Kurzgeschichte
Vogel der Nacht

Es war einmal ein Kranich namens Nocturnus. Anders als seine Artgenossen, die tagsüber majestätisch über die Seen und Wälder flogen, war Nocturnus ein Vogel der Nacht. Sein Gefieder schimmerte in den Farben des Mondscheins. 

Nocturnus hatte eine besondere Gabe: Er konnte die Geheimnisse der Nacht verstehen. Er lauschte dem Flüstern der Sterne und den Geschichten des Windes. Die anderen Kraniche verstanden ihn nicht. Sie nannten ihn einen Sonderling und mieden ihn.

Eines Nachts, als der Vollmond den Himmel erhellte, traf Nocturnus auf einen verletzten Kranich. Sein Gefieder war zerzaust, und er konnte kaum fliegen. Nocturnus fühlte Mitgefühl und half ihm, sich auszuruhen und zu heilen. Der verletzte Kranich erzählte ihm von einem geheimen Ort, an dem die Kraniche ihre Lebensgeschichten teilten. 

Nocturnus beschloss, diesen Ort zu finden. Er flog über Berge und Täler, durch dichte Nebel und sternenklare Nächte. Schließlich erreichte er eine verborgene Lichtung im Herzen des Waldes. Dort versammelten sich die Kraniche, um ihre Erlebnisse zu teilen – ihre Freuden, Ängste und Träume.

Doch als Nocturnus sich ihnen anschloss, stießen sie ihn ab. “Du gehörst nicht hierher”, sagten sie. “Du bist anders.” Nocturnus fühlte sich verletzt, aber er gab nicht auf. Nacht für Nacht kehrte er zurück und lauschte den Geschichten der anderen. Er lernte von ihren Erfahrungen und teilte seine eigenen.

Mit der Zeit änderte sich etwas. Die Kraniche begannen, Nocturnus zu akzeptieren. Sie erkannten, dass seine Einzigartigkeit eine Bereicherung war. Seine Weisheit half ihnen, ihre eigenen Leben besser zu verstehen. Nocturnus wurde zum Vermittler zwischen Tag und Nacht, zwischen Licht und Dunkelheit.

Eines Tages fand Nocturnus einen jungen Kranich, der von einem Jäger gefangen worden war. Er befreite ihn und brachte ihn zurück zu den anderen. Die Kraniche waren beeindruckt von seiner Tapferkeit und Dankbarkeit. Von da an nannten sie ihn “Nocturnus, der Befreier”.

Und so flog Nocturnus weiterhin bei Nacht und teilte seine Weisheit mit den anderen Kranichen. Er verurteilte sie nicht mehr, sondern half ihnen, ihre eigenen Flügel der Freiheit zu entfalten. Nocturnus wurde zur Legende – der Kranich, der die Dunkelheit erleuchtete und die Herzen der anderen berührte.

Bürgerreporter:in:

Thomas Ruszkowski aus Essen

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