Papier ist geduldig, die Fahrgäste sind es nicht
Die deutsche und die polnische Regierung haben heute in Stettin (Szczecin) ein Abkommen zum Ausbau der Bahnstrecke Berlin-Stettin unterzeichnet. Dieses sieht die Schließung der 30 km langen Elektrifizierungslücke zwischen Passow und Stettin bis 2020 vor. Dazu erklärt Michael Cramer, verkehrspolitischer Sprecher der Grünen im Europäischen Parlament:
"Papier ist geduldig, die Fahrgäste im Verkehr zwischen Deutschland und Polen sind es schon lange nicht mehr. Denn mehr als 20 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs bewegen sich die grenzüberschreitenden Bahnverbindungen zwischen Deutschland und Polen nicht einmal mehr auf dem Niveau des Kalten Kriegs. Eine weitere Verschiebung auf das Jahr 2020 ist deshalb inakzeptabel!
Gab es 1972 täglich noch 18 Zugpaare im deutsch-polnischen Fernverkehr, sind es heute nur noch sechs. Und nicht nur die Zahl der Verbindungen, sondern auch die Fahrtzeiten sind extrem unattraktiv: Für die 150 km lange Strecke zwischen Berlin und Stettin benötigt man heute knapp zwei Stunden – so lange wie vor dem Ersten (!) Weltkrieg. [1]
Dass die deutsche und die polnische Regierung nun eine weitere Vereinbarung unterzeichnet haben, ändert an diesen Missständen auf mittelfristige Sicht leider gar nichts. Erst bis 2020 soll eines der zentralen Probleme - die Schließung der 30 km langen Elektrifizierungslücke zwischen Passow und Stettin - gelöst werden.
An fehlenden öffentlichen Geldern liegt es nicht: Polen informierte im Frühjahr die Europäische Kommission darüber, dass es für den Schienenverkehr vorgesehene EU-Mittel in Höhe von 1,2 Mrd. Euro nicht verwenden könne. Erst als die beantrage Umschichtung auf Straßenbauprojekte im Europäischen Parlament und in der Kommission auf vehementen Widerstand stieß, wurden zusätzliche Anstrengungen zur Verwendung der Gelder für die umweltfreundliche Schiene eingeleitet - mit bisher noch ungewissem Ausgang.
In Deutschland wiederum liegt es ebenfalls nur am fehlenden politischen Willen. Bei den Milliardenausgaben für verkehrspolitisch kontraproduktive Projekte wie Stuttgart 21 oder die Berliner Stadtautobahn A 100 spielt Geld keine Rolle. An Mitteln für die lediglich 100 Mio. Euro teure Ertüchtigung der Strecke zwischen Passow und Stettin mangelt es folglich nicht.
Angesichts der Tatsache, dass ohne die Solidarność-Bewegung vor 23 Jahren weder die Mauer in Berlin noch der Eiserne Vorhang in Europa gefallen wäre, ist es geradezu beschämend wie die Bundesregierung mit unseren östlichen Nachbarn umgeht. Es ist Zeit, dass Deutschland und Polen auch auf der Schiene zusammenwachsen. Das heutige Abkommen leistet dazu leider nur einen symbolischen Beitrag."
[1] siehe dazu auch den Gastbeitrag "So schnell wie vor dem Ersten Weltkrieg" von Michael Cramer im 'Tagesspiegel' vom 27. Oktober 2012
Quelle:
Michael Cramer MdEP
Europäisches Parlament
Die Grünen/EFA
ASP 08 G 104
60, Rue Wiertz
B-1047 Brüssel
www.europarl.europa.eu
www.michael-cramer.eu
Auf der Schiene zusammenwachsen klingt gut. Leider kommen die uns aber immer öfter abhanden? Vielleicht wären in dem Zusammenhang ja auch Fahrgemeinschaften mit diversen Polnischen Autoabschleppdiensten möglich?