Bergtouren am Ortler, dem höchsten Berg Tirols (Fotos: Kurt und Markus Wolter)
Wenn man gern in den Alpen unterwegs ist und schon etliche Dreitausender bestiegen hat, dann möchte man bei den weiteren Touren die Höhen und die Schwierigkeiten auch steigern. Nun hatten wir - das sind mein Sohn Markus und ich - neben diversen Dolomitengipfeln, auch den höchsten, die Marmolada, zum Beispiel die Wildspitze in den Ötztaler Alpen und den Großglockner in den Hohen Tauern erklommen. Wenn man sich noch nicht ganz an die Viertausender der Westalpen heran wagt, dann bietet sich als eine Steigerung der 3905 Meter hohe Ortler im südwestlichsten Südtirol an. Doch wie wir später feststellen mussten, ist dieser attraktive Gipfel schwieriger zu ersteigen als so mancher Viertausender.
Das merkten wir gleich bei unserem ersten Versuch im Jahr 2004. Von Sulden aus gelangten wir auf dem Normalweg bis zur Payer-Hütte. Dieser 1200 Meter hohe Anstieg allein ist schon eine großartige Bergtour, die auch von normalen Wanderern, die trittsicher sind, durchgeführt werden kann. Doch hinter der Payer-Hütte wird das Gelände für den noch nicht ganz so versierten Bergsteiger schnell anspruchsvoll. So schien es uns damals zu gefährlich, und wir kehrten aus Sicherheitsgründen auf glattem Schneeboden und abschüssigem Gelände schon bald um.
Am Hintergrat - 1. Versuch
Doch zwei Jahre später, in denen wir einiges an Erfahrung gesammelt hatten, wollten wir es erneut versuchen. Dieses Mal allerdings über den Hintergrat, der der großartigere Aufstieg sein soll. Doch so großartig fanden wir ihn zunächst nicht, muss man sich doch dort über riesige Schotterhänge hinaufquälen, bevor das Gelände reizvoller wird. Und weit oben, am Signalkopf, nur noch 200 Meter unter dem Gipfel, stellten wir uns nicht besonders geschickt an. Wir fanden den Weiterweg nicht und mussten umkehren. Wir waren frustriert.
Doch unsere Laune stieg schnell wieder. Zunächst beim Klettern am Gardasee und dann am Piz Bernina waren wir in allerschönsten Landschaften unterwegs. Als wir am frühen Abend vom Morteratsch-Gletscher ins Tal zurückkehrten, an dem wir uns im Eisklettern geübt hatten, fing es allerdings an wie aus Kübeln zu schütten. Das möchte man in einer solch wunderbaren Natur nicht unbedingt haben. Doch der Wetterbericht machte uns Hoffnung. Nach 24 Stunden sollte dieser heftige Dauerregen aufhören, und so kam es tatsächlich auch. Wir konnten fast die Uhr danach stellen und waren überrascht darüber, wie genau ein Wetterbericht sein kann.
Nun wollten wir nicht diese lange Regenzeit im Zelt aussitzen, sondern nutzten spontan die Zeit dazu, nach Sulden zurückzufahren, um den Ortler noch einmal auf dem Normalweg zu probieren. Und das war eine gute Idee, denn damit sollte es beim dritten Anlauf mit einer Gipfelbesteigung klappen.
So stiegen wir also am Folgetag, nachdem der Regen pünktlich am späten Nachmittag aufgehört hatte, durch graue Wolkenfetzen, die ab und zu den Blick auf die Berglandschaft freigaben, die 1200 Höhenmeter zur Payer-Hütte hinauf, von der aus eine Ortler-Besteigung gestartet wird. Dort oben trafen wir am Abend immerhin 60 Bergsteiger an, die auf engstem Raum eineinhalb Tage hatten ausharren müssen, waren sie doch durch den nicht angekündigten Wetterwechsel überrascht worden. Und wenn man nachts zu einer großartigen Bergtour starten möchte, aber ein Dauerregen dazwischen kommt, so dass man die Hütte nicht einmal verlassen kann, dann sorgt das nicht gerade für die allerbeste Stimmung. Ertragen konnten das viele wohl nur mit Alkohol, denn wir trafen sie in bierseliger Laune an. Doch nun hatte der Regen ja aufgehört, und in der Nacht verzogen sich die Wolken so nach und nach. Und als wir früh am Morgen zum Gipfel aufbrachen, funkelten die Sterne.
Nun hatten wir also den Ortler auf dem Normalweg erklommen, nicht aber über den Hintergrat. Und das wurmte uns, nachdem wir inzwischen einige Viertausender bestiegen hatten, immer noch ein wenig. Also wollten wir es doch noch einmal versuchen. Es war im Jahr 2011, fünf Jahre danach. Doch uns erwischte auf der Tour ein nicht vorhergesagtes Unwetter, so dass wir - wir waren es an diesem Berg nun schon gewohnt - wieder umkehren mussten. Etwas dramatisch ging es in brüchigem Fels dabei schon zu. Doch frustriert waren wir danach nicht, waren wir doch heilfroh, dass nichts passiert war. Für mich, der ich nun bald Rentner sein werde, war das Kapitel „Ortler“ damit geschlossen. Für meinen Sohn Markus natürlich nicht, der den Hintergrat irgendwann machen wird.
Wer nun mehr Interesse an diesen Bergtouren hat, sie vielleicht auch selber mal durchführen möchte, oder aber auch wer Freude am Lesen von Berggeschichten hat, für denjenigen füge ich meine Berichte, die jeweils kurz nach den Touren entstanden sind, an. Und denjenigen Interessierten, die keine Lust dazu haben, wünsche ich Spaß beim Anschauen der Bilder, die die Großartigkeit dieser Landschaft, so hoffe ich, zumindest ein wenig vermitteln können.
Am Hintergrat - 2. Versuch
Um vier Uhr springen wir in der Hintergrat-Hütte aus den Betten. Schnell ein paar Müsliriegel reingeschoben, und los geht´s. Während sich die anderen noch ihr Frühstück servieren lassen, sind wir schon auf den Beinen, und es geht in die Dunkelheit hinaus. Die Lichtkegel der Kopflampen leuchten eine im Schotter ausgetretene Spur aus. Wir können nur erahnen, dass es zur Rechten tief hinunter geht. Über uns funkelt das Firmament.
Zunächst über welliges Gelände leicht bergan. Doch bald wird es anstrengender. Ein steiler Schotterhang muss erstiegen werden. An einer Stelle ist mir etwas mulmig. Hat uns doch die nachfolgende Gruppe bald eingeholt, und ich will auf keinen Fall Steine lostreten, die sie treffen könnte. Während Markus schnell oben ist, schaffe ich mit Mühe den heiklen, rutschigen Absatz ohne Steinschlag auszulösen. Doch dann wird es leichter. Die anderen lassen wir an uns vorbei ziehen. Wir wollen uns Zeit lassen und unsere Kräfte gut einteilen, sind wir doch überhaupt noch nicht akklimatisiert, und das bei einem Fast-Viertausender. Doch wir denken, dass wir trotzdem fit genug sein werden.
Während es vor uns in ein großes Schotterfeld hinein geht, wird es langsam hell. Die Lichtkegel der anderen sind bald weit über uns, wiederum andere folgen uns in der Tiefe. Der Weg, der nicht viel mehr als eine ausgetretene Pfadspur auf losem Schotter ist, geht bald in ein Firnfeld über. Das bringt etwas Abwechslung. Doch danach kommt wieder nur Schotter und nur Schotter. In endlosen Kehren windet sich die schmale Spur den sehr steilen Hang hinauf. Spaß macht das nicht unbedingt. Doch dann endlich der schon von weitem erkannte Felsaufschwung, der erst gar nicht näher rücken wollte. Aber auch er besteht nicht aus solidem Gestein. Alles bröselig. Doch besser als Schotter unter den Stiefelsohlen. Mit leichter Kletterei geht es hinauf. Aber dann schlucken wir. Im jetzt hellen Licht des Tages sehen wir das nächste Schotterfeld. Zwar nicht ganz so riesig und steil wie das erste. Doch es reicht zum Laune verderben. Am besten den Kopf runter und auf die Füße gucken, nicht immer auf das weit entfernte Ziel, die nächste Felswand. So ist die Wegstrecke leichter zu ertragen und rückt schneller näher als wenn man ständig nach oben blickt.
Schließlich erreichen wir nach mühsamen Steigen die Felspartien. Wieder darf in mehr oder weniger lockerem Fels geklettert werden, etwa 200 Meter hoch. Gut zu wissen, dass wir dort nicht wieder hinunter müssen. Es ist zum Teil unsicheres Gelände. Dann erreichen wir einen Felsrücken in 3466 m Höhe, das Obere Knott. Damit wird der Blick auch zur anderen Seite frei, Richtung Süden. 1500 Meter unter uns liegt Sulden. Wir wenden uns jedoch nach links und folgen dem Gratrücken, der mehr in westlicher Richtung verläuft. Bald erreichen wir ein großes Firnfeld. Die Steigeisen untergeschnallt, und dann geht es hinein in Schnee und Eis. Es ist jedes Mal wieder eine Freude, wenn man zum ersten Mal seit langer Zeit die Eisen unter den Füßen hat und damit gehen kann. Auf sonst unsicherem oder überhaupt nicht begehbarem Gelände krallen sie sich tief in den weißen Untergrund und geben einem sofort ein sicheres Gefühl. Es macht einfach Freude, damit zu Laufen, und erst sie geben einer solchen Bergtour den Touch, auch wirklich in hochalpinem Gelände unterwegs zu sein.
Zunächst ist dieses flach. Doch schnell wird es steiler, wenn auch nicht sehr steil. Vielleicht 35 Grad. Doch für den Anfang reicht das aus, um erstmal wieder Sicherheit zu gewinnen. Etwas heikel ist der Ausstieg. Auf steilem Hang mit rutschigem Untergrund müssen die Steigeisen abgelegt und wieder im Rucksack verstaut werden. An dieser Stelle möchte ich nicht unbedingt den Halt verlieren, würde es doch in sausender Fahrt weit hinunter gehen, und wer weiß schon, ob die Pickelbremse vor dem anschließenden Steilabfall funktionieren würde.
Das Gelände wird leichter, aber nicht unbedingt schöner. Es gilt den schmaler werdenden bröseligen Felsrücken in leichter Kletterei zu erklimmen. Nach wie vor keine festes Gestein wie z. B. in den Dolomiten. Alles locker, rutschig und anstrengend. Nach einer Weile wird es noch steiler. Der Signalkopf, ein Vorgipfel des Ortlers, liegt vor uns. Beim Klettern müssen wir jetzt auch die Hände benutzen. Vielleicht 1+. Also nicht schwierig, aber doch ausgesetzt.
Wir erreichen den Gipfel des Signalkopfes, der 3725 Meter hoch ist. Der Blick zu allen Seiten ist eindrucksvoll. Besonders nach Süden hin auf die Gipfel von Monte Cebru und Königspitze. Sie bilden zusammen mit dem Ortler das berühmte Dreigestirn der Ostalpen und sind ebenfalls nicht viel niedriger als dieser. Erschreckend ist allerdings auch an dieser Stelle der Rückgang der Gletscher. Die Hänge des Monte Cebru sind kahl und grau. Kein Firn mehr. Ein trauriger Anblick. Besser sieht da die auch attraktive Königspitze aus. In ihrem konkaven Südosthang zieht sich der Königswandferner hinunter. Aber auch er ist zusammen geschmolzen. Und die einst berühmte „Schaumrolle“ an seinem Gipfel, die auch Kurt Diemberger mit erstdurchstiegen hat, ist längst verschwunden.
Doch mit dem Erreichen dieses Gipfels haben wir ein Problem. Wie geht es weiter? Der folgende Grat ist extrem schmal und ausgesetzt. Er ist bucklig und keinen halben Meter breit. Zur Rechten geht es etwa 1500 Meter hinunter, zur Linken etwa 400 Meter, bevor das Gelände darunter noch einmal 600 Meter steil abbricht.
Also das Seil raus und irgendwie probieren. In ca. acht Meter Entfernung befindet sich eine kleine Scharte. Sie müssten wir zunächst erreichen. Wie es danach weiter geht, können wir nicht erkennen. Während sich Markus ins Seil einbindet, sichere ich ihn an einem Felskopf. Über den Grat selber geht es nicht. Also darunter auf 80 Grad steilem Gelände zu queren versuchen. Es gibt nur wenige Griffe und Tritte. Mit Mühe erreicht Markus die Scharte. Doch von dort ruft er, dass es nicht weiter gehe. Ich bin erleichtert, als er wieder zurück ist und festen Boden unter den Füßen hat. Doch was nun? Wir steigen wieder ein Stück ab. Etwas unterhalb des Gipfels soll es möglich sein, diesen zu umgehen. Wir erkennen jedoch nur extrem steiles Gelände mit rutschigem, losen Schotter, aber keine Pfadspur. Auf diesen gefährlichen, unsicheren Untergrund wollen wir uns auf keinen Fall wagen, zumal die Felsen zum Festhalten, wie alles an diesem Berg, einen lockeren, bröseligen Eindruck machen. Damit ist unsere Ortler-Besteigung an dieser Stelle zu Ende. Wir waren eigentlich sicher, dass wir es schaffen würden. Doch nun sind wir zum zweiten Mal nach 2004 an diesem Berg gescheitert. Er ist wirklich eine harte Nuss, zumindest für uns und wir müssen zugeben, ihn wieder unterschätzt zu haben. So sind wir natürlich ziemlich enttäuscht. Allerdings nicht nur deswegen, weil wir nur 195 Meter unter dem Gipfel aufgeben mussten – schließlich ist auch der Weg das Ziel, sondern auch und vor allem über das Gelände. Heißt es doch in den Bergbüchern, dass der Hintergrat den Normalweg an landschaftlicher Schönheit bei weitem übertreffen soll. Davon jedoch haben wir nichts mitbekommen. Der Fernblick auf die benachbarten Gipfel und andere Alpenbereiche ist zwar ausgesprochen schön. Aber nicht die Landschaft selber, durch die man aufsteigt. Nichts als Schotter und loses Gestein. Nirgends kompakter Fels und fester Untergrund. Alles ist grau und eher hässlich.
Wir werfen noch einen Blick auf den Ortler-Gipfel, auf dem einige Bergsteiger unter einem tiefblauen Himmel stehen, die uns wohl beobachtet haben. Wir beneiden sie schon. Doch dann machen wir uns an den langen Abstieg. Knapp 2000 Meter müssen wir bis nach Sulden hinunter.
Eine Ortlerbesteigung - Beim 3. Versuch klappt es
In der vergangenen Nacht gab es nicht gerade das, was man sich unter einer erholsamen Nachtruhe vorstellt. Ich habe noch schlechter geschlafen als sonst sowieso auf Hütten. Wir lagen also in einem doppelstöckigen Bett im Flur, in dem fast die ganze Nacht das Licht brannte. Nebenan der große Matratzensaal, in dem mindestens 20 Leute lagen. Zunächst ging einer nach dem anderen an uns vorbei ins Bett. Danach musste jeder mindestens einmal in der Nacht aufs Klo, das sich zwei Etagen tiefer befindet. Auch das wäre noch zu ertragen gewesen, würden nicht die Treppendielen schlimmer knarren, als die auf einem uralten, vom Sturm gebeutelten Piratenschiff, das die Weltmeere durchkreuzt. Immerhin war ich froh darüber, dass wir nicht mit den anderen im großen Saal liegen mussten. Haben wir das Geschnarche so doch nur von weitem gehört. Ganze Wälder werden in einer solchen Nacht abgeholzt. Zumindest gefühlsmäßig habe ich fast überhaupt nicht geschlafen. Aber das alles ist völlig unwichtig, wenn man etwas so Großartiges vorhat, und das lässt mich auch solch eine Nacht locker ertragen. Auch der Schlaf fehlt am folgenden Tag nicht, ist doch der Körper vollgepumpt mit Adrenalin, und man ist hellwach.
Schon vor dem Wecken um vier Uhr sind wir mit anderen im jetzt dunklen Flur auf den Beinen. Nach dem Anstehen am einzigen Klo schälen wir uns im Licht der Kopflampen in unsere Montur: Sitzgurte, Karabiner, Helme, Handschuhe, Gamaschen, Teleskopstöcker und mehr. An alles Mögliche muss gedacht werden. Noch ein paar Happen reingestopft, dann geht es in die sternenklare Nacht hinaus. Endlich! Hier kann man wenigstens außerhalb des engen Hüttenrummels wieder durchatmen.
Wir schließen uns dem Ende eines aufgelockerten Konvois von etwa 20 Bergsteigern an, der sich jedoch schnell auseinanderzieht, so dass nur noch kleine, vereinzelte Gruppen übrigbleiben. Das ist ungewöhnlich für uns, sind wir doch sonst meistens die ersten. Doch das hat Vor- und Nachteile. Man fühlt sich in einem solchen Fall allein in der riesigen Landschaft und ist im Stillen auf irgendeine Art eins mit der Natur. Nachteil: da man den Weg nicht kennt, kann man sich in der Dunkelheit leicht versteigen. Schon häufiger haben wir auf diese Weise in der Finsternis mit größerem Zeitaufwand den richtigen Weg suchen müssen. Doch nun haben wir immer die tanzenden, wegweisenden Lichtkegel der Kopflampen vor uns im Blickfeld.
Sogleich wird das Gelände schwierig. Zunächst queren wir auf schmaler Spur einen extrem steilen und tiefen Schotterhang. Vor zwei Jahren bei unserem ersten Versuch am Ortler sind wir ihn schon, damals auf glattem Schneeuntergrund und mit weichen Knien, gegangen. Heute ist es leichter. Doch muss man jeden Schritt konzentriert gehen. Die Tiefe können wir allerdings nicht ausmachen. Sie wird von der Schwärze der Nacht verschluckt. Ein psychologischer Vorteil.
Wo unsere Tour vor zwei Jahren endete, geht es nun, nicht wie wir damals dachten, in eine Schlucht hinunter, sondern mit leichter Kletterei auf die Tabarettaspitze hinauf. Schwieriger hingegen wird von dieser der Abstieg. Etwa 20 Meter müssen wir im 2. Grad hinunter, um dann erneut einen Gegenhang zu einem Felskopf hinauf zu erklimmen. Auf meist festem Gestein folgen wir weiter dem Tabarettagrat. An den abgewetzten, speckigen Stellen der Felsen kann man den Wegverlauf meistens gut erkennen. Gefährlich kann es hier allerdings bei einem Wettersturz werden. So erging es vor einigen Jahren auch einem Bergführer mit seiner Seilschaft. Der jetzt vermeintlich leicht zu findende Weg ist dann unter einer Schneeschicht nicht mehr erkennbar. Tragischerweise stürzte die gesamte Seilschaft in den Tod. Doch ähnliches müssen wir heute nicht befürchten. Das Wetter wird an diesem Tag stabil sein und sich von seiner besten Seite zeigen.
Inzwischen hat die Dämmerung eingesetzt. So langsam wird es hell, und wir können den Wegverlauf besser erkennen. Doch noch leuchten die hellsten Sterne. Und ganz besonders die Venus, die am Osthimmel wie ein Diamant auf schwarzem Samt funkelt.
Auf dem schwierigen Gelände kommen wir langsam, aber doch stetig voran. Erst jetzt können wir erkennen, wie ausgesetzt unser Weg ist und wie viele hundert Meter es in die Tiefe geht. Trittsicherheit und Schwindelfreiheit sind ein Muss auf dieser Tour.
Wir steigen in eine Scharte ab und erreichen damit den Fuß des Wandels, im Volksmund auch Weiberschreck genannt. Auf diese Passage sind wir ganz besonders gespannt, soll es doch die Schlüsselstelle der gesamten Tour sein. Dabei handelt es sich um eine nicht ganz senkrechte 80 Meter hohe Felswand. Sie stellt sich jedoch als relativ einfach heraus, ist sie doch von oben bis unten mit Eisenketten versichert, an denen man sich festhalten oder auch sichern kann. Nur bei Vereisung würde das Wandl ein Problem darstellen.
Wir folgen weiter dem Grat. Mal in leichterer Kletterei, mal in schwierigerer. Doch meistens ausgesetzt mit ungeheuren Tiefblicken. Diesen Weg müssen wir auch wieder zurück. Da schaudert es mir schon ein wenig. Aber irgendwie werden wir es schon schaffen.
Schließlich erreichen wir nach ca. eineinhalb Stunden das Ende des Grates. Auch hier stockt uns wieder der Atem. Wir blicken auf einen extremen Steilhang, über den auf losem Schotter eine mehr als nur schmale Trittspur führt, die an einigen Stellen vom Starkregen, der bis zum gestrigen frühen Abend angehalten hat, fortgespült wurde. Tief geht es hinunter. Noch weiter unten folgt steiler Firn, bevor dieser in einen Abbruch übergeht. An ein Stolpern mag man auf dieser Passage gar nicht denken.
Vor uns sitzen diverse Bergsteiger auf den letzten Felsen und schnallen sich ihre Steigeisen unter. Auch wir sind nach einer Stärkung für diesen Abschnitt bereit. Es geht jedoch besser als erwartet. Aber jeder einzelne Schritt muss konzentriert gestiegen werden.
Wir erreichen das Bärenloch, eine kleine Gletschermulde und haben wieder sicheren Boden unter den Füßen. Damit haben wir vorerst den Fels hinter uns gelassen. Es geht über ein zunächst sanftes, später steiler werdendes Firnfeld, bis wir eine erneute Felswand erreichen. Mühselig ersteigen wir sie im 2. Grad mit Steigeisen, um dann in ihrer Mitte festzustellen, dass es doch lohnt, diese abzuschnallen. Über dem Lombardi Biwak, einer kleinen Notunterkunft, erreichen wir am Tschierfeck eine Höhe von 3316 Meter. Damit sind wir schon drei Stunden unterwegs und haben doch erst 300 Meter an Höhe gewonnen. Das ist ungewöhnlich und alles andere als viel, schafft man doch sonst eine solche Höhe locker in einer Stunde. Auch von der Payer-Hütte bis zum Gipfel sind es „nur“ 900 Meter, machen wir doch bei anderen Touren oft mehr als 2000 Höhenmeter am Tag. Doch bei dieser Bergtour hat es der Weg in sich, ist er doch anspruchsvoller und schwieriger als alles, was wir bisher je gemacht haben.
Nach Pause und Picknick kann es mit gestärkten Kräften weitergehen. Zunächst durch einen kurzen, zerfurchten Gletscherabschnitt – die wenigen engen Spalten auf unserer Spur stellen kein Problem dar -, dann wird es steil. Und wie steil es wird! Wieder müssen wir schlucken. In diversen Kehren führt die schmale, ausgetretene Pfadspur nach oben. Schnell gewinnen wir dabei an Höhe. Der Rückblick ist schwindelerregend. Auch da müssen wir später im durch die höher stehende Sonne dann aufgeweichten Firn wieder hinunter. Es graut mir schon jetzt davor.
Die restlichen 300 Höhenmeter bis zum Gipfel stellen dann kein technisches Problem mehr dar. Über den weiten Firn des leicht geneigten Orlerplatts geht es hinauf. Es ist nur noch eine Frage der Kondition, und die ist jetzt gefordert. Seit dem Lombardi-Biwak macht sich die große Höhe bemerkbar. In knapp 4000 Meter ist die Luft entsprechend dünn. Schritt für Schritt geht es nur langsam vorwärts. Ab und zu ein kurzer Halt und tief durchschnaufen. Die Lunge lechzt förmlich nach Luft, und der Herzschlag rast und muss sich beruhigen. Einige wenige Bergsteiger ziehen an uns vorbei. Andere kommen uns schon vom Gipfel zurück entgegen. Wir überstürzen jedoch nichts und lassen uns Zeit, liegen wir doch in dieser voll im Plan.
Die Natur ist natürlich eine Freude. Die Sonne strahlt inzwischen von einem tiefblauen Himmel. Millionen von Eiskristallen glitzern auf dem Firn im Gegenlicht. Die Sicht wird immer großartiger. Schon längst haben wir die Berninagruppe mit dem Biancograt im Blickfeld. Auch dort ist das Wetter, wie zu jeder anderen Richtung auch, ausgesprochen schön. Nach Osten hin erkennen wir neben vielen anderen Gipfeln den Kesselkogel im Rosengarten und die Rosengartenspitze. In nördlicher Richtung liegt tief unten der blaue Reschensee, in dessen Fluten ein Kirchturm steht. Rechts daneben die gesamten Ötztaler Alpen. Deren höchste Berge, Wildspitze und Weißkugel, können wir allerdings nicht einordnen.
Die letzten Meter sind sehr anstrengend, aber wir müssen uns nicht quälen. Nach sechsstündigem Aufstieg stehen wir um ziemlich genau 10 Uhr auf dem Gipfel und haben damit eine Höhe von 3905 Metern erreicht. Die Welt liegt uns zu Füßen. In weitem Umkreis ist kein Berg höher, und wir befinden uns auf dem höchsten Alpengipfel östlich der Schweiz. Einzig und allein Piz Bernina und Piz Palü im Westen überragen uns in 50 Kilometer Entfernung, allerdings nicht allzu viel. Nun haben wir es tatsächlich beim dritten Anlauf geschafft. Doch freuen können wir uns trotzdem nicht so richtig. Müssen wir doch an den langen Abstieg denken, der uns mit dem schwierigen Gelände und den gleichzeitig schwindelerregenden Tiefblicken – psychologisch gegenüber dem Aufstieg ein Nachteil – noch mehr fordern wird. So gut es eben geht, versuchen wir diesen Moment zu würdigen. Picknick unterm Gipfelkreuz auf ausgesetztem Felsvorsprung.
In Blickrichtung schauen wir auf die benachbarten Gipfel des Dreigestirns. Gleich nebenan der Monte Cebru. Er bietet einen trostlosen Anblick. Seine Hänge sind grau und kahl. Keine Spur mehr vom einstigen Firn. Imposanter, auch der Form wegen, ist die anschließende Königspitze. Nur knapp 50 Meter niedriger als der Ortler, zieht sich von ihrem abgerundeten Gipfel immerhin noch ein Schneefeld hinunter. Sieht attraktiv aus und wäre auch eine Besteigung wert. Links daneben und im Hintergrund erheben sich Cevedale und Zufallspitze. Sie sind auch immerhin über 3700 Meter hoch, weisen aber flachere Bergflanken auf, so dass sich die Gletscher bis zu den Gipfelgraten hinaufziehen. Dadurch sind sie vergleichbar mit den vergletscherten Bergriesen der Westalpen. Weiter rechts sehen wir Adamello und Presanella. Und ganz nah direkt vor und unter uns blicken wir auf den Hintergrat, der uns vor einer Woche so geärgert hat. Es ist ein Katzensprung bis zum Signalkopf, der für uns Endstation war. Doch das Gelände von dort bis hier herauf zum Gipfel hat es scheinbar in sich. Der Grat sieht extrem schmal, zerklüftet und schwierig aus. Ich zweifele daran, ob wir ihn bei Umgehung des Siganlkopfes geschafft hätten. Doch das spielt nun keine Rolle mehr. Wir haben den Ortler auf anderem Weg bestiegen, und der ist nach unserer Auffassung landschaftlich viel reizvoller und abwechslungsreicher als der des Hintergrates. Auch jetzt können wir nicht verstehen, dass dieser in Bergbüchern wegen seiner landschaftlichen Schönheit so angepriesen wird, besteht er doch hauptsächlich aus Schotter, kleineren Firnfeldern und brüchigem Fels. Erst das letzte Stück scheint wirklich interessant zu sein.
Nach einer halben Stunde machen wir uns an den Abstieg. Über den noch flachen Firn geht es wunderbar leicht, wie von selbst. Doch dann das atemberaubende Steilstück. Ganz vorsichtig tasten wir uns hinunter. Nur nicht ausrutschen. So ganz sicher bin ich im Gegensatz zu Markus nicht. Aber es klappt gut. Erstmal durchatmen, hatte ich doch gerade vor dieser rutschigen Abstiegspassage einen ordentlichen Respekt.
Wir erreichen die Felsen des Tschierfecks. Kleine Pause und Steigeisen abgelegt. Waren wir auf dem Steilstück über uns soeben noch allein, so kommt nun eine große Gruppe herunter. Einer der Bergsteiger hat ziemliche Probleme. Nur ganz langsam bewegt er sich wie im Zeitlupentempo nach unten. Ich mag kaum hingucken, muss ich doch an den Montblanc im vorigen Jahr denken, als ein Bergsteiger vor unseren Augen Hunderte Meter tief abgestürzt war. Doch alles geht gut.
Wenig später sind wir in der Felswand. An der Schlüsselstelle staut es sich. Die vier Stuttgarter, die wir am Vorabend auf der Hütte kennengelernt haben und denen wir immer wieder begegnet sind, stellen uns freundlicherweise ihr zum Abseilen schon eingehängtes Seil zur Verfügung. Wieder unten ist es nicht einfach, auf steilem Firnhang die Steigeisen wieder anzulegen. Aber es geht alles besser und leichter als erwartet. Den Hang können wir fast hinunter laufen. Schließlich die Senke am Bärenloch. Noch einmal voll konzentrieren. Doch auch die schmale Spur auf steilstem Schotterhang bringen wir gut hinter uns. Damit haben wir wieder festen Boden unter den Stiefelsohlen. Der lange folgende Grat wird von kompaktem Fels gebildet. Doch auch dort müssen wir jederzeit aufpassen, ist das Gelände doch teilweise sehr ausgesetzt. An einer Schlüsselstelle ist ein Stau entstanden. Der Felsabsatz ist zwar nur wenige Meter tief, aber gefährlich. Die Gruppe vor uns spannt ein Seil. Auch wir dürfen es nach einer halben Stunde Wartezeit benutzen. Ohne den Stau und mit Eigensicherung wären wir allerdings in wenigen Minuten unten gewesen. Noch mehr Geduld brauchen die vielen uns Nachfolgenden. Wartezeit an dieser Stelle sicherlich über eine Stunde.
Der Rest des Grates bildet keine Probleme mehr. Zwar wird ständig geklettert, speziell am Wandl. Aber alles geht gut. Gegen Mittag erreichen wir die Payerhütte, von der wir in der Nacht aufgebrochen sind. Jetzt können wir so richtig aufatmen, haben wir doch den anspruchsvollsten Teil des Abstieges hinter uns gebracht.
Der Rest ist ein Kinderspiel. Zwar noch lang, aber einfach. Den Grat bis zur Bärenscharte und den Abstieg zur Tabaretta-Hütte. Hinter ihr erreichen wir die saftig, grünen Almwiesen. Nun muss eine längere Pause sein. Unsere durchgeschwitzten Sachen breiten wir auf dem Gras aus. Auch die Füße brauchen frische Luft, und die Steigeisen müssen getrocknet werden. Während wir ein Mittagsschläfchen machen, grasen hinter uns einige Schafe seelenruhig am Hang.
Während die anderen Bergsteiger auf die Seilbahnstation zusteuern, legen wir das letzte Wegstück des über 2000 Meter tiefen Abstiegs natürlich, das ist für uns Ehrensache, auf unseren Stiefelsohlen zurück. Am Nachmittag sind wir wieder unten in Sulden.
Es war eine großartige Tour, die mit Abstand vom technischen her schwerste und anspruchsvollste, die wir je gemacht haben. Ich denke allerdings, dass ich so etwas nicht wieder haben muss. Für mich soll eine Bergtour Spaß und Freude machen. Doch auf dieser war es anders. Durch die schwierigen Fels- und Firnpassagen und die Ausgesetztheit der Wegstrecke waren wir fast immer angespannt. Oberhalb der Payer-Hütte, und das ca. 10 Stunden lang, war ständige Konzentration erforderlich. Absturzgelände fast überall. Für mich kann und soll es auf Bergtouren ruhig mal spannend und aufregend sein. Nicht aber so, dass man darauf hofft, dass nichts passieren wird. Es war eine neue Erfahrung, aber ich muss sie nicht wieder haben.
(Das war damals meine Einstellung. Doch natürlich blieb es nicht dabei. In jedem Jahr wurden die Touren anspruchsvoller. Man sammelt eben Erfahrungen und gewinnt dadurch immer mehr an Sicherheit. So kann man die Schwierigkeiten nach und nach steigern.)
Fünf Jahre später erneut am Hintergrat
Nun wollen wir es also doch noch einmal versuchen. Fast alle Gipfel, bis eben auf den Ortler und auch den Montblanc, die wir uns bisher vorgenommen hatten, haben wir beim ersten Versuch bestiegen. Und nun, nachdem wir inzwischen auch diverse Viertausender erklommen haben, sollte auch der Hintergrat kein Problem mehr darstellen.
Wir wollen das Unternehmen über zwei Tage ausdehnen. Von Sulden aus wollen wir an der Hintergrat-Hütte vorbei zum Oberen Knott aufsteigen, dort in 3450 Meter Höhe biwakieren und die restlichen 450 Meter am nächsten Morgen zum Gipfel aufsteigen. Runter soll es dann über den Normalweg gehen.
Das Wetter ist heute so einigermaßen in Ordnung. Ein Mix aus blauem Himmel und Wolken. Am Nachmittag oder Abend soll es mal einen Regenschauer geben können. Aber wir denken, dass wir das überstehen werden, und morgen am Mittwoch, und nur morgen, soll das Wetter ideal werden. Also kann es losgehen.
Wir starten am Mittag von der Ortsmitte. Da wir wegen der Biwaksachen relativ schweres Gepäck haben, wollen wir uns die Sache etwas vereinfachen, was wir in früheren Jahren kategorisch abgelehnt hätten. Wir wollen den Lift benutzen. Der erspart uns 500 Höhenmeter. Und den Ehrgeiz, den Berg unbedingt aus eigener Kraft zu schaffen, haben wir inzwischen abgelegt. Wir wissen, dass wir es könnten, und das reicht aus. Wenn es nicht unbedingt sein muss, müssen wir uns nicht mehr quälen.
Durch Lärchenwald und über grüne Wiesen schaukeln wir gemächlich hinauf, den Geräuschpegel des Tales schnell hinter uns lassend. Wunderbar, diese Stille und Friedlichkeit in der Natur. Von der Station haben wir bis zur Hintergrat-Hütte noch ein gutes Stück zu laufen, etwa eineinhalb Stunden und 330 Höhenmeter. Dann erreichen wir dieses erste Etappenziel, von dem wir damals nachts gestartet waren. Und dann geht’s gleich so richtig los. Zunächst noch über Wiesen, das Ziel im Blick. Und was für ein Ziel ist das. Wild türmt sich das Felsmassiv 800 Meter über uns auf. Dort wollen wir zur höchsten Stelle hinauf. Dort oben liegt unser Übernachtungsplatz.
Nach dem Grün wird das Gelände unangenehm. Aber wir kennen das ja. Zunächst ein rutschiger Steilhang, dann erreichen wir das erste Geröllfeld. Sehr hoch ist es, und auch steil. Stoisch stapfen wir durch das lose Gestein hinauf. Aber wir fühlen uns gut dabei. Wir waren gespannt darauf, wie wir es meistern würden, konnten wir doch nicht so richtig einordnen, wie fit wie wirklich sind. Aber es läuft gut und wir merken schnell, dass wir eine recht gute Kondition haben. Nach langer, steiler Schotterstrecke die erste brüchige Felsstufe. Die ist schnell überwunden, ist sie doch vielleicht nur etwa 70 Meter hoch. Danach das zweite Geröllfeld, das nur halb so groß, aber immer noch groß genug ist. Als wir uns den oberen Felsen nähern, fängt es leicht an zu hageln. Wir nehmen das noch nicht ernst, behindert es uns doch nicht weiter. Wir ziehen die Kapuzen über den Helm. Doch der Hagel wird stärker. Trotzdem steigen wir in den brüchigen Fels ein, denn jetzt aufzugeben wäre eine Schande. Oft schon haben wir in den letzten Jahren gesagt, dass wir manchmal viel zu leicht kapituliert haben. Zum Beispiel zweimal am Le Tour, oder auch damals hier am Signalkopf. Natürlich ist es leicht, sich so etwas zu Hause in der sicheren Stube vorzunehmen. Wenn man vor Ort mit einer schwierigen Situation konfrontiert wird und die Verhältnisse widrig sind, dann sieht das ganz anders aus. Trotzdem wollen wir in Zukunft nicht mehr so leicht aufgeben. Außerdem wäre an dieser Stelle auch der Rückweg zu tief. 600 Meter müssten wir absteigen, um auf flacherem Gelände im Liegen biwakieren zu können. Nach oben hin sind es nur noch 200 Meter. So wollen wir natürlich zum Oberen Knott hinauf, von dem uns nicht allzu schwierige Felskletterei trennt.
Und zunächst ist die Kletterei auch leicht, und die Pfadspur ist auch gut erkennbar. Doch das ändert sich bald. Überall und nirgends scheint es langzugehen. Damals war das irgendwie einfacher. Schließlich erreichen wir eine Rinne, wo das Gelände schwieriger wird. Und durch den Hagel, der den Berg leicht weiß angehaucht hat, ist es zusätzlich auch glatter geworden.
Als ich an einer heiklen Stelle, wo es tief hinuntergeht, voraus klettere, bricht der Fels, an dem ich mich festhalten will, ab. Doch Markus greift geistesgegenwärtig nach mir und hält mich. Hätte bös enden können. Wir atmen tief durch. Doch das war uns eine Warnung, und wir überlegen nun, wie wir weiter vorgehen wollen. Zwar hat der Hagel aufgehört. Doch der Fels ist glatt, das Gelände steil und rutschig und wir wissen nicht wirklich, wo es weitergeht. Sollen wir absteigen? Doch unter uns liegt die heikle Stelle, auf die ich keine besondere Lust habe. Außerdem sind es nun schon etwa 650 Meter, und nach oben nur noch 150. Und damit wäre die Tour natürlich schon wieder beendet. So schlage ich Markus vor, den Weg irgendwie nach oben zu finden, und er willigt ein. Hätten wir gewusst, wie schwierig es noch werden würde, dann hätten wir uns genau anders herum entschieden. Doch nun liegt die Rinne vor uns. Dort müssen wir durch. Markus drängt darauf, nun das Seil zu benutzen. Erst denke ich, dass wir das Gelände so in Angriff nehmen können. Doch ganz schnell merke ich, wie schwierig es wird und wie Recht Markus hat. Er klettert voraus. Und obwohl er viel sicherer ist als ich, ist es auch für ihn nicht einfach. Dabei haben wir immer den Gedanken im Hinterkopf, dass man an den diversen heiklen Stellen abrutschen könnte. Ein äußerst ungutes Gefühl, das man zu ignorieren versuchen muss.
Doch dann erreichen wir unter viel Mühe schließlich das Ende der Rinne, und das Gelände wird etwas einfacher, obwohl es bei diesen Verhältnissen immer noch schwer genug ist. Die verlorene Pfadspur finden wir auch nicht wieder, und so müssen wir uns weglos durch das wilde und oft stark ausgesetzte Gelände kämpfen. Dabei versuchen wir im brüchigen Fels so vorsichtig wie nur möglich zu klettern. Doch irgendwann schaffen wir es, immer auf der Suche nach dem bestmöglichen Aufstieg, im diffusen Grau der Wolken. Schließlich erreichen wir das Obere Knott und haben damit sicheres Gelände unter den Füßen. Wieder atmen wir tief durch und sind heilfroh, dass es geklappt hat.
Da stehen wir nun hoch oben in 3466 Metern Höhe in der grauen Suppe der Wolkenschicht im Schnee, und es ist alles andere als gemütlich. Auf einer Fläche, die vielleicht so groß ist wie ein Tennisplatz. Und zumindest für diesen Tag ist uns der Rückweg abgeschnitten. Aber der Firn ist so einigermaßen eben, und das ist ja schon mal was. Von einem Schneebuckel können wir noch den Weiterweg zum Signalkopf überblicken. Das aufsteigende Schneefeld auf dem Grat verliert sich im Grau. Werden wir es morgen begehen können? Oder werden wir uns an den Abstieg machen müssen? Alles ist offen. So oder so. Wir haben ein ungutes Gefühl. Durch den Hagel, der sich in Schnee verwandelt hat, sind beide Möglichkeiten im Fels glatt und gefährlich geworden. Und am Siganlkopf müssten wir wahrscheinlich ein schmales Felsband queren. Keine guten Aussichten, auch wenn der Gipfel von dort nur noch 200 Höhenmeter entfernt ist. Aber auch ein Abstieg über das brüchige und oft ausgesetzte Gestein wäre alles andere als einfach. Wie dem auch sei. Nun müssen wir uns erst mal um den Biwakplatz kümmern.
Nach Süden hin befindet sich am Ende des kleinen Schneefeldes ein kleiner, etwa vier Meter langer und einen halben Meter hoher Felsbuckel. Dahinter geht es mehrere hundert Meter hinunter. Damit haben wir zumindest einen kleinen Schutz auf der sonst völlig freien Fläche, und dort wollen wir biwakieren. Dazu graben wir uns noch etwa 20 Zentimeter tief in den Schnee ein. Weiter geht es nicht, da wir im Untergrund auf Fels stoßen. Knapp zwei Meter im Quadrat haben wir so zur Verfügung, und das reicht gerade so aus.
Da es längst angefangen hat dunkel zu werden, machen wir uns ohne Verzögerung für die Nacht fertig. So schnell wie möglich rein in die Schlafsäcke. Dazu die Biwaksäcke rausgekramt, die Schlafmatten und Schlafsäcke, die Klettergurte abgelegt, das Halbseil geordnet, die Steigeisen abgeschnallt, die Gamaschen, die äußeren Kleidungsschichten, die Stiefel aus und unter der Regenschutzplane des Rucksacks verstaut. Und dann können wir in das wohlige Gefühl der Schlafsäcke hineinkriechen. Bis das alles fertig ist, braucht es allerdings seine Zeit. Doch dann liegen wir endlich drin und fühlen uns besser. Allerdings immer die ungemütlichen Gedanken im Hintergrund, wie es denn morgen weitergehen soll. Wir wissen zwar, dass das Wetter morgen schön werden soll. Doch werden die Felsen dann besser begehbar sein? Schließlich werden es diverse Minusgrade sein. Unsere Hoffnung ist die Sonne, dass diese die Felsen trocknen wird.
Nun liegen wir also halbwegs gemütlich und erst mal in Sicherheit in unserem Nachtlager. Doch so richtig gemütlich soll es dann doch nicht werden. Wir haben unsere Biwaksacköffnungen, mit dem offenen Kopfende vom Wind weggedreht, hingelegt. Doch der Wind ändert bald die Richtung. Es kommt wieder zu leichtem Schneefall, und zusätzlich fegen die Böen den aufgewirbelten Schnee in den Biwaksack. Markus ist lange am Kämpfen. In kurzen Abständen muss er immer wieder den eindringenden Schnee von seinem Kopfende schütteln. Bei mir ist es so, dass mein Biwaksack für meine Schlafmatte zu kurz ist, etwa 20 Zentimeter. Dadurch ist meine Kopföffnung noch größer. Ich mache mich etwas krumm und ziehe den Sack so weit wie möglich über meinen Kopf. Dazu habe ich mir eine Mütze aufgesetzt und die Kapuze des Schlafsacks einigermaßen zuziehen können. Doch schon nach kurzer Zeit haben sich an dieser Eiskristalle festgesetzt, und auch meine Mütze ist von außen bald mit festgefrorenem Schnee bedeckt. Doch an der Innenseite ist sie warm und trocken, und nur allein das zählt.
So liegen wir dann lange da, kämpfen bei ca. minus 10 Grad, ständigen Schneeböen und wechselnden Windrichtungen mit den Unbilden der Natur. Ich habe mich mit der Situation abgefunden und bin nur froh, dass ich so liegen kann, auch wenn ich mit den Händen immer den Biwaksack am Kopfende zusammenhalten muss, damit nicht zu viel Schnee eindringt. Und Markus höre ich ständig den Schnee von seinem Sack schütteln.
Irgendwann reicht es ihm und er fragt mich, ob wir uns nicht um 180 Grad drehen wollen. Doch dazu habe ich keinerlei Ambitionen, wäre das doch mit ungeheurem Energie- und organisatorischem Aufwand verbunden. Wir müssten raus aus den Schlaf- und Biwacksäcken, Stiefel an und alles drehen. Und das im eisigen Schneetreiben. Aber er findet eine andere Lösung. Er kann die Biwaksacköffnung zur Seite verlagern und hat damit einigermaßen Ruhe.
So dämmern wir fast die ganze Nacht, die nicht enden will, vor uns hin. Natürlich schlafen wir auch mal ein. Doch gefühlt sind wir fast die ganze Nacht über wach. Dazu kommen dann die Gedanken um den Weiterweg. Und die sind in völliger Dunkelheit alles andere als gemütlich. Egal ob hoch oder runter. Es graut mir davor. Der Aufstieg war schon schwierig genug. Doch der Abstieg würde diesen wahrscheinlich an Schwierigkeit übertreffen. Und dabei immer die Tiefe vor Augen. Natürlich kommen mir dann im Halbschlaf auch solche Gedanken, ob alles gut gehen wird, oder ob es vielleicht unsere oder zumindest meine letzte Nacht sein wird. Solche und ähnliche Gedankengänge kommen automatisch, wenn man sich in einer solch unangenehmen Situation befindet, die Nacht lang ist und man die meiste Zeit wach oder halbwach daliegt. Doch auch wenn die Stunden dahinschleichen und nicht vergehen wollen, irgendwann geht jede Nacht vorbei.
Es ist schon hell geworden, als wir wach werden und Stimmen vernehmen. Wir stecken unseren Kopf aus Schlaf- und Biwaksack raus. Nur wenige Meter von uns entfernt hat sich eine Gruppe Bergsteiger gelagert. Wir sind erleichtert, denn natürlich ist das ein gutes Zeichen. Sie werden sich wohl gewundert haben, dass wir in dieser Höhe biwakieren.
Natürlich große Erleichterung bei uns. Doch nach dem Ortlergipfel steht uns nun nicht mehr der Sinn. Die Gruppe, und auch die wenigen anderen, die noch kommen, sind mit Bergführer unterwegs. Sie kennen den schmalen Sims über den Signalkopf und wissen ihn zu Begehen. Wir könnten zwar ihren Spuren folgen. Doch scheint uns das zu gefährlich. Also bereiten wir uns, ohne lange zu überlegen, für den Abstieg vor.
Es ist ein Kampf mit sich selbst und mit der Natur, sich unter diesen Umständen bei diversen Minusgraden und unangenehm kalten Windböen fertig zu machen. Jeder Handgriff ist für mich mit einer Willensanstrengung verbunden. Die beiden windschützenden Jacken an. Den Klettergurt angelegt. In die kalten Stiefel hinein. Alles zu ordnen, was am Vorabend im Rucksack durcheinandergekommen ist. Einzelne Teile zu suchen. Den Schlafsack, den Biwaksack und die Isomatte einzurollen und zu verstauen. Die Steigeisen mit den vereisten Schnallen zu ordnen, anzulegen und festzuzurren. Die Seilordnung herzustellen. Den Rucksack einzupacken. Noch etwas Essbares reinzwängen. Und alles das mit steifgefrorenen Händen im eisigen Wind, der alles noch viel schwieriger macht. Wenn die Dinge auch sonst schon ihre Zeit brauchen, dann ist es unter diesen Umständen für mich wirklich schwierig.
Doch schließlich sind wir startbereit. Der Abstieg kann beginnen. Und natürlich sind die Gedanken am Tage bei Licht betrachtet viel positiver als in dunkler Nacht. Zumal wir nun im verschneiten Gelände den Aufstiegsspuren der Hochgekommenen folgen können. Trotzdem wird es nicht einfach werden. Doch wir haben jetzt alle Zeit der Welt, da der ganze Tag vor uns liegt und können in dem brüchigen Gelände nun in aller Ruhe, so gut es eben geht, sichern.
Doch wie wir bald im Abstieg feststellen, ist die Sicherung mehr eine moralische. Während ich voraus absteige, sichert mich Markus am Seil. Doch könnte er mich bei einem Sturz halten? In den seltensten Fällen bietet sich die Möglichkeit, das Seil um einen Felsen zu legen. Fast überall sind die Felsen abwärts geschichtet, bröselig und locker. Und wenn er nachsteigt, ist er sowieso ungesichert. Ich könnte ihn wohl kaum halten. Aber Markus ist in einem solchen Gelände viel sicherer unterwegs als ich. Und so kommen wir, wenn auch langsam, stetig voran.
Im Großen und Ganzen klappt es recht gut. Doch immer wieder kommen Kletterstellen, die stark ausgesetzt sind. Die Tiefblicke sind schon schwindelerregend. Doch die Steigeisen geben uns den nötigen Halt. Damit haben wir auch im glatteren Fels Sicherheit.
Ohne die Aufstiegsspuren würden wir diesen richtigen Rückweg nie finden. Und auf irgendeinem im Gewirr der abfallenden Felsen würde es wesentlich schwieriger werden. Sicherlich würden wir auch das schaffen. Doch kann man dann in Sackgassen hineingelangen, muss dann wieder hinauf und es an anderer Stelle versuchen. Warum muss das so schwierig sein, fragen wir uns. Vor fünf Jahren war der Abstieg zwar auch nicht leicht, aber doch überhaupt kein Problem. Aber damals waren die Felsen auch trocken.
Doch schließlich haben wir es geschafft. Wir sind raus aus dem wilden Felsgewirr. 200 schwierige Höhenmeter liegen hinter uns. Wir atmen auf. Doch auch die folgenden 600 Meter sind nicht von Pappe. Zunächst das steile Geröllfeld, auf dem man nicht unbedingt ausrutschen möchte. Danach der nächste Felsriegel, der wesentlich einfacher und relativ schnell überwunden ist. Dann das große, ebenfalls sehr steile Geröllfeld. Doch das alles erscheint uns jetzt fast wie ein Kinderspiel gegenüber dem oberen Felsabschnitt. Trotzdem sind wir heilfroh, als wir nach Stunden endlich wieder unten sind. Nichts ist passiert. Ein einziger Ausrutscher, ein abgebrochener Griff oder sonst irgendwas, kann auf solch einer Tour schlimmste Folgen haben. Doch alles ist gut gegangen.
Da wir nun wieder unten und auf sicherem Gelände sind, sind wir wieder allerbester Laune. Wir haben den Hintergrat wieder nicht geschafft. Aber uns geht es gut, und nur das allein zählt wirklich. Doch so gefährlich die ganze Situation auch war. Auch wenn wir kein zweites Mal eine solche erleben möchten, so war es andererseits eben doch Abenteuer pur. Und wenn man das alles unbeschadet überstanden hat, so ist es doch mehr als eindrucksvoll, so etwas einmal erlebt zu haben. Es sind Eindrücke, die man zwar nicht haben muss, die man aber nicht vergisst, und man erfährt, dass man mit Situationen zurechtkommen kann und muss, die äußerst schwierig sein können. Das macht einen natürlich auch stärker.
Der Abstieg ist einfach nur schön. Noch eine kurze Picknickpause an der Hintergrat-Hütte, dann die letzten 600 Meter durch Wiesen- und Steingelände hinunter. Eindrucksvoll ist die Landschaft weiter unten. Der mächtige Wasserfall des Suldenbachs rauscht wild schäumend durch einen Kamin. Und zum Abschluss noch ein gutes Stück leicht abfallendes Geländes durch idyllische locker bewaldete Wiesenlandschaft nach Sulden zurück.
Was ein kurzer Regenschauer, vom Wetterbericht angekündigt, im Hochgebirge für Auswirkungen haben kann, das haben wir auf dieser Bergtour erfahren. Wäre er eine Stunde später gekommen, wäre alles kein Problem gewesen, wären wir doch dann oben im zwar ungemütlichen, aber doch sicheren Gelände gewesen. Aber das kann man sich nun mal leider nicht aussuchen. Ein Wunschkonzert ist etwas anderes. Und so haben wir daraus gelernt, dass wir dem Wetter bei zukünftigen Touren noch mehr Beachtung schenken und es ernster nehmen müssen. Doch wenn man auch noch so vorsichtig ist, kann es trotzdem passieren, dass man in eine solche oder auch andere nicht ungefährliche Situation hineingerät. Sei es nun durch Steinschlag, Eisbruch, Spaltensturz oder eigene Unachtsamkeit, durch die die meisten Bergunfälle geschehen. Doch sollte man das Bergsteigen deswegen sein lassen? Natürlich nicht, dazu ist es viel zu schön. Und auch eine Fahrt mit dem Auto kann gefährlich sein, und man würde nie auf die Idee kommen, den Wagen stehen zu lassen. Risiken gibt es überall, und sie gehören zum Leben dazu. Und derjenige, der alle Risiken meiden will, der hat nie gelebt.
Siehe auch:
Biwakieren am Mer de Glace - Unterwegs am drittgrößten Alpengletscher
Atemberaubend - Der Rochefort-Grat im Montblanc-Gebiet
Eine Überschreitung des Piz Palü - Auf den Spuren von Luis Trenker und Leni Riefenstahl
Bürgerreporter:in:Kurt Wolter aus Hannover-Bemerode-Kirchrode-Wülferode |
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