Eine touristisch wenig bekannte Region Spaniens - die Aragonesischen Pyrenäen
Für mich war allein schon die Anreise ein Abenteuer. Sobald die Pyrenäen begannen, jene 430 Kilometer lange, teils vergletscherte Gebirgskette, die sich zwischen dem atlantischen Golf von Biscaya im Westen und dem mittelmeerischen Golf de Roses im Osten erstreckt und Frankreich und ganz Nordeuropa von der Iberischen Halbinsel trennt, verwandelte sich die zuvor breite Fahrbahn in eine schmale, äußerst kurvenreiche Straße, übersät mit Gefahrenschildern: Vorsicht Hirschsprung, Vorsicht Steinschlag, Vorsicht Rutschgefahr, Vorsicht Kühe, Achtung 40, Vorsicht Fußgänger… und der Fahrer des Minibusses rast und überholt, rast weiter, überholt - in stockdunkler Nacht.
Am nächsten Morgen zeigt sich die Natur in ihrer wahren Größe. Bizarre weiße Gipfel von fast 200 Dreitausendern krönen Benasque, eine Stadt in der spanischen Provinz Huesca, die wiederum mit den Provinzen Saragossa und Teruel zum ehemaligen Königreich Aragón gehört. Aragón, zu deutsch Aragonien, grenzt im Norden auf dem Hauptkamm der Pyrenäen an Frankreich, im Osten an Katalonien, im Südosten an Valencia und im Westen an Kastilien-La Mancha, Kastilien-León, La Rioja sowie Navarra. Die Hauptstadt ist Saragossa.
Benasque liegt tausend Meter hoch und glänzt durch einen mittelalterlichen Kern und hochherrschaftliche Herrenhäuser des Adels aus dem 19. Jahrhundert wie etwa der Palast der Grafen von Ribagorza, die Casa Marcial del Río, die Casa Juste, die Casa Faure. Alle Gebäude sind aus Feldsteinen errichtet. Das einzige Vier-Sterne-Hotel nennt sich nach dem höchsten Berg, dem Aneto, der 3.404 Meter erreicht. In der ganzen Gegend findet man romanische Bauten und die für die Pyrenäen typischen Berghütten.
Eine Serpentinenstraße führt bis zum Skizentrum von Cerler, von dem aus man dank der Lifte 72 Kilometer Pisten aller Schwierigkeitsgrade befahren kann. Sollte Frau Holle noch nicht tüchtig sein, hält das Skihasen nicht davon ab, eine kurze weiße Piste an der Skistation Cerler immer wieder abzufahren. Besser als gar nichts, mögen sie denken.
Auf der Strecke überraschen vereiste Wasserfälle und immer wieder anhaltende Autos. Warum halten die an ein und derselben Stelle an, fragt man sich. Nun, das Bild eines Trinkwasserhahns zeigt an: Hier gibt es frisches Quellwasser. Und in der Tat ragen drei Rohre aus dem Fels, aus denen sich leicht die eigene Wasserflasche füllen lässt.
Was aber macht diese Region so besonders auch zu anderen Jahreszeiten? „Bitte kommen Sie nicht im August“, weiß ein Tourismusexperte der Region, „im August haben Spanier und Franzosen Ferien, und alle, alle reisen zu uns.“ „Zu uns“ bedeutet in diesem Fall: in den Naturpark Posets-Maladeta. 1994 zum Naturschutzgebiet erklärt, zeichnet sich das Naturreservat in den nord-östlichen Aragonesischen Pyrenäen durch die höchsten Granitberge der Iberischen Halbinsel aus, nämlich die Gebirgsmassive Posets (3.369 m) und Maladeta (3.308 m), durch dichte Nadelwälder und eine seltene Flora und Fauna. Viele der hier lebenden Tiere und Pflanzen sind endemisch, also einzig in Europa. Innerhalb des Naturparks gibt es noch 13 Gletscher mit einer Fläche von 350 Hektar, während die Gesamtoberfläche des Parks 33.257 Hektar beträgt. Die Jahrtausende andauernde Eiszeit hat die Landschaft geprägt und viele große und kleine Seen, 95 an der Zahl, bizarr geformte Felsformationen, enge Schluchten und hohe, oft von Wasserfällen überflutete Steilwände hinterlassen, ein intaktes Ökosystem.
Wer auf seiner Tour weiße Tütchen an den Pinien hängen sieht, sollte sich nicht wundern. Hier haben sich die Prozessionsspinner eingenistet, deren Raupen auf die Verwandlung in Schmetterlinge harren. Auch das ist Natur. Im Ort Benasque klärt ein Info-Center mit Filmen und Objekten auf, bevor man zu einer Wanderung oder zum Trekking aufbricht.
Zur Region Benasque gehört aber auch das auf 1.750 Meter liegende Hotel „Hospital de Benasque“, von dem aus man, vorausgesetzt Frau Holle schüttelt fleißig die Betten, außer Langlauf und Alpinski auch Schneeschuh-Wanderungen machen kann. Das „Hospital“, wie der Name sagt, ein ehemaliges Krankenhaus, beschäftigt sich in einer Ausstellung mit der Geschichte der Region und lässt Besucher staunen beim Anblick der Holzschnitzereien, die ein Kolumbianer gefertigt hat. Da reckt sich ein Menschenkopf aus einem Schneckenhaus, da guckt ein Fuß aus einer Hose, die ein Baumstamm ist, da entdeckt man eine Geburt, da reitet ein Teufel auf einer Schlange, und da treibt es ein Mönch mit einem Kardinal - ganz versteckt an einer völlig mit Schnitzwerk bedeckten Säule. Bei soviel Frivolität heißt es gucken und noch einmal gucken.
Die vielen Stauseen in der Region Benasque sorgen nicht nur für reichlich Wasser, sie werden auch touristisch genutzt. Einige haben einen Badestrand, andere öffnet man zum Raften, Kanufahren und Brückenspringen. Selbst einen 18-Loch-Golfplatz kann man stolz herzeigen.
Die Dörfer der Region sind wie Benasque und Cerler alle gleichermaßen typisch für die Pyrenäen mit engen Gassen und alten schönen Naturstein-Gebäuden. Einige liegen trutzig wie eine Festung, dennoch anmutig auf Felsvorsprüngen und sind schon von weitem zu sehen.
Das romanische Dorf Roda de Isábena thront auf einer solchen Erhebung über dem Fluss Isábena und ist der kleinste Ort Spaniens, der über eine eigene Kathedrale verfügt - und die ist von bemerkenswerten Ausmaßen und mit Fresken reich verziert. Sie datiert aus dem XI. Jahrhundert, lediglich der Portalvorbau kam in der Frührenaissance hinzu. Das Kirchenportal ist im maurischen Mudejar-Stil gehalten. Im Inneren fällt das Chorgestühl aus Walnussholz auf, die barocke Orgel von 1653 mit 1700 Pfeifen, von denen einige - sehr selten - herausstehen und Trompeten genannt werden. Einzigartig in Spanien ist die aus dem 14. Jahrhundert stammende Krypta im lombardisch-romanischen Stil, also italienisch.
Das Dorf hat nur 20 hier gebürtige Einwohner und 15 Zugereiste, aber zwei Kneipen. Wenn der Bischof predigt, finden sich immerhin 15 bis 18 Menschen in der Kathedrale ein.
Was die Region ebenfalls besonders macht, ist ihre Gastronomie. Dass Spanien für gute Küche steht, wissen Gourmets. In den Aragonesischen Pyrenäen jedoch sind auch Gourmands, also Vielfraße willkommen, die auf gutes Essen nicht verzichten möchten. Das beginnt schon mit einem üppigen Frühstück. Im Hotel Ciria in Benasque etwa darf man getrüffelte Spiegeleier auf Pommes frites bestellen. Eine merkwürdige Zusammenstellung, aber die Trüffeleier schmecken perfekt. Im übrigen Spanien kenne ich es so, dass verschiedene typische Vorspeisen-Tapas wie Jamón Iberico, Manchego-Käse, Salami, warme Kleinigkeiten wie gefüllte Kroketten für alle auf den Tisch gestellt werden, und jeder nimmt sich ein, zwei, drei Scheibchen oder Löffelchen. In der Region Benasque aber erhält jeder Gast von jeder Vorspeise einen Teller für sich, und da kommen leicht fünf bis sieben Teller zustande. Das sollte man wissen, denn danach wird ja noch das Hauptgericht serviert, vom Dessert ganz zu schweigen.
Da wird zum rohen Schinken von Aragón geröstetes Weißbrot gereicht, auf dem man eine Knoblauchzehe zerreibt, dann Olivenöl darauf träufelt und mit Salz bestreut. Steinpilze mit Gänseleber, Boretschgemüse mit Kabeljau-Bäckchen und Granatapfel-Kernen, kleine gegrillte Pulpos, panierter Schinkenspeck, warme Foie gras von der Ente, Steinpilze mit Gänseleber, Kroketten mit Fisch, Pilzen, Schinken oder Käse gefüllt, Spanferkel, Zicklein, Rinderfilet, grüner Spargel und als Dessert Crema Catalana, eine locker flockige Karamellspeise namens Candymousse und ein luftiger Schaum mit Bitterorange-Stücken und -Sauce namens Käsekuchen sind nur einige der Spezialitäten. Und zu allem trinkt man, bevorzugt man nicht das spanische Bier, den aus den Westpyrenäen rührenden Somontano „Flor de Merlot“.
Klar, dass der Magen nach dem Viele-Gänge-Menü einen Anisado, Pacharan oder Moscatel braucht. Letzteren trinkt man, so man es schafft, gleich aus der dazu gefertigten Karaffe. Die Spanier machen das Kunststück vor und verschütten nichts. Que aproveche! Guten Appetit!
Bürgerreporter:in:Elke Backert aus Hamburg |
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