Der Angriff

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Neues aus Narrenberge
von
Margaretha Main

Gestern war ich mal wieder am Ort des Geschehens, also in Narrenberge. Gespenstische Ruhe überall. Alle Läden sind zu. Alle Läden? Nein, ein kleiner Laden für Gummitiere stemmt sich mit aller Macht gegen den Lockdown.
Die Inhaberin ist der festen Überzeugung, dass es zum großen Kindersterben kommen würde, würde man Kindern Gummitiere vorenthalten. Womit sollten sie denn kuscheln, die Kleinen? Mit den Eltern, die gerade vor dem Fernseher verblöden? Mit den großen Geschwistern, die gerade im Internet verblöden? Mit dem Opa, der ihnen gern mal unter den Rock fasst, oder mit der Oma, die von Demenz geschüttelt, ständig die lustigen Kriegsspiele eines Herrn Hitler zu Gehör bringt?
Nein, nein, das lässt Frau Gummitoy nicht zu, niemals! Bei ihr gibt es rund um die Uhr kleine und große Gummitiere zum Liebhaben, zum Kuscheln und für die eine oder andere Frau auch zum Sehr-Liebhaben. Na, ihr wisst schon, was ich meine, nä?
Na ja, wie dem auch sei, jedenfalls lässt sich Frau Gummitoy das Verkaufen von Gummitieren, welcher Art auch immer, nicht verbieten, nicht vom Außenminister, nicht vom Gesundheitsminister und schon gar nicht von Einrenk, dem Bürgermeister.
Ihr Laden befindet sich in einem alten Gemäuer in der Innenstadt und verfügt über sechs Außentüren. Kommt also Einrenk mit seiner Schlägertruppe und verbietet ihr den Verkauf, in dem er eine Tür dichtmacht, lässt sie die Kundinnen eben zur anderen Tür herein. Alle Türen, das hat sie gerichtlich klären lassen, darf Einrenk ihr nicht zumachen. Ein solches Vorgehen würde man dann als Freiheitsberaubung werten und an solche Paragrafen traut sich selbst Einrenk nicht heran.
Und was hat Einrenk nicht schon alles versucht? Er hat Wachtposten rund ums Haus aufgestellt, was eine Kundin, die etwas auf sich hält, natürlich nicht abhalten kann. Er hat Stacheldraht ums Haus legen lassen. Der wurde flugs eines Nachts und bei Nacht und Nebel säuberlich zerschnitten und vor Einrenks Haus platziert.
Er hat Schilder mit der Aufschrift „Deutsche! Wehrt Euch! Kauft nicht bei Gummitoy!“ aufstellen lassen. Bisher hat nichts wirklich gefruchtet. Nein, ganz im Gegentum konnte Frau Gummitoy sogar einen radikalen Umsatzzuwachs erzielen, da viele – besonders erwachsene – Frauen Angst davor hatten, dass sie auf ihren kleinen Liebling verzichten müssen. Damit ist klar klargeworden, dass Mut dabei helfen kann, Gummitiere zu verkaufen.

Ein paar Häuser weiter, im Altenheim, läuft Omma Mumm zur Hochform auf. Sie ist nie wirklich Hausfrau gewesen, fuhr lieber mit ihrem alten Wehrmachtsgespann, einer Zündapp 600, durch die Moorwiesen. Sie hatte natürlich geheiratet, ihren Willi aber nie rangelassen. Selbst ist die Frau!. Ja, das war stets ihre Devise gewesen. Nachdem ihr Willi, mit dem sie viele glückliche Jahre verbracht hatte, das Zeitliche gesegnet hatte, hatte sie ihr Haus teuer verscherbelt und sich in eine Altenwohnung eingekauft. Seitdem residiert sie im obersten, also dem dritten Stockwerk, da sie es stets liebte, den Überblick zu behalten. Sie hatte schon vor dem Einzug geahnt, dass das Obenwohnen Vorteile haben konnte. Nun wusste sie, welche Vorteile gemeint waren.
Vor drei Tagen hatten sich merkwürdige Dinge im Heim abgespielt. Eines Morgens, sie hatte gerade die neusten alternativen Nachrichten im Internet gelesen, waren drei Polizeibusse auf den Innenhof gefahren. Polizisten mit Helm und Schild waren herausgesprungen und hatten sich mit lautem Getöse zu einer Angriffsformation aufgestellt. Der Krach war dermaßen ohrenbetäubend, dass alle Bewohner ihre Traumlandschaften auf der Stelle verlassen hatten, um zum Fenster zu stürmen und zu sichten, was da vor sich geht.
Nach mehreren lauten, aber völlig unverständlich gebrüllten Befehlen, stürmten die Männer und Frauen ins Heim. Währen Omma Mumm kein Wort verstanden hatte, musste die Meute offensichtlich alles kapiert haben. Kaum waren die letzten Behelmten im Eingang verschwunden, war lautes Getrappel und Geschrei im Heim zu hören.
Die Uniformierten waren die Treppen hinaufgestürmt und hatten sich in den Fluren verteilt. Alle Türen wurden aufgerissen und die Bewohner mit Androhung von Schlägen mit dem Gummiknüppel – der übrigens nicht von Frau Gummitoy stammte – auf die Flure hinausgetrieben.
Während alle alten Damen und Herren, vor Angst schreiend, ihre Zimmer verließen, ließ sich Omma Mumm nicht aus der Ruhe bringen. Das ohrenbetäubende Hämmern an ihrer Tür ignoriert sie erst einmal. Sie hatte sich vor ein paar Jahren, als immer mal wieder demente Herren in ihrem Zimmer aufgetaucht waren, nachts heimlich von ihrem Exnachbarn eine Metallschutztür mit Holzverkleidung einbauen lassen. Diese Tür sah zwar aus wie eine ganz normale Zimmertür, war aber durch ihre Metallfüllung uneinnehmbar. Sollten dies Blödis doch hämmern und schreien. Solange die Irren nicht durch die Wand kamen, konnte ihr nichts passieren.
Ja, vor drei Wochen waren Zettel im Heim verteilt worden. Darauf stand zu lesen, dass eine Impfung gegen Corona kurz bevorstand. Alle sollten den Zettel – am besten ungelesen – unten unterschreiben. Omma Mumm hatte sich derweil nicht aus der Fassung bringen lassen und den Zettel gelesen. Die Impfung, stand da, sei notwendig, um sie vor dem bösen Corona-Virus zu schützen und das alles völlig ohne Nebenwirkungen. Man hätte das Zeug lange getestet und alles wäre nur zu ihrem Besten.
Omma Mumm war in schallendes Gelächter ausgebrochen. War sie blöd oder was? Nein, sie hatte sich natürlich im Internet schlaugemacht und wusste daher, dass schon viele Geimpfte kurz nach der Impfung unter grausamsten Qualen verreckt waren oder zumindest schwere dauerhafte Nebenwirkungen davongetragen hatten. Nein, in ihren Körper kam das Zeug ganz bestimmt nicht hinein. Sollten die anderen Alten doch gern jubelnd in den Tod rennen, sie jedenfalls niemals.
Na, endlich, da war er ja. Omma Mumm blickte aus dem Fenster. Ihr Exnachbar, den sie per SMS angefordert hatte, hatte sich vor das Heim geschlichen und streckte ihr eine Strickleiter entgegen. Omma Mumm öffnete das Fenster und ließ die Angelschnur, die sie für Notfälle in ihrer Nachtischschublade aufbewahrt hatte, herunter. Schon war die Leiter an der Schnur befestigt und noch schoner heraufgezogen. Aus Gründen der Vorsicht hatte sich Omma Mumm an mehreren Stellen im Zimmer stabile Metallhaken anbringen lassen. Nun hakte sie die Strickleiter ein, schwang sich gekonnt über das Fensterbrett und hangelte sich noch gekonnter dem rettenden Erdboden entgegen.
Während ihr Exnachbar heimfuhr, trottete Omma Mumm völlig teilnahmslos ums Haus, steppte federnd die Stufen hinauf, durchschritt die Eingangshalle und nahm noch teilnahmsloser im Restaurant Platz. Nach dem ausgiebigen Frühstück holte sie sich die Tageszeitung, überblätterte die täglichen Coronalügen und hangelte sich durch die Todesanzeigen und das Horoskop, also die einzigen verlässlichen Teile der Zeitung.
Jetzt hatte sie die Muße, um die letzten Wochen noch einmal Revue passieren zu lassen. Von achtzig Bewohnern hatten einundzwanzig mitgeteilt, dass sie nicht vorhätten, sich impfen zu lassen. Daraufhin waren alle anderen geimpft worden. Elf waren nach wenigen Minuten gestorben. Gut dreißig litten noch heute unter schweren Nebenwirkungen, wie Zittern, Sehstörungen, Schwindel oder Fieber. Die Heimleitung hatte herumgebrüllt. Nicht, dass sie die Todesfälle oder Nebenwirkungen betrauert hätte, nein, sie hatte herumgebrüllt, weil sich so viele geweigert hatten. Der hauseigene Arzt und Impfer hätte ganz klar festgestellt, dass weder Todesfälle noch Nebenwirkungen auf die Impfung zurückzuführen seien. Manchmal sei das im Altenheim eben so, dass gehäuft Leute starben.
Um sich also von renitenten Alten nicht unterkriegen zu lassen – wo kämen wir denn dahin? –, hatte sie die Polizei um Hilfe gebeten. Und die war natürlich gern gekommen. Maskenverweigerer oder alte Menschen zu verhaften oder zu drangsalieren war natürlich wesentlich einfacher als Verbrecher zu fangen. Aufgrund des so aufgebauten Angstszenarios hatten sich vor Schreck alle Restlichen impfen lassen. Heute hatte man Nägel mit Köpfen gemacht und die Polizei gleich geholt. Warum? Heute gab es die zweite Impfung und während Omma Mumm noch im Restaurant hinter ihrer Zeitung saß, wurden schon die ersten Leichen die Treppen hinuntergeschleppt. Von oben war das Krachen zu hören, dass der Rammbock verursachte. Sie blieb völlig entspannt. Ihre Tür würde auch den dritten Weltkrieg überstehen.
Nach Frühstück und Zeitung macht sie sich auf den Weg. Da alle voller Aufregung durch das Haus flattern, nimmt von Omma Mumm niemand Notiz. In aller Seelenruhe umschlendert sie das Altenheim, setzt den ersten Fuß auf die Sprosse und entert flink ihr Zimmerfenster. Drinnen hat sich natürlich nichts verändert. Die Rammbockstöße dringen gedämpft an ihr Ohr. Sie zieht in aller Ruhe die Strickleiter ein und setzt sich in ihren Ohrensessel. Ehe sie noch den Fernseher einschalten kann, ist sie auch schon eingenickt.
Als sie wieder zu sich kommt, ist es Nachmittag geworden. Das Rumsen hat nachgelassen. Die Helden schienen ermattet zu sein. Als sie aus dem Fenster blickt, erkennt sie, dass ein Feuerwehrwagen vorgefahren ist. Emsige Männer und Frauen versuchen, die Drehleiter auszufahren und in die Nähe ihres Zimmerfensters zu bringen. Da mehrere alte Bäume im Wege stehen, ist das nicht möglich und die Feuerwehrleute schicken sich an, die Bäume zu fällen. Nun kommt die Nachbarin ins Spiel und droht mit Anzeige, sollte es jemand wagen, die altehrwürdigen Bäume zu fällen. Also wird dieses Unternehmen abgebrochen.
Kaum zehn Minuten später steigt eine Drohne auf und kreist vor ihrem Fenster. Omma Mumm geht ins Badezimmer, ergreift ein Handtuch, hält es unter den Wasserhahn und wringt es etwas aus. Die richtige Feuchtigkeitsmenge ist jetzt entscheidend. Zufrieden mit dem Ergebnis trottet sie zum Fenster zurück, reißt es blitzschnell auf und lässt das nasse Handtuch wie eine Peitsche nach draußen knallen. Gleich mit dem ersten Peitschenschlag trifft sie die Drohne, die aufgrund der Schlagenergie sofort in mehrere Teile zersplittert und winselnd in die Tiefe stürzt. Diese Aktion wird mit wildem Wutgeschrei von unten quittiert, was Omma Mumm lächelnd zur Kenntnis nimmt. Sie hat als Krankenschwester im zweiten Weltkrieg gedient – und das an vorderster Front. Was könnte sie da noch erschüttern? Eine Drohne ganz bestimmt nicht. Mehrmals ist sie Kanonenkugeln ausgewichen oder wilden Mörsergrananten. Das wird sie sich vor so einem Spielzeug bestimmt nicht fürchten.
Erst am folgenden Morgen haben die Impfer eingesehen, dass bei Omma Mumm nichts zu holen ist, und ziehen ab.
Jetzt erst öffnet sie die Flurtür und macht einen kleinen Rundgang durchs Haus. Da alle Masken tragen müssen und sie obendrein ihre blonde Perücke aufgesetzt hat, wird sie von niemandem erkannt. Sie schaut kurz bei Omma Wichtig vorbei, die seit ihrer Impfung durch den Bürgermeister schwer zu kämpfen hat. Sie redet nicht nur nach wie vor dummes Zeug, sondern hat seit einiger Zeit auch ein unkontrollierbares wildes Zucken im Gesicht, das sich enorm verstärkt, wenn man den Namen Einrenk in ihrer Gegenwart ausspricht.

Tja, das waren mal wieder die neusten Nachrichten aus Narrenberge. Viele Grüße sendet Euch, meine lieben Leserinnen und Leser, eure Margaretha Main.

Wer mehr von meinen Berichten aus Narrenberge lesen möchte, dem empfehle ich, auf Facebook nachzuschauen oder meine Bücher zu lesen.
„Die Angst geht um in Narrenberge“ und „Festtagsschmaus in Narrenberge“ und natürlich alle anderen meiner Bücher auch, sorgen dafür, dass arme Frauen unterstützt werden und was zu lachen haben.

Bürgerreporter:in:

Elisabeth Keller aus Gnarrenburg

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