Brauchtum, Tradition und Postmoderne

Musikkapellen zu einem Jubiläum

Zwischen Tradition, Brauchtum und Moderne:
Auf der Suche nach kultureller Identität

Mit jedem Menschen, der geboren wird, fängt kulturelle Entwicklung neu an. Zivilisation, wie wir sie kennen, beruht wesenhaft auf der Sozialisation des werdenden Individuums durch Eltern und Gesellschaft. Kein Ich beginnt in einem kulturellen Vakuum zu leben; vielmehr taucht jeder Einzelne in eine konkrete Inklination seiner sozialen Umwelt ein, die je eine besondere Modifikation kulturellen Lebens seiner Zeit darstellt.

Wer irgendwo zu einer Zeit geboren wird, begegnet von Beginn seines sozialen Daseins an einer Vielfalt konkreter kultureller Momente, die insbesondere durch Familie und Gesellschaft vermittelt und kommuniziert werden. Immer schon existiert Geschichte, ehe eine neue Geschichte durch die vita activa eines werdenden Menschen der zivilisatorischen Entwicklung hinzugefügt wird.

Menschliche Sprache, die je erlernt wird, erweist sich immer als sozio-geographisch bestimmtes Moment, das als Dialekt und/oder Umgangssprache durch die Generationen hindurch tradiert wird. Ja, vornehmlich die gesprochene und von einer Jugend zur nächsten hin weiterentwickelte Sprache, die bis zum Erwachsensein hin eine Entwicklung erfährt, manifestiert sich als wesentliches Mittel sozialer Kulturation, denn die jeweils durch die Muttersprache eröffneten Optionen, sich in der sozialen Wirklichkeit zu artikulieren, weist jene zeitspezifischen Eigentümlichkeiten auf, wie sie bereits zwischen den Generationen verändert.

Am allermeisten scheint der Einzelne in der Zeit seines Lebenslaufes von Kindheit und Jugend bis hinein in das Arbeitsleben und -welt beizutragen, indem erlernte soziale und kommunikative Formen und Verhaltensweisen entscheidend gedeutet und verändert werden von einer Generation auf die folgende. Sprache als eine lebendige Gestaltung und Ausdrucksform entwickelt sich, soweit in dieser Zeit die Individualität selbst sich entwickelt und sein Lebenskonzept konkretisiert.

In diesem Sinn unterscheidet sich Tradition wesenhaft von modisch bestimmter Nostalgie, denn sie erweist sich einerseits als zentrales sozialisatorisches Moment, durch das der Einzelne an Gemeinschaft partizipieren kann, andererseits als funktionelles Zentrum einer Kultur, durch das überhaupt erst Kontinuität hervorgeht. Aber kennen wir Tradition nicht eher als jenes Entertainement, das touristisch-plakativ ein leicht nachvollziehbares B i l d einer Ethnie, z. B. das “der Bayern”, nach außen transportiert? Der Bayer mit Laptop und Lederhos'n? Der südländische “Urmensch” mit dem kernigen Dialekt und einem großen Bauernhof, den er heutzutage meist allein mit einem überdimensionalen Traktor bewirtschaftet und der alle Jahre wieder mit demselben zum Oktoberfest in München fährt?

Wie enttäuscht mag der japanische Tourist sein, wenn er bei einer Rundreise durch das Bundesland Bayern allmählich erkennen muss, dass es weder ein kulturell homogenes Bayern (etwa als Niederbayern) noch Bayern nach dem Klischee des Münchners gibt? Noch mehr dürfte sich derjenige wundern, der sich etwas intensiver mit “der Sprache der Bayern” auseinandersetzt: Es wimmelt nur so von sog. bayerischen Dialekten, unter denen das Niederbayerisch nicht nur vielfältig nuanciert auftritt, sondern mit zahlreichen anderen Dialekten konkurriert, etwa fränkischen, Allgäuer und schwäbischen Dialekten.

Gerade das große Bundesland Bayern vereint eine kulturelle Vielfalt, wobei Sprache als zentrales Moment der Tradition so unterschiedlich modifiziert auftaucht wie bayerische Ethnien. Einen gewissen Überblick gewinnt derjenige, der bayerische Kultur verstehen will, indem er sich den einzelnen Regierungsbezirken in Bayern zuwendet: Was es gibt bayerische Schwaben? Und ich dachte, die Schwaben wären in Württemberg zu Hause!

Aber kehren wir zur Tradition als wesentlichen Motor der Kulturation zurück, kultureller Entwicklung einer zivilisierten Gesellschaft. Mehr als je zuvor manifestiert sich gerade in einer globalisierten Kultur- und Wirtschaftswelt, wie der Einzelne anders als früher nicht mehr auf Tradition, wie sie als kulturelles Moment seiner regionalen Heimat angewiesen ist, sondern mit einer Vielzahl weiterer Traditionsinhalte befasst ist, die gewissermaßen mit typisch lokalen und regionalen Traditionen interferieren.

“Woher komme ich?” Diese Frage nach kultureller Identität und Herkunft taucht in unserer Zeit in jene Entwicklungsgesetze ein, wie sie durch eine globalisierte Wirtschafts-, Arbeits- und Kulturwelt bestimmt werden. Wer könnte sich vorstellen, dass mitten in Bayern etwa ein Dorf sich entwickelt, völlig in sich gekehrt, alle technologischen Innovationen der letzten sagen wir vier Jahrzehnte ignorierend, allein auf dasjenige baut, was wirtschaftlich, kulturell und sozial aus seiner Region her sich gestalten lässt?

Allein der wirtschaftliche, globale Transfer, berufliche Mobilität und Freizügigkeit, Tourismus, die Mediengesellschaft sowie nicht zuletzt die politische und administrative Integration jener fiktiven Kommune, die ganz aus sich heraus sich entfalten wollte, führen dahin, dass dieses fiktive Ziel kaum erreicht werden könnte, abgesehen davon, dass es an sich kaum erstrebenswert erscheinen könnte, dem Rest der Welt den Rücken zuzukehren.

Weit über das hinaus, was man im engeren Sinn “Brauchtum” nennt, sprachlich-dialektische Eigentümlichkeit und Idiome, Kunst, vor allem Alltagskunst, soweit sie nicht in reiner Massenreproduzierbarkeit aufgegangen ist, Kleidung, Musik und Theater, Mundartdichtung, traditionelle und religiöse Gepflogenheiten - alles dies darf nicht nur unter folkloristischen Aspekten gesehen werden, wenngleich man zuweilen eben doch irgendwie das Empfinden haben könnte, Lederhose und Gamsbart würden eher zu festlich-repräsentativen Zwecken hervorgeholt, um ausländische Gäste und Touristen zu beeindrucken.

Nein, Tradition inklusive dieses Brauchtums erfüllte früher und erfüllt heute wesenhaft sozio-kulturelle Zwecke. Heute blicken wir auf Tendenzen, die teilweise jene Funktionen zu ersetzen versuchen, die eben früher durch Tracht und traditierte Feste im Jahreslauf bestimmt waren - es wird z. B. “Lifestyle” genannt und spielt nicht nur auf das individuelle Lebensgefühl eines Menschen an, sondern umfasst dessen Lebenskonzeption, ob diese bewusst oder eher unbewusst gefühlt anvisiert wird.

Viel tiefer und weiter reicht in diesem Sinn Tradition, denn sie stellt jene Basis dar, auf der ein Mensch sich entwickelt. Nicht als ob diese kulturelle Basis etwas darstellte, was quasi einfach übernommen werden könnte; vielmehr sind Sprache, Heimat und Gemeinschaft erste Prämissen, in die eine neue Generation hineinwächst und mit der sich jede Generation neu auch auseinandersetzt. Innerhalb dieses traditierten kulturellen Erbes stellte Religion eine zentrifugale Kraft dar, die verband und zusammenhielt. Heute schwächt sich oftmals gerade dieses zentrale Element des Brauchtums ab, während z u g l e i c h andere Jugendliche sich wieder verstärkt dem religiösen Leben zuwenden, worauf uns wohl der Papstbesuch in Bayern besonders hinwies.

Während zweifellos Tradition und Brauchtum (nicht nur in Bayern) zurückweicht und in geringerem Umfang eine gesellschaftliche Rolle spielt, tauchen insbesondere durch die Massenmedien Inhalte auf, die eben nicht mehr in ein in sich geschlossenes tradiertes Konzept integriert sind. Alle diese Inhalte mögen noch so geeignet sein, sich mit ihnen im Hinblick auf ein Lebenskonzept auseinanderzusetzen - entscheidend ist, dass sie weder geographisch auf die Herkunft und Heimat eines heranwachsenden Jugendlichen zielen, noch mit seiner sozialen Umwelt direkt verknüpft ist. Kulturelle Inhalte scheinen nicht mehr lokalisiert, überhaupt an eine Kulturregion geknüpft. So aber fehlt ein wichtiges Moment, das früher durch Brauchtum gegeben war: kulturelle Inhalte waren innerhalb einer Konzeption dargestellt. Diese Loslösung einzelner menschlich-kultureller Elemente aus einem Ganzen, auch aus einem sozialen Ganzen, der Ethnie, in der ich geboren bin, lockert und öffnet auch den sozialen Zusammenhalt. Eine Identifikation erscheint stärker eine selbständige Leistung zu sein, die den Einzelnen nicht mehr notwendig in sein soziales Umfeld einbindet.

Sich kulturell und menschlich zu orientieren, seine Lebenskonzeption innerhalb der Fülle medial präsentierter Inhalte zu gestalten, erfordert daher in der Postmoderne eine bewusstere, zielsetzende Haltung: sie eröffnet Freiheiten dem Einzelnen - wie sie früher nicht zuletzt aufgrund sehr eingeschränkter sozialer Mobilität für viele nicht leicht erreichbar war. Umgekehrt aber besagt dies, dass Identität nur aus einer sehr bewussten, aktiven Leistung des Einzelnen hervorgeht - oder eben lückenhaft und unzureichend bleibt.

Vielleicht weisen Phänomene, die tendenziös ansteigen, etwa Drogensucht, vermehrter Alkoholabusus, eine rasant angewachsene Zahl psychisch instabiler, behandlungsbedürftiger Menschen in jene Richtung. Im Grunde gäbe es in unserer Gesellschaft vor allem eine Einrichtung, die es leisten könnte, junge Menschen dahingehend zu ertüchtigen, später ihren Lebensweg und -konzeption zu finden: das Schul- und Bildungswesen.

Wenn unsere Gesellschaft sich dahin entwickelt hat, dass die soziale Integration der heranwachsenden Generationen in bereits existente Sozialstrukturen, insbesondere in ihrer Heimat zu ermöglichen, wenn soziale Strukturen sich eher auflösen, eine soziale Identität nicht mehr essentiell auf dem Weg durch Schule und Berufsausbildung von vielen erreicht werden kann, dann steht gerade eine rasant sich entwickelnde Massengesellschaft vor großen Aufgaben.

Eine Rückwendung zu alten Traditionen kann bestenfalls darauf hinweisen, dass eine großes Bedürfnis nach sozialer und kultureller Identität unter vielen Menschen und nicht nur Jugendlichen existiert. Aufgaber einer solchen postmodernen Gesellschaft, in der eine, wenn nicht sogar d i e, zentrale Funktion kultureller Entwicklung, die Tradition (im Sinne einer Enkulturation, einer Integration des Einzelnen in die kulturelle Gegenwart) weitgehend aufgelöst ist, müsste dafür sorgen, dass an die Stelle weitgehend regional homogener Traditionen n e u e Momente kultureller Identität zu schaffen. Auch da dürfte der Blick in die Vergangenheit nicht reichen: Europa wächst - und es wächst in einer wirtschaftlich und kulturell globalisierten Welt. Wie lange ein solches kulturelles Vakuum bestehen kann, das durch den weitgehenden Wegfall alter sozio-geografischer Traditionen entstanden ist, kann wohl kaum jemand prognostizieren; dass es nicht dauerhaft unsere Gesellschaft unberührt lässt, ist sehr wahrscheinlich, denn “Tradition” (wie sie hier verstanden wird) i s t der substantielle Entwicklungsprozess der Gesellschaft.

Auch und gerade in einer globalisierten gesellschaftlichen Wirklichkeit spielt sich >Kultur< dort ab, wo Menschen leben, in ihrer Heimat und an dem Ort, wo sie wohnen und leben - oder aber es geschieht und vollzieht sich jenes illusionäre Scheinleben, das dann geschieht, wenn außer der durch die Massenmedien vermittelten Kultur kaum oder nichts Tragendes mehr gestaltet wird. Denn eine Stadt, ein Dorf, eine Kommune o h n e eigenes kulturelles Leben erstirbt, siecht aufgrund dieses Mangels dahin und - kann den Menschen, die dort leben, k e i n e Heimat mehr bieten. Unter den hier skizzierten Aspekten gehört zentral eben Kultur wesenhaft zu der eigenen Heimat. Es ist eben mehr als ein billiger Slogan, wenn eine Stadt oder Kommune zu einer degenerierenden “Schlafstadt” ohne eigenständiges Leben verkommt. Wer Lebens- und Wohnqualität o h n e tragende Sozialstrukturen, o h n e kulturelles Leben sich vorstellen kann, mag immerhin zufrieden sein; wer dieses Phänomen jedoch als potentielle Gefahr in unserer Zeit sieht, wird zumindest vielleicht mit wacherem Blick und Geist an dem sozialen Leben seiner Heimat partizipieren. Die so bequeme und nicht seltene Passivität vieler im Hinblick auf kulturelles Leben lässt wohl eine solches Szenario als mögliche Gefahr erscheinen.-

Bürgerreporter:in:

Wolfgang Leitner aus Donauwörth

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