Dolf Sternberger im „Wörterbuch des Unmenschen“. Dank Hartz IV sei jetzt eine für nicht möglich gehaltene Steigerung erfolgt: „Verfolgungsbetreuung“ heißt die vorsätzliche und bewusste Verhängung von Sperrzeiten. „Verfolgungsbetreuung“ heißt die Drangsalierung der Betroffenen durch eine oft kafkaesk verschlüsselte, breit gefächerte Palette von Druckmitteln, hin bis zur existenziellen Drohung Nahrung und medizinische Versorgung zu verlieren. Laut SGB II sollen selbst Sachleistungen gegen Hunger und Verwahrlosung nur in bestimmten Fällen gewährt werden. Der Sozialwissenschaftler Michael Wolf definiert „Verfolgungsbetreuung“ als „gezielte und absichtsvolle Ausgrenzung hilfebedürftiger Arbeitsloser aus dem Leistungsbezug“
Detlev Brey sprach über die „Entwertung der Arbeit“ und sezierte das Wort „Job“.
Der Glaube harte Arbeit schütze vor Existenzsorgen sei zerbrochen. „Job“ ersetze den Begriff Arbeit. Mit „Job“ assoziiere niemand humane Arbeitsbedingungen und Solidarität. „Job“ sei ein Kampfbegriff der Auftragsschwätzer und Werbefuzzis um befristete Arbeitsverträge, Scheinselbstständigkeit oder Mehraufwandsentschädigung zu verbergen. Mit „Job“ feiere der der schutzlose Gelegenheitsarbeiter, der rechtlose Tagelöhner seine Wiederauferstehung. Brey wies darauf hin, dass eine Gesellschaft nichtproduktive Menschen immer unterstützt habe. Bettlerorden oder Eremiten seien Jahrhunderte lang tolerierte Lebensentwürfe gewesen. Bei uns würde Diogenes in seiner Tonne verhungern und von den Politikern noch als Schmarotzer bezeichnet werden.
Ein Vertreter des Vereins „Hartzfrei“ aus Landau sprach über die Mühen der Mobilisierung. Selbst Mitglieder des Vereins oder Kollegen, die man zur ARGE begleitet hätten, scheuten sich, öffentlich mit „Hartzfrei“ in Verbindung gebracht zu werden.
Andreas Geiger von der Nationalen Armutskonferenz referierte über „Bürgerarbeit“. Nachdem „Hartz IV“ sich allein schon durch das Verhalten des Namensgebers diskreditiert habe, und „Basisgeld“ sich allzu deutlich als Beschönigung herausgestellt habe, sei Bürgerarbeit die neueste Worthülse. Bürgerarbeit erweitert den Sanktionskatalog für Arbeitssuchende Mitbürger. . Bürgerarbeit wird reguläre Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst vernichten. Die Einkünfte aus dem Bürgergeld werden nicht Existenz sichernd sein.
Am 15. 04.2007 wurde ein zwanzigjähriger Mann verhungert in seiner Wohnung in Speyer aufgefunden. Neben der Leiche des lernbehinderten Sohnes lag die ausgemergelte, unterernährte Mutter. Marie Louise Mais von ver.di Saarland berichte über die Sanktionspraxis in Verbindung mit „Ein-Euro-Jobs“. Besonders Jugendliche würden „respektlos und herablassend behandelt.“ Sanktionen führten zu einer Art Sippenhaft der gesamten Bedarfsgemeinschaft. Sanktionen führten zu vermehrter Kleinkriminalität und Obdachlosigkeit, was die öffentliche Hand wesentlich mehr koste, als der Wegfall der Regelleistung. Mais forderte dazu auf, den Protest auf die Strasse zu tragen. Hans Sander, gestützt auf die Erfahrung mit seinem landesweit einzigen Begleitservice für Arbeitssuchende Kolleginnen und Kollegen ergänzte, dass Menschen bei Sanktionen „überhaupt nicht wissen, was mit ihnen geschieht.“
In der anschließenden Diskussion verwies ein Teilnehmer auf die Bewusstseinindustrie der Herrschenden. Diese habe erreicht, dass Lebensrisiken wie Krankheit, Arbeitslosigkeit und Alter als schicksalhaftes Verschulden des Einzelnen aufgefasst würden. Es wurde vorgeschlagen, dem Beispiel südamerikanischer Länder zu folgen und
den genossenschaftlichen und öffentlichen Sektor zu fördern statt Mensch und Natur der Ausplünderung durch den Raubtierkapitalismus zu überlassen. In der jüngsten Bankenkrise hätten sich Genossenschaftsbanken bewährt. Dank Migros hätten es in der Schweiz Discounter schwer, sich zu etablieren. Ein junges Mädchen schilderte, wie ihre Generation in einem Klima der Verachtung und Stigmatisierung gegenüber hilfsbedürftigen Mitbürgern aufwachse.
Der DGB Regionsvorsitzende Michael Detjen forderte in der Zusammenfassung die Einführung einer Steuer auf finanzielle Transaktionen. Diese wurde vor Jahren von den us-amerikanischen Wirtschaftswissenschaftler James Tolbin vorgeschlagen und von globalisierungskritischen Organisationen wie Attac aufgegriffen. Eine solche Steuer würde Devisenspekulationen mindern, den Kapitalhandel stärker an die Realwirtschaft binden und die Einnahmen öffentlicher Haushalte stärken. Die Zerstörung der Sozialsysteme habe mit dem berüchtigtem „Graf-Lambsdorff-Papier“ 1982 begonnen. Dabei sei „Demographie“ zu einem Art Zauberwort erhoben worden, um die umlagengesicherte Rentenversicherung zu zerschlagen. Im Gesundheitswesen drohe uns ein Zweiklassensystem.
Das dreigliedrige Schulsystem erinnere ihn in seinem Anachronismus an das preußische Dreiklassenwahlrecht.
„Gerecht geht anders“ wird am 11.11. in Kaiserslautern mit einer Demonstration fortgesetzt werden.
Bürgerreporter:in:Horst Kröger aus Walsrode |
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