Biwakieren am Mer de Glace – Unterwegs am drittgrößten Alpengletscher
Es macht viel Freude mit einer Gruppe von Freunden im Gebirge unterwegs zu sein. Es ist gesellig, es wird geplaudert und man hat viel Spaß. Doch wenn man die Natur intensiv erleben möchte, dann funktioniert das nicht, ist man doch dann dabei zu abgelenkt. Will man ein wirklich intensives Naturerlebnis haben, dann geht man am besten zu zweit mit einem Gleichgesinnten los, oder auch ganz allein. Das wiederspricht zwar der Regel, dass man ins Gebirge nie allein gehen soll. Doch jeder muss für sich selber entscheiden, ob er, was natürlich schon ein Risiko sein kann, ein solches Unternehmen auf sich nehmen will. Für mich ist das jedoch keine Frage. Nicht oft, aber doch ab und zu, gehe ich allein los. Und das nach Möglichkeit noch in Landschaften, in denen außer mir kein Mensch unterwegs ist. Fernab von jedem Trubel und jeder Zivilisation zu sein, das ergibt Gefühle, die unbeschreiblich schön sein können.
Ein solches Ziel habe ich mir in den Alpen ausgesucht. Dabei handelt es sich um das Mer de Glace, den drittgrößten Alpengletscher, der im Montblanc-Gebiet liegt. Fast 50 Quadratkilometer Eis auf einer Länge von 12 Kilometern. Das scheint mir attraktiv zu sein. Doch die Tour beginnt alles andere als einsam. Chamonix, am Fuß des Montblanc gelegen, ist praktisch eine kleine Großstadt, wenn auch mit viel Flair, inmitten der Alpen. Und so gibt es dort natürlich auch, zumal sich der Ort selbst als Welthauptstadt des Bergsteigens versteht, jede Menge Touristenrummel und natürlich auch Bergsteiger. Und so stehe ich dann am Bahnhof der Zahnradbahn nach Montenvers in einer ziemlich großen Menschenmenge, die ebenso wie ich zum Eismeer hinauf will. Es ist ein buntes Volk von Touristen, die mal einen Blick auf eine großartige Szenerie werfen wollen, Wanderern, die mal Eisluft schnuppern wollen und auch einigen Bergsteigern, die Größeres vorhaben. Ich fühle mich irgendwo dazwischen. Als bei schönstem Wetter nach einer Weile die knallroten Wagen des Zuges einrollen, wird der Bahnsteig jedoch schnell wieder leer, denn alles sucht sich darin einen Platz, möglichst am Fenster. Da werden dann schon mal die Ellenbogen eingesetzt.
Es ist schon merkwürdig, wenn man mit einer Zahnradbahn steil bergauf zuckelt. Die optischen Sinne werden total verwirrt. Das Gehirn bekommt es nicht auf die Reihe, das Innere des Wagens als schief einzuordnen. Es meint, dass es die Landschaft da draußen sei, die in Schieflage geraten ist. Die Stämme der Fichten und Arven sind im 70-Grad-Winkel gegen die Fahrtrichtung geneigt, und man wundert sich fast, dass sie nicht umkippen. Der Talboden, der bald tief unten liegt, ist schräg, und die Häuser scheinen an ihm festzukleben, da sie nicht abrutschen. Man kann sich noch so bemühen, das alles richtig zu stellen. Aber es klappt einfach nicht, obwohl man von der Sinnestäuschung weiß.
Nach fünf Kilometern Fahrstrecke, zum Teil mit grandiosen Ausblicken ins Tal auf Chamonix, Argentiere und eine eindrucksvolle Berglandschaft, erreicht man nach 1000 Höhenmetern Anstieg den Zielbahnhof von Montenvers. Dieser war schon im 19. und 20. Jahrhundert in der Zeit der Romantik eine der größten Attraktionen, die die Alpen zu bieten hatten. Damals kamen die feinen Herrschaften noch in Anzügen oder langen Kleidern herauf. Nicht wenige, die eine richtige Bergfahrt wagen wollten, sogar zu Fuß oder auf Mauleseln. Sie quartierten sich in dem berühmten und noblen Grand Hotel Montenvers ein, um von dessen Terrasse aus in Korbsesseln oder mit Fernrohren, die man mieten konnte, das grandiose Panorama zu bestaunen. Manche wagten sich auch auf das Eis vor. In rutschfesten Socken hatte man einen einigermaßen sicheren Halt. Auch die Gletschergrotte war ein beliebtes Ziel, konnte man sich doch darin so richtig gruseln. Und so mancher Bergsteiger startete von Montenvers mit Hanfseilen und Nagelschuhen zu den steilen Wänden hinauf, die damals noch jede Menge unbestiegener Routen aufzuweisen hatten.
Und tatsächlich hat man von diesem Felssporn auch heute noch einen atemberaubenden Anblick, sofort wenn man die Zahnradbahn verlassen hat. Denn gleich gegenüber, auf der anderen Seite des Gletschers, erhebt sich einer der eindrucksvollsten Montblancgipfel überhaupt, die Aiguille du Drue. Wie ein mächtiger Eckzahn bohrt sie sich mit ihren steil aufstrebenden Flanken von ihrem Fuß aus 1700 Meter hoch in den tiefblauen Himmel. Und Staunen ist angesagt über diese mächtigen, glatten Granitfluchten, die eine Höhe von 3800 Metern erreichen.
Doch ein anderer Blick ist eher enttäuschend, nämlich der auf das eigentliche Ziel, das Eismeer. Reichte der Gletscher vor 150 Jahren noch fast bis zum Hotel herauf, so muss man heute mit einer Seilbahn 200 Meter hinunter gondeln oder über Leitern absteigen, will man das Eis betreten. Vom schönen, glänzenden Weiß auf den alten Schwarz-Weiß-Fotos, die um die vorige Jahrhundertwende entstanden sind, ist nicht mehr viel übrig geblieben. Zumindest nicht an der Gletscherzunge. Seiten- und Mittelmoränen mit viel Geröll machen sich immer breiter und geben dem Eis im Hochsommer ein schmutziges Aussehen. Weiter oben wird es dann jedoch reiner, und damit auch schöner anzusehen. Aber so habe ich es mir auch vorgestellt, schmilzt doch das Eis überall in den Alpen dramatisch schnell.
Nach ausreichender Würdigung der berühmten Ausblicke, mache ich mich an den Abstieg. Und schon dabei lässt man das Gewusel der Touristenschar hinter sich, obwohl auch etliche andere zum Gletscher hinunter wollen. Doch die nehmen in erster Linie die Seilbahn, sind ihnen doch die langen Eisenleitern an den steil abfallenden Felswänden nicht geheuer. Und die werden nun erst mal 200 Meter tief abgestiegen.
Nachdem man an deren Ende felsiges Gelände durchquert hat, betritt man das Eis. Auch hier kann von Einsamkeit noch keine Rede sein. So mancher Tourist wagt sich ein paar Schritte darauf, und diverse Seilschaften machen die ersten Gehübungen auf dem glatten Untergrund. Schnupperkurs Eis, das ist ein beliebtes Ferienerlebnis. Doch auch das lässt man bald hinter sich und trifft nur noch vereinzelt auf Bergsteiger, die mit Rucksack, Seilen und Eispickeln ausgerüstet zu Klettertouren aufbrechen. Ich hingegen bummele mehr über das Eis, nachdem ich die Steigeisen angelegt habe, habe ich doch alle Zeit der Welt und kann mir so ausgiebig alles anschauen. Und das lohnt sich, denn es gibt eine Menge zu sehen. Kleine Spalten, die mit türkisschimmerndem Eiswasser gefüllt sind. Gurgelnde Gletscherbäche mit Strudeltöpfen, durch die das Wasser manchmal in unergründlichen Tiefen verschwindet. Und natürlich die Bergflanken zu beiden Seiten, die bald über 1000 Meter hoch emporstreben.
Nach einigen Kilometern Eiswanderung erreicht man eine Gabelung. Das breite Gletschertal teilt sich. Geradeaus läuft es auf das zentrale Montblanc-Massiv zu. Ich zweige jedoch nach links ab, will ich doch zum Fuß der Grandes Jorasses hinauf. Und in diesem Gelände begegne ich auf der Tour den letzten Bergsteigern. Ab da bin ich in dieser gigantischen Landschaft vollkommen allein. Und gerade das ist es, was ich gesucht habe.
Dabei muss ich zunächst das wildzerklüftete Gelände einer Moräne durchqueren, das durch Geröll und mächtige Felsbrocken gebildet wird. Und dabei muss man auf den Hängen schon vorsichtig sein, geben doch manche locker liegende Platten unter dem Gewicht der Belastung nach. Die eine oder andere kommt auch schon mal ins Rutschen, und unter einem tonnenschweren Block möchte man nicht unbedingt liegen.
Beim Weitersteigen ergeben sich neue Anblicke, da sich die Perspektive ändert. Zunächst rückt hoch oben der Rochefortgrat ins Blickfeld, über den ich zwei Tage zuvor – allerdings nicht allein – gestiegen bin (<a target="_blank" rel="nofollow" href="http://www.myheimat.de/hannover-bemerode-kirchrode-wuelferode/freizeit/der-rochefortgrat-im-montblanc-gebiet-d2488112.html">Der Rochefortgrat im Montblanc-Gebiet</a>). Neben dem Biancograt am Piz Bernina ist er wohl der schönste Firngrat der Alpen. Und noch ein Stück weiter ist es der Gipfel des Montblanc selbst, der im Taleinschnitt erscheint. Diesmal aus einem anderen Blickwinkel als gewohnt. Dort hoch oben am Mur de la Cote in 4400 Metern Höhe mussten wir vor ein paar Jahren den Aufstieg abbrechen, da uns in schwierigem Gelände bei eisigen Windböen mit Flugschnee die Kraft ausgegangen war (<a target="_blank" rel="nofollow" href="http://www.myheimat.de/hannover-bemerode-kirchrode-wuelferode/freizeit/unterwegs-am-montblanc-d2370534.html">Unterwegs am Montblanc</a>). Doch am heutigen Tag ist das anders. Kein Windhauch regt sich. Die Verhältnisse sind ideal, und das Gelände ist alles andere als schwierig. Hier, 2000 Meter tiefer, kein Hecheln nach Sauerstoff, kein Herzrasen, keine Angstgefühle. Es ist nicht viel mehr als eine Wanderung mit einfacher Kletterei. Nur einmal wird es etwas spannend, als ich einen Gletscherbach mit steilen Eiswänden überwinden muss. Doch natürlich macht das Spaß, denn so kann wenigstens der Eispickel mal zum Einsatz kommen, und ich habe ihn nicht umsonst mitgenommen.
Irgendwann macht das Gletschertal eine Biegung nach rechts und weitet sich in eine große, steiler ansteigende Fläche. Eine neue Szenerie rückt ins Blickfeld. Und was für eine! Die großartigste, die das Monblanc-Massiv zu bieten hat. Mächtig bauen sich die steilen Flanken der Grand Jorasses 1200 Meter hoch vor mir auf. Eine ein Kilometer breite Wandflucht, von himmelhohen Granitpfeilern durchzogen. Dazwischen schwindelerregende Couloire aus steilstem Eis. Hoch oben die Spitzen von Pointe Walker, Pointe Whymper und Pointe Croz. Welcher Berginteressierte kennt diese Namen nicht. Ganz links der berühmte Walkerpfeiler, Traumziel von Extrembergsteigern aus der ganzen Welt. Diesen Anblick muss ich nun erst mal auf mich wirken lassen, und ich habe viel Zeit dazu.
Doch dass die Zeit nicht stehen bleibt, merke ich am Stand der Sonne. Schon längst ist sie hinter den Bergflanken im Westen verschwunden. Es wird Zeit, dass ich nach einem Biwakplatz für die Nacht Ausschau halte. Und das ist in diesem unebenen, steinigen Gelände am Gletscherrand gar nicht so einfach. Aber nachdem ich ein paar Brocken zur Seite geräumt habe, habe ich dann doch eine einigermaßen ebene Fläche, zum Teil auf eisigen Untergrund. Die Schlafmatte in den Biwaksack, den Schlafsack reingestopft, und schon habe ich es mir gemütlich eingerichtet.
Zwar habe ich mir ein Buch mitgebracht, doch zum Lesen komme ich gar nicht. Die Szenerie um mich herum ist so eindrucksvoll, dass ich nur gucken möchte. Das braucht eben seine Zeit. Und dann ist wieder Staunen angesagt, denn die für mich längst untergegangene Sonne bestreicht hoch oben die mächtigen Granitpfeiler der Jorasses mit Goldfarbe, die sich bald darauf in verschiedenste Rottöne verwandelt. Natürlich muss so viel Großartigkeit im Bild festgehalten werden.
Nach einer kurzen Nacht mit prächtigem Sternengefunkel und glühenden Wänden in den frühen Morgenstunden, bin ich dann schon bald wieder unterwegs. Auf dem knüppelhart gefrorenem Eis lässt es sich gut steigen. Dem Gletscher folge ich so weit zum Fuß des Walkerpfeilers hinauf, bis mir das Eis zu steil wird. Ein Blick die grandiose Granitflanke hinauf lässt mich schon ein wenig erschaudern. 1200 Meter schwierige Kletterei. Nichts für mich. Dann mache ich mich mit der Erkenntnis an den schönen Rückweg, dass man auch in der heutigen Zeit noch Stille und Einsamkeit in eindrucksvoller Berglandschaft finden kann. Das ist ein beruhigendes Gefühl. Und irgendwann werde ich dann auch wieder auf Menschen treffen.
Bürgerreporter:in:Kurt Wolter aus Hannover-Bemerode-Kirchrode-Wülferode |
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