9. Ein kleines Wunder in Ladakh
Unsere Arbeit in Ladakh konfrontiert uns sehr oft mit schwer unheilbar kranken Kindern, denen wir bestenfalls bei der Verbesserung der Lebensqualität und der körperlichen Gesundheit beistehen dürfen, aber den Eltern keine komplette Heilung ihres Kindes in Aussicht stellen können.
Deswegen freuen wir uns über jeden Fortschritt in einer Therapie. Ganz besonders berührt uns die Geschichte eines jungen Mönchs, für den es keine Hoffnung gab.
Tarchin lebt in Sheyok, einem entlegenen, malerisch schönen Dorf. Als wir ihn 2005 zum ersten Mal aufsuchten, war er 29 Jahre alt. Nach einem Unfall 2001 mit dem Motor-Skooter lag er mit schwerer Hirnblutung zuerst im Krankenhaus, dann wurde er als Pflegefall nach Hause geschickt. Dort verbrachte er 4 Jahre lang in einer dunklen Ecke seines Hauses am Boden liegend, unfähig sich zu bewegen und zu sprechen. Seine Eltern, einfache Bauern, versorgten so gut sie konnten, seine Mutter brachte ihn auf ihrem Rücken mehrere Male täglich aus dem Haus zur Toilette. Der Vater litt sehr unter diesem Schicksalsschlag und nutzte immer öfters den Weg über den Alkohol zum Ausstieg aus dem Leid.
Vor seinem Unfall war Tarchin ein wichtiger Mönch. Direkt dem Rinpoche des Klosters unterstellt, übte er eine privilegierte Stellung aus. Rinpoche ist ein Ehrentitel für einen buddhistischen Lama, der häufig ein bewusst inkarnierter Lamas ist.
In Bewegungs- und Handlungsunfähigkeit gefangen, vegetierte er gelähmt und krank, ohne Aussicht auf Hilfe, auf seinem dunklen Platz vor sich hin.
Wie die deutschen Therapeuten von Ladakh-Hilfe 2005 auf ihn aufmerksam wurden, kann niemand mehr nachvollziehen. Aber auf einmal waren sie da und kümmerten sich um ihn. Sie zeigten ihm Übungen, brachten ihm Therapiematerial, gaben ihm Stift und Papier und ermutigten ihn zu Sprechübungen. Als im Sommer 2006 wieder Therapeuten von Ladakh-Hilfe kamen, konnten sie an Hand des Befundes erkennen, dass Tarchin schon große Fortschritte gemacht hatte und hoch motiviert war. Wenn auch zittrig, konnte er seine Hände wieder bewegen. Das Sprechen hatte Fortschritte gemacht. Aber das Problem mit der Toilette bestand immer noch. Seine alte, kleine Mutter musste ihn immer noch nach draußen tragen. Die Ärmel wurden hochgekrempelt und Tarchin lernte schweißtreibende Kriechübungen. Er wurde aufgerichtet und mit Bändern an einen Pfosten im Haus gebunden. Zum ersten Mal seit Jahren konnte er in der das verlorene Körpergefühl in der Aufrichtung wieder herstellen und die Welt so sehen, wie er sie liebte. Stehübungen weckten die kleine Glut der Hoffnung, endlich wieder einmal gehen zu können. Nach drei Tagen Therapie konnte der Mönch wieder seine buddhistischen Mantras singen und ein paar Schritte mit viel Hilfe gehen.
Da Sheyok in einem sehr abgelegenen Tal liegt, war es den Therapeuten leider nur bedingt möglich, diesen Patienten regelmäßig zu betreuen. Durch lange Gesprächen mit dem Dorfbürgermeister und den Eltern versuchten sie, vorübergehend einen Heimplatz in Leh für Tarchin zu organisieren, um ihm eine kontinuierliche Therapie zu gewährleisten, was leider nicht gelang. Dieses Unternehmen scheiterte an den komplizierten Strukturen, mit denen Ladakh-Hilfe immer wieder zu kämpfen hat. Es gibt einfach niemand, der zuständig ist, und kein Heim, das solch schwer behinderte Menschen aufnehmen würde.
Das Schicksal dieses jungen, bemerkenswerten Menschen stimmte die Therapeuten sehr traurig und sie verabschieden sich mit gemischten Gefühlen: Traurigkeit über die schwierige Ausgangssituation, aber dennoch Hoffnung bei dem unglaublichen Optimismus und der Motivation des Patienten.
2007 im Februar kamen sie wieder. Im ganzen Ort und auch im Haus des Mönchs herrscht eine ruhige und friedvolle Atmosphäre. Niemand der Familie wusste, dass die Physios heute ankommen und auch gleich zwei Nächte ihre Gastfreundschaft in Anspruch nehmen würden. Da es keine Telefonanschlüsse im Ort gibt, konnten sie ihre Pläne auch nie mitteilen. Trotz des Überraschungsbesuches wurden die Therapeuten empfangen, als ob sie schon lange erwartet worden wären. Sie brachten Nüsse, Trockenfrüchte, Zwiebeln und Karotten mit, um wenigstens etwas zu ihrer Verpflegung beitragen zu können. Für Konchok Tarchin besorgten sie einen roten Pullover, da die Mönche immer diese Farbe tragen. Die Mutter serviert ihnen sogleich Chai (Süsser Tee mit Milch) und Brot.
Nach der ersten Stärkung starteten sie sofort mit der ersten Therapiesitzung. Die Unterlagen und Befunde der Therapeuten werden immer weitergegeben an die Nachfolger, also war die Gruppe über Tarchins Probleme bestens informiert. Und jetzt waren sie wirklich erstaunt über die Fortschritte. Die Sensibilität in den rechten Extremitäten hatte sich weiter verbessert und er verspürte auch etwas Schmerzen im rechten Arm, was ein gutes Zeichen sein könnte.
Tarchin brauchte zwischen den Kräftigungs- und Koordinationsübungen der Beine immer wieder eine kurze Pause. Seine Konzentrationsfähigkeit und -dauer war seit dem Unfall herabgesetzt.
Die Mutter (auch schon über 60 Jahre alt) trug ihn auf ihrem Rücken nach draußen, um ihn zum Klo zu bringen. Die Therapeuten beschlossen, Tarchin nicht zurück zu tragen, sondern mit viel Unterstützung am Becken gehend ins Wohnzimmer zu begleiten. Müde und glücklich saß der Mönch an seinen gewohnten Platz am Fenster des Wohnzimmers.
Eine weitere Therapieeinheit mit dem Theraband wurde gestartet. Diesmal waren Tarchins Rücken-, Schulter- und Armmuskeln gefordert. Sie übten mit ihm auch das Werfen und andere koordinative Fähigkeiten der Hände. Der zweite Teil der Behandlung galt wieder seinen unteren Extremitäten. Das Aufstehen, Stoppen und Absitzen musste noch oft geübt werden.
Mit vollem Bauch begann nach dem Mittagessen erneut das Gehprogramm für unseren Mönch. Die Türschwellen wurden für ihn eine große Herausforderung, die sie jedoch gemeinsam meisterten. Der primitive Übungsstab an der Hofmauer ähnelte einer Ballettstange. Tarchin versuchte sich im Halten des Gleichgewichts und dem Seitwärtslaufen.
Anstelle eines Gehbocks hielt sich der Mönch an einem Stuhl fest. Diesen schob er nach vorne, um ihm sofort wieder zu folgen. Als Alternative zu einem Gehbock oder Rollator klappt dies erstaunlicherweise recht gut. Zurück im Wohnzimmer wiederholten sie die Übungen vom Vortag und dann stand die Abreise bevor, wieder mit schwerem Herzen.
Vielleicht schaffen die Therapeuten und die Motivation des Mönches diesen Sommer, das Wunder zu vervollständigen. Vielleicht kann er bald wieder gehen und sogar – was für ein wilder Traum – seine Tätigkeit im Kloster wieder aufnehmen.
Dann wird in dieser ladakhischen Familie und den jungen deutschen Menschen, die an Tarchins Leben teilhaben konnten, ein Gefühl der Menschlichkeit und Zusammengehörigkeit zurück bleiben, das über alle kulturellen und geographischen Grenzen hinaus für immer bestehen bleiben wird.
Bürgerreporter:in:Karola Wood aus Günzburg |
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