Wenn Mägde spinnen
Im Herbst 1798 war Johannes noch keine zehn Jahre alt. Fast alles was er über die Welt ausserhalb des Gutshofes und dem benachten Stiftsdorf Egenstedt, das dazu gehörte, wußte, hatte er in der Spinnstube von den Mägden erfahren. Ihre Erzählungen, ihre Lieder und Umgangsformen prägten ihn. Sie waren es, die Ateil an seinen kindlichen Sorgen nahmen und ihm ein wenig Geborgenheit gaben.
Nachdem sein Vater zum Schweinemeister aufgestiegen war und für das Amtshaus Steuerwald, arbeitete und auch dort wohnte; nachden schließlich gar seine Mutter, dort im Nachbardorf Himmelsthür Wohnung fand, blieb Johannes unter der Aufsicht eines Knechtes in Egenstedt allein zurück. Zunächst ganz zuversichtlich, ja überaus zufrieden. Nun fand er Gelegenheit ausgibig durch Feld und Flur zu butschern. Die langweiligen Schulstunden in der Kammer des Kantors brauchte er nicht mehr zu ertragen. Das ABC, das Ignatz, so wurde der Kantor despektierlich von den Schulkindern genannt, mit Holzkohle an die gekalkten Wände seiner Kammer gemalt hatte, kannte Johannes längst zur Genüge. Schnell und einfach, sehr leicht sogar, war er mit dem Lesen und Schreiben zurande gekommen. Das ewige Nachplappern der anderen Kinder mußte er sich nun nicht mehr mitanhören. Er nutzte den Tag für Entdeckungstouren in Feld und Wald. Er half auch, besonders in der kühleren und dunkleren Jahreszeit, gern den Mägden in der Spinnstube bei ihrer Arbeit. Beim Spinnen ging es fröhlich zu, es wurde gesungen, Geschichten wurden erzählt und bis spät abends über Neuigkeiten gesprochen. Einmal berichtete Johannes über ein eigenartiges Erlebnis.
„Gestern nachmittag war ich am Mühlenwehr um einen Fisch zu angeln.“
„Hast du denn eine Angel?“
„Na, ich hab‘ mir ne Nadel krummgebogen und im Nähkasten der Tante Garn gefunden.“
„Wenn dich Pächter Richter beim Angeln erwischt hätte – na, dann aber ...“
„Der hätte mir nichts getan. Den Fisch hätte ich ja zu ihm gebracht. Hab‘ nur keinen gefangen. Unten am Wehr hab‘ ich gesessen. Als es anfing dunkel zu werden bin ich fast eingeschlafen und wäre beinahe ins Wasser gefallen. Beinahe. Dann aber, ich wollte gerade heimgehen, sah ich am Ufer gegenüber, unter der großen Weide, da wo die Rinder immer zum Saufen ruter gehn, ihr wisst schon wo. Da sah ich eine leuchtende Gestalt. Ein Mädchen im weißen Kleid. Das leuchtete wie bei Mondschein. Das Mädchen stand aber gar nicht auf den Füßen. Es schwebte zur Weide hoch und verschwand. So als hätte ein Wolke den Mond verdunkelt.“
„Herr sei bei uns!“ sagte die eine der Frauen, bekreuzend.
„Das war ein armes Irrwisch.“ wußte eine andere.
„Du weißt was das ist?“ fragte die neben Johannes sitzende.
„Nöh“ antwortete der.
„En Irrwüsche iss en‘ ...“ „Das heißt Irrwisch oder Irrlicht.“ unterbrach nun eine Spinnmagd. Das Surren der Räder hörte auf und kein Fuß trat mehr auf eines der quitschenden Pedale.
„Was war da?“ fragte Johannes, verunsichert. Es schien ihm schon gestern Ungewöhnliches, ja beinahe Angsteinflössendes von der schwebenden Lichterscheinung ausgegangen zu sein. Als die Gestalt verschwand hatte er unwillkürlich zum Himmel geschaut. Es gab dort aber keine Wolke, die das Mondlicht hätte verdunkeln können. Ja nicht einmal der Mond war zu sehen. Sonderbar.
„Diese Lichte sind Seelen von ungetauft gestorbenen Kindern.“ setzte die Magd ihre Erklärung fort.
„Sie finden weder einen Platz im Fegefeuer, noch im Himmel.“
„Deshalb geistern sie herum?!“
„Ja,weil alle Menschen als Sündige die Erblast tragen, kommen sie ins Fegefeuer. Nur wer als Christ bereut und sich von der Sünde befreit, kann in den Himmel aufsteigen – hat mir Kaplan Knust gesagt.“
„Diese armen kleinen Bälger, weil ungetauft, sind aber noch keine Christen.“
„Deshalb irren umher und wissen nicht wohin.“
Bald darauf erfuhr Vater Ruthe, Wie es mit dem Schulunterricht von Johannes bestellt war.. Empört darüber, dass der von ihm mit der Aufsicht beauftragte Knecht das Schwänzen der Schulstunden nicht verhindere; aus Sorge sein Sohn könne später einmal nicht den gewünschten Beruf erlernen, holte er den Junge zu sich nach Steuerwald.
Hier gab es einen tüchtigen Pfarrer, den Kapuziner Pater Breitenbach. Mit dem sprach er über die Ausbildung des Jungen. Vielleicht könne er sein Auskommen durch das Kurieren kranker Tiere verdienen - so aufgeweckt, wie der doch sei, könne der einmal vielleicht sogar studieren.
Vater Ludwig Ruthe selbst hatte schon manche Kuh kuriert, kannte ein Mittel gegen Durchfall bei Schweinen und pflegte einmal sogar ein prächtiges Reitpferd wieder gesund, dem ein liederlicher Schmied einen Hufnagel falsch eingeschlagen hatte. So gelangte er zu einigem Ansehen und verdiente manchen Taler hinzu. Einen noch weit größeren Erfolg wünschte er sich für „sein liebes Hännschen“.
So jedenfalls hatte er sich gegenüber Pater Breitenbach mehrfach geäußert. Der wußte um die fromme Einstellung und die katholische Erziehung der Kinder von Ludwig und Maria Theresa Ruthe und verspracht Johannes auf den Besuch des Gymnasiums vorzubereiten. So übernahm er gern den Schulunterricht, verlangte nicht einmal Schulgeld dafür. Bald gewann Johannes ein enges Verhältnis zu seinem neuen Lehrer. Er lernte eifrig, kannte alsbald viele lateinische Wörter und verstand den Sinn der häufigsten lateinischen Redewendungen.
Doch eines gefiel dem Kapuziner ganz und gar nicht. Die Fantastereien über Gespenster, seines Schützlings, dessen Ängstlichkeiten vor herumwandernden hingerichteten Verbrechern, vor Irrwischen, und ähnlichen abergläubischem Unsinn. Dem wollte er ein Ende bereiten.
Deshalb riet Pater Breitenbach dem Vater, abends, jedenfalls bei Dunkelheit, vielleicht gar bei Nacht, mit dem Jungen einmal zu solchen Orten zu gehen, an denen Johannes Gespenster vermute. Dann würde er wohl die Erfahrung machen, dass es die gar nicht gäbe. Also nimmt der Vater eines nachts „Hännschen“ mit zum Auslegen der Aaalangeln zur morschen. Innerstebrücke. Dort hatte Johannes schon mehrmals Irrlichter gesehen. Andern Tags geht gingen die beiden abends an der Himmelsthürer Seite die Innerste entlang, bis bis zum Steinbruch in dem einst ein Einsiedler hauste und der angeblich immer noch dort herumgeistere. Von dort kamen sie in den sumpfigen Auewald bei der Haseder Mühle. Beide setzten sich auf das Mühlenwehr, durch dessen eines halb geöffnetes Schütt das Wasser rauschte. Sie hatten den Einsiedler nicht angetroffen, kein Irrlicht entdeckt. Johannes zeigte keine Angst. Vater Ruthe sah das als Erfolg seiner Vorkehrungen an. Pater Breitenbachs Rat zu befolgen schien wirkungsvoll zu sein.
Als sie sich aber eines nachts erneut am Wehr niedersetzten, machte Johannes auf ein seltsames Gurgeln und Gähnen aufmerksam. Nach einer Weile kam es auch demVater etwas geheimnisvoll vor. Kam das Stöhnen und Röscheln vielleicht oben vom Hang, auf dem der Galgen stand? War es vielleicht das Seufzen des Mörders Schmidt? Jenes Bösewichts aus Hohen Hameln, dessen Leichnam nun schon seit einem Jahr dort am Galgen im Wind baumelte, damit andere Unholde sehen, wie es Verbrechern ergeht.
Viele Menschen der Gegend kannten Schmidt‘s Untaten und sein Schicksal. Auch die Bestrafung wurde lange vor der Vollstreckung bekannt. Denn zum Aufstellen des Galgens mußten immer unterschiedliche Zimmerleute herangezogen werden. Keine von ihnen hätte einen Galgen allein bauen wollen.
Zur Hinrichtung kamen damals viele Schaulustige, selbst solche aus Hannover und Braunschweig..
Am Wer sitzend, erinnerte sich Vater Ruthe an all diese Begebenheiten, während Johannes an die Mordtaten dachte, von denen an Winterabenden beim Spinnen in Marienburg erzählt worden war.
Schmidt und besonders auch dessen Frau, beide als Anführer einer Gruppe, verübten in der Hildesheimer Gegend anfangs Diebereien, dann immer dreister geworden, regelrechte Raubzüge. Meist spionierten sie, besonders auf Märkten, ihre Opfer zuvor aus.
Einmal als ein Bauer seine kleine Tochter mit einem Taler zu seinem Nachbarn schickte, war Schmidt ihr nachgeschlichen, ließ sich das Geld zeigen und wollte es dem Mädchen abluchsen, „Herr Schmidt geben sie mir das Geld zurück.“ flehte die Kleine.
Nun wußte der Bösewicht, dass das Kind ihn mit Namen kannte. Er schlug auf das Mädchen ein und warf es in den sumpfigen Teich. Wie durch ein Wunder blieb es am Leben, wurde gerettet. Als man dann im Hause Schmidt allerhand Diebesgut entdeckte, wurde er verhaftet und auf dem Amte Steuerwald in sichere Gewahrsam gesperrt.
Dort schmachtete er in Ketten, bis zum Urteilsspruch in einem der Gewölbe unter dem Turm. Knechte und Magde schauten machmal durch ein Fensterloch in sein dunkles Verlies hinunter. Spot musste er über sich ergeben lassen. Nur einige Male hatte Johannes Schmidts klägendes Geraune vernommen, sich aber zumeist von den Gemäuer ferngehalten.
Auch Vater Ruthe kannte den Verbrecher.
Eines Tages hatte der Schließer des Kerkers nach ihm rufen lassen, weil die Eisen mit denen der Gefangene an Armen und Beinen gefesselt war, fürchterlich entzündete Wunden verursacht hatten. Hier war Menschlichkeit gefordert; da Ruthe Tiere kurieren konnte, sollte er die ärgsten Schmerzen des Geschundenen lindern. Während Ruthe die Wunden mit Rindertalg bestrich, raunte Schmidt ihm zu: „Sie wollen mich zum Stockfisch machen.“ Damit meinte, es sei ihm das Urteil gehängt zu werden, vorgelesen worden.
Bei den seltsamen Geräuschen am Wehr in Hasede fiel ihm alldies wieder ein, während Johannes an die grausigen Mordgeschichten der Spinnmägde dachte.
Dennoch wollten Vater und Sohn die Ursache der unheimlichen Geräusche herausfinden. Sie schlichen den Hang hinauf.
Doch wie groß war ihr Erstaunen, als sie vor dem Sternenhimmel einen leeren Galgen erblickten.
Schmidt war verschwunden. Sie eilten ins Dorf. Es wurde Alarm getutet. Die mutigsten Männer machten sich zu Fuß oder zu Pferde auf, den Erhängten zu suchen.
Der wurde schließlich auf einem verwilderten Felde entdeckt. Ein Bauer schlug mit seiner Fackel auf den verdorrten Leichnam ein und schrieh: „Eck sla en dot! Dot, dot slan düssen Lump, dot, dot, dot!“. Dabei schleifte er das grausige Bündel am Strick auf die Chaussee und man konnte ihn endlich von weiterer Leichenschändung abhalten.
Später begrub man Schmidt am Galgenplatz.
Was im Laufe der Zeit in Spinnabenden darüber erzählt wurde, ist nicht überliefert. Wohl aber, wie es mit dem Aberglauben und der Gespensterfurcht von Vater Ludwig und Sohn Johannes weiter verlief. Denn gut 30 Jahre später veröffentlichte Johann Friedrich Ruthe (1788-1859), der inzwischen an der Tirärztlichen Hochschule zu Berlin studiert hatte, aber kein Veterinär, sondern Lehrer für Biologie geworden war, seine Lebenserinnerungen unter dem Titel „Leben, Leiden und Widerwärtigkeiten eines Niedersachsen“.
Die Publikation wurde 1841 vom Autor, im Selbstverlag herausgegeben und ist heute als gedrucktes Exemplar nur in wenigen Bibliotheken nachweisbar. Eher finden man die Arbeit als Mikrofiche-Ausgabe, sowie als Digitalisat im Internet. Die Autobiografie liest sich größtenteils wie eine Abenteuergeschichte. Dennoch gewinnt der Leser den Eindruck, der Autor möchte den Fokus auf eine schicksalschwere1 Zeit lenken. Seine erfolgreichen Jahre, den Aufstieg als Lehrer, seine naturwissenschaftliche Arbeit und die damit verbundenen Anerkennungen erwähnt Ruthe nicht
Aus dieser Veröffentlichung sei im Zusammenhang mit dem Bestreben furchterregenden Gespensterfantasien entgegen zu wirken, Folgendes zitiert:
[S. 21]„Mein Vater suchte auf alle mögliche Weise meinen Glauben an Gespenster zu vertreiben, ich wurde des nachts bald hier, bald dorthin geschickt; Alles half nichts. Vielleicht war aber der Vater selbst nicht ganz frei von Aberglauben: denn einst gingen wir, wie das oft geschah, spät in der Nacht nach Hause. Es war eine schöne Mondhelle Sommernacht. Mein Vater machte mich auf eine Erscheinung aufmerksam. Ich sehe hin noch sträuben sich meine Haare zu Berge! Und erblicke in einiger Entfernung eine nackte schwebende Menschengestalt.
Der Eindruck auf mich war so gewaltig, daß ich zitterte und bebte und einer Ohnmacht nahe war, [22] und so bleibend, daß heute noch von dieser Erscheinung nicht das Geringste aus meiner Seele verwischt ist.
Anfangs wollte mein Vater mit mir auf die Gestalt zugehen; aber auch er wankte endlich, wir kehrten um und gingen nach Hause.
„Dat het wat te bedüen“ (das hat was zu bedeuten), sagte mein Vater, „dat het wat te bedüen!“ Wäre mein Vater mit mir auf die Erscheinung losgegangen, […] so hätte ein großer Theil meiner Gespensterfurcht schwinden müssen; so aber bestärkte er noch meine Vorurtheile und meinen Aberglauben, zumal [...]merkwürdiger Weise die Erscheinung [nach der Heimkehr noch an Bedeutung gewann.] Schon kündete der Wächetr durch Tuten und Singen die Mitternachsstunde an, als uns knarrend der große Thorweg geöffnet wurde. Nicht fern von userer Hausthür erblickten wir einen unserer Knechte, der, zur Verwunderung meines Vaters, die große Stallthür zumachte. Er könne nicht schlafen, war seine Antwort und Entschuldigung.
Der andere Tag war heiß und schwül; der Knecht hatte die Schweine jenseits des Mastberges auf den Anger getrieben, auf dem ein Teich hellen und klaren Wassers ist. Er [badete im Giesener Teich und ein Schlaganfall] macht seinem Leben ein Ende. Gegen Mittag kam die Nachricht: Christian sey ertrunken. „Da, da hewet wi et!“ (Da, da haben wir‘s) hieß es nun, und die Erscheinung mußte noch dazu auch sprechende Aehnlichkeit mit Christian gehabt haben.“
In den Spinnstuben des Hildesheimer Landes schwanden etwaige Zweifel an dem Geschehen nach jeder Erzählung dieses Vorfalls. Von der Identität des Trugbild mit dem Ertrunkenen war man fest überzeugt.
Bürgerreporter:in:Rolf Schulte aus Hildesheim |
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