150 Jahre Strukturwandel- Die IHK- zu Bochum

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Eine Handelskammer für Bochum

Am 19. Mai 1856 wurde durch „Königlichen Erlaß“ die Errichtung einer Handelskam-mer für den Kreis Bochum genehmigt. Handelskammern hatten nach der Definition des Handelskammergesetzes „die Gesamtinteressen der Handel- und Gewerbetrei-benden ihres Bezirkes wahrzunehmen, insbesondere die Behörden in der Förderung des Handels und der Gewerbe durch thatsächliche Mittheilungen, Anträge und Er-stattung von Gutachten zu unterstützen.“ Folgt man der Darstellung von Franz Mari-aux in der Festschrift zum 100jährigen Bestehen, wurde die Bochumer Handels-kammer „wider die Regel sachlicher Entscheidungsgründe bewilligt. Sie ist die erste in einer Stadt, die weder kaufmännische noch Staatsverwaltungstradition vorweisen könnte.“ Für den Rheinländer Mariaux war Bochum zu jener Zeit allenfalls ein geo-graphischer, keinesfalls ein wirtschaftlicher Begriff. Diese, um es vorwegzunehmen, unhaltbare These von der „illegitimen“ Gründung verdeckt indes wesentliche Struk-turveränderungen, die den Bochumer Wirtschaftsraum seit den 1840er Jahren in sei-nem Kern verändert hatten.

Bereits 1906 hatte der Chronist zum fünfzigjährigen Bestehen der Handelskammer zu Bochum, der amtierende Syndikus Georg Wiebe, herausgestellt, dass die Kam-mergründung „in die erste industrielle Hochkonjunktur-Periode, welche Deutschland gesehen hat“, fiel. Auch der Bochumer Raum erlebte seine „Gründerjahre“, nachdem die Stein-Hardenbergschen Reformen und die Verkündung der allgemeinen Gewer-befreiheit 1810/11 die Dämme der alten wirtschaftlichen Ordnung eingerissen hatten. Nach den bitteren Erfahrungen des Pauperismus, der ersten „Krise neuen Typs“ (Er-nest Labrousse), folgte in der Frühphase aber bald eine „Glaubenskrise“, wobei die neue liberale Wirtschaftsverfassung von vielen stärker als Bedrohung denn als Fort-schritt empfunden wurde. Skepsis und Angst vor Veränderung und Wandel waren in dieser Phase die wohl zähesten Widersacher, die den Ausbruch aus der vorindus-triellen Mangelgesellschaft noch behinderten. Die 1848er Jahre haben dann das En-de der „alten Ordnung“ endgültig besiegelt und den demokratischen Aufbruch in Deutschland beschleunigt. Die neue Ökonomie des Marktes war nicht mehr aufzuhal-ten. Eine neue selbstbewusste Unternehmergeneration prägte auch im Bochumer Raum das wirtschaftliche Leben, wie schon ein flüchtiger Blick in die Zusammenset-zung der ersten Vollversammlung und des Präsidiums der Bochumer Handelskam-mer verrät. An ihrer Spitze standen Vertreter einer neuen wirtschaftsbürgerlichen Eli-te „außerhalb der altständischen Sozialordnung“ (Hans Ulrich Wehler), die sich be-reits im Dezember 1854 und im Januar 1855 in zwei „gut besuchten Versammlun-gen“ zur Organisation der Selbstverwaltung der regionalen Wirtschaft zusammenge-funden hatten. Sie verbanden die bürgerlichen Werte, also Pflichtgefühl, Disziplin, Arbeitsamkeit, Fleiß, Ehrgeiz, Sparsamkeit und Familiensinn, mit einer modernen Erwerbshaltung im „Geist des Kapitalismus“ (Max Weber).

Eine Wirtschaftsregion im Aufbruch

Ein gutes und frühes Beispiel für diese neue Unternehmergeneration im Bochumer Wirtschaftsraum ist Gustav Müllensiefen, der zusammen mit seinem Bruder Theodor bereits 1825 eine moderne Glasfabrik „auf der Kohle“ gründete. Die Söhne des Iser-lohner Landrates Peter Eberhard Müllensiefen, der selbst als Unternehmer in der Metallverarbeitung gescheitert war, drängten aus den traditionellen Strukturen her-aus. Ihre Standortwahl trafen sie nach modernen betriebswirtschaftlichen Kriterien: die Kohlevorkommen, die Transportmöglichkeiten über die Ruhr, besonders die Nähe zur Ruhrschleuse Herbede sowie die für die Rohstoffversorgung wichtige Anbindung an die „Salzstraße“ nach Unna gaben den Ausschlag für den Erwerb des Gutes Crengeldanz bei Witten, das zudem Mühlengerechtigkeit besaß. Dies war in der Frühphase der Industrialisierung, als die Verbreitung der Dampfkraft noch in ihren Anfängen steckte, ein nicht zu unterschätzender Standortfaktor. Theodor, der sich später aus dem Unternehmen zurückzog und sich immer mehr der Politik verschrieb, war für die Technik zuständig. Zwei Jahre war er auf Wanderschaft gewesen, um die Glasmacherei auf den damals führenden Werken im Saarland, der Schweiz und Frankreich praktisch zu erlernen. Ältere biographische Beschreibungen berichten von „mancherlei Meinungsverschiedenheiten“ zwischen den Brüdern. Gustav, der die kaufmännische Leitung übernahm, war, „im Erwerbsleben völlig aufgehend, nüchtern auf die Realitäten des Lebens abgestellt und konnte wenig Verständnis für die auf die Pflege innerer Werte ausgerichteten Lebensziele seines Bruders aufbringen.“ (Paul H. Mertes) Gustav Müllensiefen war ein früher Architekt eines modernen verti-kal integrierten Unternehmens. Im Jahr der Handelskammergründung war die Glas-fabrik maßgeblich an neun Zechen sowie an mehreren Tongruben beteiligt. Die an-gegliederte Ziegelei deckte nicht nur den hohen Bedarf nach feuerfesten Steinen, sondern schuf mit der Aufnahme der Dachziegelproduktion ein weiteres unternehme-risches Standbein. Es wundert also nicht, dass Gustav Müllensiefen als moderner Unternehmer seiner Zeit 1856 zum ersten Präsidenten der Bochumer Handelskam-mer gewählt wurde, ein Amt, das er bis 1865 innehaben sollte.

Treibende Kraft zur Gründung der Bochumer Handelskammer – erste Vorstöße hat-ten der Abgeordnete des westfälischen Provinziallandtages Johannes Oechelhäuser und der Bochumer Kaufmann Carl Berger 1843 unternommen - war indes der Bo-chumer Bürgermeister Max Greve gewesen, der selbst zwischen 1857 und 1872 quasi im „Nebenamt“ erster Kammersekretär war. Sein Schreiben vom 20. Juni 1855 an die Landrätliche Behörde ist aus heutiger Sicht als eigentliches Gründungsdoku-ment der Bochumer Handelskammer anzusehen:

„Seit den letzten zehn Jahren ist ein großer Umschwung eingetreten. Neben der al-ten Industrie und neben dem alten Bergbau im Süden des Kreises macht sich die neue Industrie und der neue Bergbau in den nördlichen Bezirken des Kreises immer mehr geltend. Die hiesige Stadt, bis vor wenigen Jahren noch eine Ackerstadt, hat diesen Charakter fast ganz verloren und sie schreitet mit jedem Tage auf der indus-triellen Bahn weiter. Insbesondere ist es der Bergbau, der sich gerade in dem nördli-chen Teile, dem großen Verkehrsstrome, den die Kölner Eisenbahn geschaffen, fol-gend in immer größeren Verhältnissen entwickelt, und auf den sich der Spekulati-onsgeist wirft.“

Dies waren keine hohlen Worte. 1825 hatten, wie gesehen, die Gebrüder Müllensie-fen in Crengeldanz bei Witten die moderne Glasproduktion, zugleich Keimzelle der später im Wittener Raum sich entwickelnden chemischen Industrie, begründet. 1842 hatte Jacob Mayer, der Erfinder des Stahlformgusses, mit der Errichtung eines Gussstahlwerkes die Fundamente des späteren „Bochumer Vereins“ (seit 1854 Akti-engesellschaft) gelegt. Wie Krupp in Essen oder Piepenstock im Dortmunder Raum wirkten auch in Bochum innovative Industriepioniere, die dem Schumpeterschen Un-ternehmerbild nahezu idealtypisch entsprachen. Blickt man in die zeitgenössische Statistik, so lässt sich erkennen, dass sich der Wert der industriellen Produktion im Kammerbezirk – er umfasste bis 1885 allein den Kreis Bochum, danach die Stadt Bochum sowie die Landkreise Bochum und Gelsenkirchen – zwischen 1854 und 1856 mehr als verdoppelt hatte. Träger war die damalige „New Economy“, also der Bergbau und die „Eisenindustrie“ mit einem Anteil von rd. 37,5 % bzw. 25 %. Auch die rasant wachsende Bevölkerungszahl des Kammerbezirks, die von 64.428 (1855) über 97.114 (1864) auf 657.102 im Jubiläumsjahr 1906 stieg, belegt den rasanten industriellen Aufstieg des Bochumer Wirtschaftsraumes.

Hochindustrialisierung und Professionalisierung der Kammerarbeit

Blättert man in den ersten Jahresberichten der Bochumer Handelskammer, stößt man auf die Themen „Wirksamkeit der Bochumer Börse“, „Maklerstellen für Witten und Bochum“, „der Bahnhof Herne-Bochum als Haltepunkt des Kurierzuges und die Postbeförderung zwischen beiden Orten“, „das Stempeln von Wechseln bis 2.000 Taler in Witten, Hattingen und Bochum“ sowie den „Entwurf eines Deutschen Han-delsgesetzbuches“, den „Handelsvertrag mit Sizilien“ und die „Zolltarife mit Belgien und Russland“, die im Mittelpunkt der Kammerarbeit standen. Unter Wilhelm Ende-mann, „Gewerke und Agent“, der zwischen 1865 und 1870 an der Kammerspitze stand, entwickelte die Kammer nicht ohne innere Konflikte ein stärkeres, wenn auch inhaltlich schwankendes politisches Profil. Hatte der stellvertretende Vorsitzende, der Kaufmann Carl Korte, Mitinhaber einer Eisengießerei und eines Eisenwarenge-schäfts, mittlerweile aber hauptsächlich im Bankgeschäft tätig, 1862 auf dem Deut-schen Handelstag in München dem Verlangen nach einem Handelsvertrag mit Frank-reich nur unter der Bedingung zugestimmt, dass ein ausreichender Zollschutz auf bestimmte Waren, z. B. lothringisches Eisen, gewährleistet wurde, nahm die Kammer nun eine radikale freihändlerische Position ein. Dieser Positionswechsel hatte auch personelle Konsequenzen. Endemann löste Korte als Vizepräsident ab und trat bald darauf an die Kammerspitze. Georg Wiebe, von 1897 bis 1915 hauptamtlicher Ge-schäftsführer, charakterisierte die Amtsperiode Endemanns in ihrem politischen Kern als „doktrinär“ und „weltfremd“. Mittelpunkt der praktischen Kammerarbeit waren mannigfache Bemühungen um die Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur, nament-lich Eisenbahnangelegenheiten (v. a. „Kampf gegen die Monopolstellung der Eisen-bahnverwaltung“, „Kampf gegen die Frachttarife“) und der Ausbau der Wasserstra-ßen (v. a. Ausweitung der Ruhrschifffahrt, Eintritt für Kanalprojekte).

Mit dem Kammergesetz vom 24. Februar 1870 sollte sich das Profil der Bochumer Handelskammer entscheidend verändern. Bis dahin war die Montanindustrie quasi von der aktiven Kammerarbeit ausgeschlossen, denn § 7 der Kammerverordnung von 1848 versagte den Vorständen von Kapitalgesellschaften das passive Wahl-recht. Dies hing wiederum mit einer tief verankerten Skepsis gegenüber dem Aktien-wesen zusammen. Dafür war vor allem die Angst vor der Überfremdung der deut-schen Industrie durch ausländisches Kapital, namentlich der englischen Konkurrenz, verantwortlich. Doch entsprachen die vielfachen obrigkeitlichen Reglementierungen - jede Aktiengesellschaft wurde erst nach langwieriger Prüfung der unternehmerischen Erfolgsaussichten durch die preußische Ministerialbürokratie konzessioniert - längst nicht mehr den wirtschaftlichen Verhältnissen der Zeit. Parallel mit der überfälligen Revision des Aktienrechts erlosch durch das neue Kammergesetz dann auch der Bannstrahl auf die Montanindustriellen. Und noch mehr: Auch ältere handelsrechtli-che Bestimmungen fielen, die bis in die Zeit des preußischen Allgemeinen Land-rechts zurückreichten, und das ländliche Gewerbe sowie u. a. auch Gast- und Schankwirte, Brennereien und Brauereien sowie die Handwerker von der Kammer-mitgliedschaft ausschlossen. Kriterien für die beitragspflichtige Kammerzugehörigkeit waren fortan der Eintrag der Firma ins Handelsregister und die Veranlagung zur Ge-werbesteuer.

150 Jahre Strukturwandel
Kleine Geschichte der Industrie- und Handelskammer zu Bochum

Quelle: Geschichte der IHKs in NRW

Bürgerreporter:in:

Wolf STAG aus Essen

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