Der Fall Jürgen N.

Sitzgelegenheit für Obdachlose auf einem Abrissgelände, Hannover-Südstadt, ehem. ESSO-Schneider Mineralöl, An der Weide
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  • Sitzgelegenheit für Obdachlose auf einem Abrissgelände, Hannover-Südstadt, ehem. ESSO-Schneider Mineralöl, An der Weide
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Zwangsgeräumt, obdachlos, tot

Zwei Jahre nachdem er seine Wohnung verlor, starb in Hannover ein Mann. Welche Rolle spielte die Zwangsräumung bei seinem Tod?

4. 3. 2019

HANNOVER taz | Die Todesanzeige klingt wie eine Anklage: „Im Alter von 64 Jahren erlag unser langjähriger Freund und Genosse ‚Bauer‘ der Kälte dieser Stadt“, das schreibt die Partei Die Linke im hannöverschen Stadtteil Linden.
Am 12. Februar 2019 ist Jürgen N. tot aufgefunden worden. Der Obdachlose, der „Bauer“ genannt wurde, lag hinter einem städtischen Freizeitheim. „Eine widerrechtliche Zwangsräumung vor zwei Jahren raubte ihm seine Wohnung. Wohnungslosigkeit und Krankheit raubten ihm seinen Lebenswillen und die Kraft zur Veränderung“, schreiben seine Freund*innen in der Anzeige weiter.

N. ist unverschuldet in die Obdachlosigkeit gerutscht. „Er wurde getäuscht“, sagt Holger Rosemeyer, der N. in der Phase der Zwangsräumung als Anwalt vertreten hat. Die Wohnung im Kötnerholzweg, Ecke Limmerstraße, in der N. gelebt hatte, war eigentlich nur ein ehemaliger Kiosk: rund 25 Quadratmeter, drei winzige Zimmer, ein Bad, aber nicht mal eine Küche.

Ein Mieter aus dem Haus hatte den Kiosk zusätzlich zu seiner eigenen Wohnung angemietet. Aber anstatt ihn wie mit dem Eigentümer abgesprochen als Kiosk wiederzubeleben, habe er ihn an N. und einen weiteren Mann untervermietet, sagt Rosemeyer. Den Mietvertrag habe er aber so aussehen lassen, als wäre es ein Hauptmietvertrag. „Er hat eine Firma mit ‚Immo‘ im Namen konstruiert“, sagt der Anwalt. „Es hatte den Augenschein, als wäre das eine Immobiliengesellschaft.“ Nicht nur N. fiel darauf herein – auch das Jobcenter, das die Miete für die Räume übernahm.

„Die Konditionen waren völlig überhöht. Die beiden Männer haben jeweils fast 400 Euro mit Nebenkosten für die geringe Wohnfläche bezahlt“, sagt Rosemeyer. Er glaubt, dass diese Masche noch Jahre hätte funktionieren können, wenn der „betrügerische Vermieter seine eigene Miete nicht irgendwann selbst nicht mehr gezahlt hätte“. So aber sei auch dieser zwangsgeräumt worden. Da erst fiel dem Hauseigentümer auf, dass der Kiosk bewohnt war: Jürgen N. und sein Mitbewohner hatten über zwei Jahre lang ihre Miete bezahlt – aber eben nicht auf das richtige Konto.

Zweimal verhinderte Rechtsanwalt Rosemeyer die Räumung, weil es formale Fehler in dem Verfahren gab. Beim dritten Versuch waren die Gerichtsvollzieher*innen trotz Protesten erfolgreich. Laut der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung wurden sie dabei von einem Großaufgebot der Polizei unterstützt. Rosemeyer ist überzeugt, dass auch diese Räumung rechtswidrig war. Für N. war die Zwangsräumung, die an seinem 63. Geburtstag stattfand, der Anfang vom Ende.

Ein Leben lang hoch politisch
Jürgen Otte war 43 Jahre lang mit N. befreundet, gemeinsam mit ihm bei der Linken aktiv. Wenn er über den Verstorbenen spricht, entsteht das Bild eines schwierigen Charakters: still, nachdenklich, seit einem Schlaganfall auch manchmal grantig und unzugänglich – aber sein Leben lang hoch politisch. „Er ist innerlich daran zerbrochen, dass niemand sah, dass ihm Unrecht getan wurde“, sagt der 63-Jährige. Er nennt die Räumung einen „Gewaltakt“.

Monatelang hätten verschiedene Freunde N. aufgenommen, so Otte, auch er selbst. Eine dauerhafte Lösung konnte das nicht sein, auf dem freien Wohnungsmarkt hatte der Hartz IV-Empfänger mit dem Schufa-Eintrag aber keine Chance. „Wir haben ihn einzeln nicht retten können“, sagt Otte, und dabei bricht ihm die Stimme. „Es beschämt mich.“
N. hatte dann Kontakt zu Sozialarbeitern und schlief nachts in einer Notunterkunft der Stadt. „Aber irgendwas um Weihnachten muss den Schalter umgelegt haben“, sagt Otte: Er habe bemerkt, dass sein Freund draußen geschlafen habe. „Er hat den Kontakt vermieden und sich zurückgezogen.“

Mitarbeiter*innen des Freizeitheims fanden am 12. Februar seine Leiche. Die Polizei geht von einer natürlichen Todesursache aus. „Ohne diese Zwangsräumung wäre er älter geworden“, glaubt Otte und fordert: „Es muss ein einklagbares Grundrecht auf eine eigene, bezahlbare Wohnung geben. Dann müsste der Staat für sozialen Wohnungsbau sorgen.“

Steffen Mallast vom Mieterladen in Hannover kannte N. aus den Beratungen vor der Räumung. „Er hat sich danach aufgegeben“, das hat auch Mallast beobachtet: Einem Mann über 60 werde mit einer Zwangsräumung auch die Perspektive für das weitere Leben genommen. Ein paar Habseligkeiten habe N. auf dem Dachboden des Mieterladens untergestellt – mehr sei ihm nicht geblieben.
Doch auch für jüngere Betroffene bedeute die Zwangsräumung einen großen Einschnitt und eine starke psychische Belastung. „Dass jemand keinen Weg mehr in eine Wohnung findet, ist nicht häufig“, sagt Mallast. „Aber sie müssen dann in einem völlig anderen Umfeld leben, meistens am Stadtrand, wo die Mieten günstiger sind.“ Der Berater lehnt das Instrument daher vollkommen ab. „Es ist auch nicht in Ordnung, dass man die Vermieter so leicht aus der Verantwortung lässt“, sagt der 31-Jährige. Denn für diejenigen, die zwangsgeräumt würden, gehe es um mehr als eine Wohnung.

Am kommenden Donnerstag wäre Jürgen N. 65 Jahre alt geworden. An diesem Tag jährt sich auch seine Zwangsräumung. Seine Freund*innen wollen ab 17 Uhr eine Mahnwache abhalten – „vor der Wohnung, die ihm entrissen wurde“.

Von
Andrea MaestroRedaktionsleiterin taz.nord

So geht Deutschland, die Stadt Hannover, mit Menschen um.
Bevor jemand eine gründliche Überprüfung vornimmt, werden Menschen Zwangsgeräumt und auf die Straße gesetzt.
Vor diesem Toten und danach sind einige Obdachlose in der Stadt ums Leben gekommen.
- Will so die Stadt die Zahl drücken?
- Sollen unliebsame Mitbewohner*innen so "aus dem Weg geräumt" werden?
- Menschen, die Geld kosten könnten?
- Menschen, die in den Augen der Behörden in Ungnade gefallen sind?
- Oder sollen Menschen, die sich wehr(t)en, vernichtet werden, damit niemand mehr klagt?

... von der von Obdachlosigkeit bedrohen Francis Bee

Bürgerreporter:in:

Francis Bee aus Hannover-Südstadt

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