Täterschutz, Mobbing, Keuschheit – Rücksturz ins Mittelalter?
Elisabeth Keller im Gespräch mit Hans Georg van Herste
EK: Guten Morgen, Herr van Herste! Sie sind aber früh auf den Beinen.
vH: Der frühe Vogel fängt den Wurm.
EK: Haben Sie einen Top-Aufreger für uns?
vH: Na ja, Top-Aufreger. Da gibt es wohl mehrere. Vor kurzem habe ich von einer Kampagne fundamentalistischer Christen in Amerika erfahren, die die Mädchenbeschneidung wieder einführen wollen.
EK: Das kann doch nicht sein oder?
vH: Leider doch. Meines Wissens nach wurden sogar Poster mit der Aufschrift „Schützt eure Töchter. Lasst ihnen die Klitoris abschneiden“ oder „Wenn Ihr verhindern wollt, dass eure Töchter hysterisch werden, amputiert ihnen die Klitoris“ aufgehängt. Und was ich im Leben nicht verstehen werde ist, dass viele Frauen hinter dieser Kampagne stehen, weil sie der Ansicht sind, dass es wichtig ist, Mädchen keusch zu halten und sie jungfräulich zu verheiraten. Eine intakte Klitoris würde Mädchen nur zur Masturbation animieren und solche Beschäftigungen seien schließlich Todsünden. Obendrein würde eine Klitoris Frauen von Haushalt und Kindererziehung abhalten und die Feuchtigkeit, die bei sexueller Erregung entsteht, könnte schwerste Krankheiten auf den Mann übertragen. Außerdem würden sowohl Klitoris als auch Schamlippen den Mann beim Zeugungsakt behindern.
EK: Das ist ja Mittelalter pur.
vH: Es gibt einige Menschen auf der Welt, die mutig gegen die Mädchenbeschneidung z. B. in Afrika vorgehen und den einen oder anderen Erfolg verbuchen können. Nun fangen so genannte Christen auf der anderen Seite des Ozeans wieder damit an.
EK: Was heiß, die fangen wieder an?
vH: Weil es die Mädchenbeschneidung bis in die 1950er Jahre hinein auch schon mal in Deutschland, Frankreich, England und den USA gab. Gerade Töchter aus gehobenen Schichten wurden gar nicht mal so selten beschnitten, um der Hysterie, der Schwermut oder der Schwindsucht vorzubeugen. Es gab in der Zeit einige Ärzte, die sich damit ein gutes Zubrot verdienten. Dass Hysterie und andere psychische Störungen eher den sexuellen Kindesmissbrauch zur Ursache haben, wollte natürlich niemand wissen.
EK: Haben sie die oben erwähnten Poster selbst gesehen?
vH: Ja, die kann sich jeder im Internet anschauen.
Ek: Und glauben sie, dass dieser Irrsinn auch nach Europa überschwappt?
vH: Davon bin ich überzeugt. Es gibt ja auch bei uns eine ständig wachsende Zahl fundamentalistischer Christen oder Kreationisten, die die Ansicht vertreten, Evolution hätte nie stattgefunden und Knochenfunde von Dinosauriern seien alles eine Erfindung von ungläubigen Forschern, um die Welt in die Irre zu führen und vom wahren christlichen Weg abzubringen.
EK: Aber was hat denn Mädchenbeschneidung mit christlicher Nächstenliebe zutun?
vH: Nichts. Unsere Schöpferin, oder wie immer wir sie nennen wollen, hat uns doch mit einem Körper ausgestattet und ich kann mir nicht vorstellen, dass z. B. eine Klitoris nur dazu erschaffen worden sein soll, um sie hinterher wieder abzuschneiden. Das ist doch Humbug erster Klasse. Meiner Erfahrung nach sind Frauen, die ihre Sexualität ausleben, die glücklicheren Frauen. Und warum sollten Frauen unglücklich gehalten werden? Aus welchem Grund kommen Menschen auf die Idee, so gravierend in das Selbstbestimmungsrecht der Frauen einzugreifen? Ich denke, da soll eine alte Ordnung beibehalten oder wieder eingeführt werden. Die Frau hat dem Manne zu dienen und alle Arbeiten zu erledigen, zu denen er keine Lust hat. Und diese Ordnung wird durch Frauen, die sich emanzipieren, die selbst über ihr Leben, also auch über ihre Sexualität bestimmen wollen, die nicht mehr Mägde des Mannes sein wollen, empfindlich gestört.
Das Beispiel „Gorch Fock“ sagt doch einiges aus. Offiziersanwärterinnen haben keine Möglichkeit das Schiff zu verlassen und sind den Übergriffen der Männer an Bord mehr oder weniger schutzlos ausgeliefert. Spielen sie nicht mit, werden sie drangsaliert. Beschwerden werden einfach unter den Teppich gekehrt. Daran ist der Status der Frau in unserer Gesellschaft klar abzulesen.
Und wenn ich dann lesen muss, dass uns ein spanischer Bischof ernsthaft einreden will, Lesben und Schwule würden eine Weltrevolution anzetteln wollen; sie hätten die UNO bereits unterwandert und würden dafür sorgen, dass 50% aller Menschen homosexuell würden, fällt mir nichts mehr ein.
EK: In letzter Zeit wird in den Medien viel über Kindesmissbrauchsfälle berichtet. Finden sie, dass die Berichterstattung ausreicht?
vH: Bei Weitem nicht. Anfang 2010 gab es aufgrund der Veröffentlichung der Canisius-Fälle in Berlin einen wahren Run, der aber schnell wieder abflaute. Stephanie zu Guttenberg wird eher nach der Länge ihres Rockes bemessen, als dass ihre Leistungen im Kampf gegen sexuellen Kindesmissbrauch gewürdigt werden. Die aus meiner Sicht hervorragende Sendereihe „Tatort Internet“ wird als Skandal bezeichnet. Die Aufmachung sei zu reißerisch und obendrein würden harmlose Familienväter zu Monstern erklärt. In meinen Augen ist es ein Skandal, dass niemand etwas gegen den sexuellen Kindesmissbrauch tut. Auch in den Medien wird lieber wieder weggesehen. Das Thema ist abgedroschen und die Finanzkrise oder das Dschungel-Camp treten wieder in den Vordergrund.
EK: Haben Sie da eigene Erfahrungen gemacht?
vH: Natürlich. Wie oft habe ich Medienvertreter gebeten, das Thema Missbrauch nicht sterben zu lassen, aber kaum jemand will sich daran die Finger verbrennen. Es gibt eben zu viele Täter – auch in den höchsten Kreisen.
EK: Haben Sie ein konkretes Beispiel?
vH: Neulich bat mich ein Zeitungsmacher, der ab und zu über mich und meine Aktionen berichtet hatte, in sein Büro. Dort war ein zweiter Mann anwesend. Dieser Mann, ein Händler, der in seinem Geschäft Spielzeug und Kleidung für Kinder vertreibt, erklärte mir, dass er viele tausend Euro im Jahr für Werbung ausgeben würde. Seine Schwiegermutter hätte nun einen Bericht von mir über sexuellen Missbrauch neben seiner Werbeanzeige entdeckt und ihm geraten, einmal mit dem Zeitungsmacher darüber zu reden. Ein Bericht über Missbrauch würde die Kunden derart verschrecken, dass sie nach der Lektüre bestimmt weder Kleidung noch Spielzeug bei ihm kaufen würden. Jeder Einwand von mir wurde sofort vom Tisch gewischt. Natürlich sei Kindesmissbrauch eine schlimme Sache, aber er müsse schließlich an sein Geschäft denken. Und so ein Schmuddelthema gehöre nun einmal nicht neben seine Werbung. Zum Schluss kam also heraus, dass der Zeitungsmensch in Zukunft keine Berichte mehr von mir bringen würde. Er stünde zwar voll hinter meinen Aktionen, müsse aber auch darauf achten, keine Werbekunden zu verlieren. Ich denke zwar nicht, dass Kunden aufgrund der Berichte einen anderen Kinderladen aufsuchen würden, aber ich kann nichts gegen das Todschweigen tun.
EK: Ich muss mich immer wieder wundern, was Leute ins Feld führen, um Sie zum Schweigen zu bringen. Kindesmissbrauch als Schmuddelthema zu bezeichnen, finde ich schon sehr daneben.
vH: Der Kreativität sind keine Grenzen gesetzt – und der Feigheit auch nicht. Vor vielen Jahren hielt ich in einer Schule auf Einladung einer Lehrerin einen Vortrag über sexuellen Kindesmissbrauch und dessen Folgen. Schon damals protestierten einige Eltern gegen mich, das Thema und die Lehrerin. Seitdem steht die Lehrerin unter Beobachtung einiger Eltern und der Protest wurde offenbar von Schuljahr zu Schuljahr weitergegeben. Die Lehrerin, selbst Missbrauchsopfer, würde dauernd sexistische Äußerungen von sich geben, wie z. B das Wort „Mohrrübe“. Obendrein sei sie lesbisch und würde daher alle Jungen im Unterricht benachteiligen. Dass nicht nur Mädchen, sondern sogar Jungen diese Vorwürfe bestreiten, wird nicht zur Kenntnis genommen. Obendrein hätte das Thema Missbrauch im Lehrplan nichts zu suchen. Es würde die Kinder nur auf dumme Ideen bringen. Nach Jahren der Intervention ist der Rektor schließlich eingeknickt – er muss an den Ruf seiner Schule denken – und auch Kolleginnen, die lange hinter ihr gestanden hatten, wenden sich inzwischen ab.
EK: Ein Schelm, der Böses dabei denkt.
vH: Stimmt.
EK: Was liegt Ihnen noch am Herzen?
vH: Auch Genitalien müssen von Kindern benannt werden können. Wie soll ein Missbrauchsopfer beschreiben, wo es vom Täter angefasst wurde, wenn es keinen Namen dafür kennt? Wie soll ein Mädchen selbstbewusst werden, wenn ihm eingeredet wird, ihm fehle ein wichtiges Körperteil.
EK: Wie meinen Sie das?
vH: Neulich behandelte ich eine Frau. Sie hatte ihre kleine Tochter mitgebracht. Als die Frau sich ausgezogen hatte, zeigte das Mädchen voller Begeisterung auf den Unterleib der Frau und erklärte mir, dass das die Scheide seiner Mutter sei. Als ich entgegnete, die Scheide sei gar nicht zu sehen. Man könne doch nur die Schamlippen erkennen, schaute mich die Frau böse an.
Das Mädchen plapperte weiter. Es erklärte mir, dass ihr Bruder einen Penis hätte und sie keinen. Daraufhin erklärte ich ihr, dass sie doch dafür eine Klitoris hätte. Plötzlich griff die Frau ein und erklärte mir wiederum, dass Mädchen keine Klitoris, sondern nur eine Scheide hätten. Und auch sie selbst hätte weder Klitoris noch Schamlippen. Alles, was da unten zu sehen sei, hieße Scheide und damit basta.
Diese Begebenheit sagt klar aus, dass Erwachsene und Kinder und Jugendliche in verschiedenen Welten leben. Von Seiten der Eltern muss jedwede Benennung der Genitalien unterbleiben, um die Kinder nicht zu erschrecken. Auf der anderen Seite kommt bei Umfragen heraus, dass schon Zehnjährige sich im Internet Pornos anschauen können, weil die meisten Eltern keine Ahnung haben, mit wem ihre Kinder chatten oder welche Seiten sie besuchen.
Auch die Begeisterung des Mädchens ließ mich aufhorchen. Wieso werden die Genitalien dermaßen prominent wahrgenommen? Es handelt sich dabei um Körperteile, wie Arme oder Beine. Über 50% aller Menschen haben Schamlippen, Klitoris, Vagina und Brüste und alle anderen Menschen Penis und Hoden. Was ist daran so außergewöhnlich? Ich denke, die Aufklärung sollte im heimischen Umfeld des Kindes stattfinden und nicht durch Pornoseiten im Internet. Aber dazu müssten die Eltern Interesse an ihren Kindern zeigen und ihre eigenen Ängste überwinden. Genitalien und die Gefühle, die sie auslösen können, sind doch nichts wofür man sich schämen müsste oder?
EK: Herr van Herste, vielen Dank für das interessante Gespräch.
Bürgerreporter:in:Elisabeth Keller aus Gnarrenburg |
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