Jedes Opfer ist ein Opfer zuviel
Zum Thema „aktuelle Missbrauchsdebatte“ hatte ich die Gelegenheit, mit Hans Georg van Herste zu sprechen, der sich seit vielen Jahrzehnten mit dieser Thematik beschäftigt und Opfern mit Rat und Tat zur Seite steht.
EK Seitdem Anfang des Jahres der sexuelle Missbrauch in kirchlichen Einrichtungen öffentlich gemacht wurde, haben sich viele Opfer gemeldet. Wie stehen Sie dazu?
vH Seit ich Ende der 1970er Jahre den ersten sexuellen Übergriff eines evangelischen Diakons auf ein junges Mädchen öffentlich angesprochen habe, wurde ich durch die Kirchen immer wieder mit Aufmerksamkeit bedacht. Mit teils inqusitorischen Mitteln wurde gegen mich gearbeitet, um mich mundtot oder zumindest unglaubwürdig zu machen. Deshalb hat es mich außerordentlich gefreut, dass diese Machenschaften, die über viele Jahrzehnte – ich würde eher Jahrhunderte sagen – vertuscht oder schlicht abgestritten wurden, ans Tageslicht gehoben, in die Öffentlichkeit geschleudert wurden.
EK Haben sich alle Opfer gemeldet?
vH Nein. Ich denke, dass der größte Teil der Opfer nach wie vor schweigt.
EK Wie kommen Sie darauf?
vH Die Kirchen haben über Jahrhunderte hinweg eine unglaubliche Machtfülle angehäuft und die ist auch heute nicht einfach so wegzuwischen. Mit Hilfe von Drohungen wie z. B. dem Fegefeuer und der Kontrolle der Sexualität wurden die Menschen gefügig gemacht. Die Indoktrination beginnt in meinen Augen schon mit der Taufe. Babys werden so in eine von der Kirche geprägte Gesellschaftsform hineingepresst, ohne sich wehren, ohne eine eigene Meinung entwickeln zu können. Diese Art der Menschenfischerei ist gut durchdacht und hat ihre Pflicht über einen langen Zeitraum hervorragend erfüllt. So gibt es auch heute noch viele Opfer, die Angst haben, gegen Kirchenmitarbeiter auszusagen, ihre Taten anzuprangern. Sie leiden still, da ihnen sehr oft auch im verwandtschaftlichen Umfeld nicht geglaubt wird. Ein Pfarrer, ein Priester ist für viele Menschen auch heute noch eine unantastbare Person.
EK Woher wollen Sie das wissen?
vH Weil mich Personen kontaktet und mir das erzählt haben. Es waren sogar Priester darunter, die sexuelle Übergriffe oder Nötigung erlebt oder davon gehört haben. Es sind Selbstmorde passiert, aber niemand wollte einen Zusammenhang herstellen. Folglich muss die Angst doch sehr groß sein.
EK Meinen Sie das wirklich? Die Medien haben das Thema doch aufgegriffen und mehrfach darüber berichtet.
vH Als im Frühjahr dieses Jahres die Sache hoch kochte, kamen auch die Medien nicht mehr daran vorbei. Zuvor wollte niemand etwas davon wissen. Ich weiß nicht mehr, wie viele Hinweise ich gegeben habe, ohne dass ich überhaupt eine Antwort erhalten hätte. Allerdings scheint das Interesse langsam aber sicher wieder zu erlöschen. Ich habe nicht nur einmal von Medienvertretern gehört, das Thema sei nun ausgiebig behandelt und abgedroschen. Obendrein sitzen immer noch viele Kirchenvertreter in etlichen Gremien der Medien und sehen natürlich zu, dass nicht zuviel berichtet wird. Außerdem können Missbrauchsopfer mit ihren traurigen Geschichten selten gegen die neusten Eskapaden einer Paris Hilton ankommen. Die Welt will Verbrechen dieser Art einfach nicht zur Kenntnis nehmen. Die meisten wollen ihre heile Welt behalten, auch wenn diese nur in ihrem Kopf stattfindet, mit der Realität also absolut nichts zutun hat.
EK Was würden Sie ändern wollen?
vH Ich würde täglich einen Opferbericht auf der Titelseite bringen. Am Tag eins ein Kirchenopfer, am Tag zwei ein Lehreropfer, am Tag drei ein Traineropfer und am vierten Tag ein häusliches Opfer. Am fünften Tag würde ich von vorn beginnen und die Kampagne so lange fortsetzen, bis auch der Letzte begriffen hat, dass wir hier über das am weitesten verbreitete Verbrechen weltweit reden.
Obendrein würde eine weltweite Verbreitung der „Insel-Methode“ oder einer ähnlichen Art und Weise der Aufklärung, Hilfestellung und Prävention durchschlagende Änderungen herbeiführen. Die Opfer brauchen Menschen, die ihnen zuhören, die ihnen glauben. Und diese Menschen dürfen nicht viele Kilometer weit weg residieren, sondern müssen vor Ort anzutreffen sein.
EK Was halten Sie davon, dass Ihre Themen im Schulunterricht besprochen werden sollen?
vH Sehr viel. Damit kann man nicht früh genug beginnen. Ich würde schon – natürlich altersgerecht – im Kindergarten damit anfangen. Immer wieder habe ich von Lehrern gehört, das könne man den Kindern nicht zumuten oder wenn, dann erst in den oberen Klassen. Das ist Blödsinn. Wenn die Kinder vierzehn oder fünfzehn sind, haben die ihren Missbrauch längst hinter sich. Soll etwas bewegt werden, muss so früh wie möglich über diese Themen gesprochen werden.
EK Können Sie das näher erklären?
vH Viele Opfer werden vor ihrem dritten Lebensjahr sexuell missbraucht, manche sogar schon im Säuglingsalter. Auch meine anderen Themen „häusliche Gewalt“ und „Homo- und Transsexualität“ sind für Kinder bereits Thema. Kinder müssen miterleben, wenn die Mutter vom Vater verprügelt wird. Homo- oder transsexuelle Kinder müssen früh lernen, dass sie sich verstellen müssen, um nicht ausgegrenzt zu werden, da diese angeborenen Neigungen in unserer Gesellschaft noch immer nicht akzeptiert werden. Welches Kind möchte gern schon im Kindergarten als schwule Sau oder Tunte bezeichnet werden? Aufklärung tut Not!
EK Aber wer könnte etwas dagegen haben?
vH Na, an erster Stelle wohl die Täter. Kaum ein Vater, der seine Tochter missbraucht, kann Interesse daran haben, dass so ein Thema in der Schule besprochen wird. Ich selbst habe einmal einen Vortrag zu dem Thema in einer Schule gehalten. Während die Lehrerinnen und Schüler ganz angetan waren, wurde anschließend von Seiten einiger Eltern gegen mich intrigiert. Man zeigte mich z. B. wegen unerlaubter Heilbehandlung an. Die Geschichte verlief dann zwar im Sande, da nichts dran war, sorgte allerdings nachhaltig für negativen Gesprächsstoff. Neulich erzählte mir eine Lehrerin, dass eine Elternkonferenz einberufen worden sei, um sie als Klassenlehrerin abzusetzen. Von 25 Elternpaaren hatten 17 unterschrieben. Als sie der Sache auf den Grund ging, kam heraus, dass drei Väter dahinter steckten und die anderen unterschrieben hatten, ohne zu wissen, was genau. Man hatte ihr vorgeworfen, sie würde dauernd von ihrem selbst erlebten Missbrauch erzählen und die Kinder damit verunsichern. Da diese Geschichte sich als unwahr erwies, wurden Dinge ins Feld geführt, die wohl eher lächerlich klingen. Man warf ihr vor, sie würde in der Schule Röcke und Kleider tragen und das wäre aufreizend. Die Frau ist über sechzig und läuft wohl kaum im Minirock herum. Obendrein würde sie die Mädchen vorziehen, da sie selbst lesbisch sei. Da frage ich mich doch, warum suchen gerade drei Väter solche Blödsinnigkeiten zusammen, um eine Klassenlehrerin abzusetzen? Ein Schelm, der Böses dabei denkt…
EK Was halten Sie vom „Runden Tisch“?
vH Der „Runde Tisch“ ist ein guter Anfang. Allerdings wird hauptsächlich über Opfer gesprochen, anstatt mit ihnen.
EK Na ja, immerhin gibt es jetzt eine Werbekampagne.
vH Die Kampagne ist gut, reicht aber noch lange nicht aus. Viele Opfer, die ich kenne, zweifeln an der Wahrhaftigkeit dieser Kampagne. Will man Opfern wirklich helfen oder soll ihnen nur vorgespiegelt werden, man würde etwas tun, ohne dass im Endeffekt wirklich etwas passiert. Den Beteuerungen einiger Politiker und Kirchenvertreter stehen die meisten Betroffenen mit großer Skepsis gegenüber. Ich gehöre auch dazu. Dafür habe ich aus dieser Richtung schon viel zu viel Schaumschlägerei erleben müssen. Wie oft wurde uns Aufklärung versprochen? Und in Wirklichkeit ließ man die Thematik schnell wieder versickern. Vieles wurde ausgesessen. Lasst uns mal ein paar Monate warten, dann denkt niemand mehr daran. Ich hoffe, dass es diesmal nicht in eine ähnliche Richtung läuft.
EK Nun hat Stephanie zu Guttenberg, die mithilfe des Vereins „Innocence in Danger” (Unschuld in Gefahr) gegen Kinderpornographie vorgeht, das Buch „Schaut nicht weg!“ geschrieben. Wie stehen Sie dazu?
vH Super!
EK Ärgert es Sie nicht, dass dieses Buch überall angepriesen, besprochen und gelobt wird und Ihre Bücher eher nicht so im Medieninteresse stehen?
vH Warum sollte mich das ärgern? Es geht doch nicht um Konkurrenz. Frau zu Guttenberg und ich stehen auf derselben Seite. Sie ist adlig und mit einem Bundesminister verheiratet. So ist doch klar, dass sie die Öffentlichkeit auf sich zieht. Ich will doch keine Ein-Mann-Show veranstalten. Es geht um die Sache und nicht um meine Eitelkeit. Immerhin sind meine Bücher von vielen Menschen gelesen worden. Sie kann gern in der Öffentlichkeit stehen und für unsere Sache werben, während ich mehr an der Basis beschäftigt bin. Ich sehe das eher als Arbeitsteilung an.
EK Finden Sie, dass Frau zu Guttenberg ihre Sache gut macht?
vH Ja. Sie nimmt kein Blatt vor den Mund und sagt, was Sache ist. Sie hat kein Problem damit, sich mit der Täterlobby anzulegen. Ich finde die Frau Spitze. Leider musste ich in letzter Zeit ein übles Phänomen beobachten, was auch vor Frau zu Guttenberg nicht Halt macht. Einige Medienvertreter stellten ihr Aussehen, ihre Kleidung klar in den Vordergrund. Ist es nicht völlig egal, ob sie im Minirock oder im Hosenanzug auftritt? Geht es diesen Leuten wirklich um das Thema Kindesmissbrauch? Ich habe manchmal meine Zweifel.
EK Aufgrund der Zahlen, die Frau zu Guttenberg nennt, wird Ihnen nun Panikmache vorgeworfen.
vH Eine Organisation sagt, jedes 5. Mädchen wird sexuell missbraucht, eine jedes 7. und Frau zu Guttenberg ist der Ansicht, jedes 9. Mädchen wäre Opfer. Ich stehe nach wie vor zu meinen Zahlen. Jedes 3. Mädchen ist betroffen. Allerdings denke ich, dass diese Zahlenspiele gern dazu verwandt werden, um vom Kern der Thematik abzulenken. Selbst wenn nur jedes 100. oder 1000. Mädchen betroffen wäre, wäre das noch lange kein Grund, die Sache auf die leichte Schulter zu nehmen. Jedes Opfer ist ein Opfer zuviel.
Buchtipp
Hans Georg van Herste
Das Borderline-Syndrom
ISBN: 9783837095593
108 Seiten
9,80 Euro
Der Autor erklärt anhand von Beispielen die Auswirkungen des sexuellen Missbrauchs auf Opfer und Gesellschaft.
Bürgerreporter:in:Elisabeth Keller aus Gnarrenburg |
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