Die Bilanz

Die Bilanz
aus der Reihe
Neues aus Narrenberge
von
Margaretha Main

Heimlich, still und leise habe ich mich, getarnt mit brauner Perücke und Maske, noch einmal nach Narrenberge hineingetraut, um mit Überlebenden zu sprechen, um der Welt zu zeigen, nein, besser, vor Augen zu führen, was passiert, wenn nicht mehr Gehirne regieren, sondern Armmuskeln und schierer Unsinn.

Kurz und gut, Teile von Narrenberge liegen in Schutt und Asche. 56 Gebäude sind total zerstört, über 100 schwer beschädigt und kaum noch zum Wohnen geeignet. Mehrere Gasexplosionen haben dieses Chaos angerichtet. Einrenks schwarze Sheriffs haben ganz Arbeit geleistet und aus Spaß Gashähne aufgedreht, um sich am Feuerwerk zu erfreuen.
Obendrein wurden 564 Frauen und Mädchen vergewaltigt, wovon 28 anschließend aufgrund der zugefügten Verletzungen starben. 122 Männer wurden aufgehängt, erschossen oder zu Tode geprügelt, da sie sich den schwarzen Horden in den Weg stellten oder anderweitig zur Wehr setzten.
Seit gestern wurden sie nicht mehr gesehen. Man munkelt, Pluto hätte sie heim ins Reich geholt, um ihnen eventuelle Konsequenzen zu ersparen.

Obwohl von der Seite keine Gefahr mehr droht, sind die meisten Einwohner dermaßen verschreckt, manche sogar extrem traumatisiert, dass sich kaum jemand auf die Straße traut. Die Proteste für und wider Einrenk sind erlahmt oder ganz eingeschlafen. Der Terror hat sicht- und spürbare Spuren hinterlassen.

Menschen mit der Lungenkrankheit COPD behaftet oder einfach nur vom Heuschnupfen Geplagte wurden unter Androhung von Gewalt aus ihren Häusern geholt und in die umliegenden Kliniken eingeliefert. Dort stand bereits ein ganzes Arsenal an Ärzten und Pflegekräften bereit, um diese Menschen zu narkotisieren und zu beatmen. Dabei starben gleich zu Anfang fünf Personen, da der wachhabende Arzt sich selbst mehr als genug aus dem Drogenschrank bedient hatte und somit die Blutsättigungswerte von CO2 und Sauerstoff verwechselte. Dieser kleine Fehler führte allerdings nicht zur sofortigen Suspendierung des Arztes, sondern zu dessen Belobigung, da nun wieder Beatmungsplätze für die nächsten Heuschnupfengepeinigten bereitstanden.

21 Mütter aus Narrenberge mussten in die Psychiatrie eingeliefert werden, da sie sich während der Quarantänezeit selbst um ihre nicht erzogenen Kinder kümmern mussten. 37 Erzieherinnen erholten sich sichtbar vom ganz normalen Kita-Alltag.

13 Frauen und acht Männer wurden von ihren jeweiligen Ehepartnern ermordet, da man ein dermaßen langes Aufeinanderhocken zuvor nie geübt hatte.

Drei Kioske, vier kleine Kneipen, fünf Restaurants und Imbisse stehen zum Verkauf, da eine dermaßen lange Schließzeit für die Betreiber nicht überbrückbar war.

Nachbarn, die zuvor gemeinsam gegrillt und gefeiert hatten, stehen sich nun misstrauisch gegenüber, jeder darauf wartend vom anderen wegen vermeintlicher Vergehen verpfiffen zu werden.

Zweitwohnungs- und Ferienhausbesitzer, die es gewagt hatten, während der Kontaktsperre ihr heimatliches Domizil zu verlassen, um nach Narrenberge in den Urlaub zu fahren, wurden von Horden selbst ernannter Bürgerwehrmitglieder denunziert und zurückgeschickt. Dass diese schlauen Narrenberger durch diese natürlich völlig selbstlose Aktion nicht nur die Zweitwohnungsbesitzer verprellt hatten, sondern auch dafür gesorgt hatten, dass oben genannte Kioske, Imbisse etc. in die Pleite zu treiben, war offensichtlich nicht bedacht worden. Obendrein sind viele der eben erwähnten Feriengäste sosehr erbost, dass nun etliche Ferienräumlichkeiten zum Verkauf angeboten werden. Wer will nach diesem Gebaren einiger Narrenberger hier wohl noch Urlaub machen?

Das Nachrechnen hat ergeben, dass viele Menschen gestorben sind in und um Narrenberge, aber nicht einer am Corona-Virus. Rechnen wir die nicht natürlichen Tode ab, stellen wir fest, dass sogar zwölf Prozent weniger Menschen gestorben sind, als im gleichen Zeitraum in den Jahren zuvor und das durchschnittliche Sterbealter bei 82 Jahren lag, also sogar zwei Jahre über dem normalen Durchschnitt.

Was gibt es Positives zu berichten? Das Freihalten von Krankenhausbetten für eventuelle Corona-Fälle brachte den Kliniken ohne Arbeit viel Geld ein. Das führte dazu, dass unaufschiebbare OPs – morgen muss operiert werden, sonst übermorgen tot – plötzlich doch verschoben werden konnten. Das hatte zur Folge, dass sich einige Frauen eine Zweitmeinung einholten und festgestellt wurde, dass kein Krebs vorhanden war, der hätte entfernt werden müssen. Auch etliche Knie-, Hüft- und Bandscheiben-OPs fanden nicht statt. Einige der Patienten wandten sich an Herrn Knukenbreker, der den meisten sofort helfen konnte, was mal wieder dazu führte, dass der gute Mann mehrfach von den umliegenden Operateuren rigoros angefeindet und verleumdet wurde.

Der Sturm aufs Rathaus aufgrund der täglichen Vorsorgeuntersuchungen hat stark nachgelassen. Omma Wichtig hat eingesehen, dass sie nichts Besonderes mehr darstellt, wenn auch die Nachbarinnen täglich zur Mammografie gehen. Den Blasen-, Magen- und Darmgespiegelten geht es nicht viel anders. Auch hier hat das Interesse spürbar nachgelassen und man wendet sich lieber wieder dem Wägelchen mit den Medikamenten zu.

Eben kommt noch eine Meldung rein: Einrenk wurde aufgrund seines hervorragenden Krisenmanagements für das Bundesverdienstkreuz vorgeschlagen. Nun überlegt er, ob er eine vierte Amtszeit antreten soll, um Narrenberge weiterhin zu dienen.

Viele Grüße sendet Euch
Margaretha Main

Buchtipp:
Margaretha Main
Die Angst geht um in Narrenberge

Bürgerreporter:in:

Elisabeth Keller aus Gnarrenburg

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