Paddeln bis der Notarzt kommt......! (Eine Rückblende)

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Ist das wahr? Bin das wirklich ich, der da schon seit sieben Stunden sein Kajak vorantreibt? Die Weser fließt träge. Jeder Paddelschlag erfordert mehr Kraft. Mittag ist bereits vorüber. Eine Pause war nicht drin. Ich will es heute noch einmal wissen. 135 km beim Extrem-Marathon von Hann.Münden nach Hameln. Ein bisschen verrückt ist er schon. Das mögen sich viele gedacht haben. Ich denke das nun auch. Schon die 53 km bis Beverungen wären genug gewesen. Aber Bronze, was ist das schon? Gold sollte es wieder werden, mindestens! Du spinnst, denke ich mir nun schon seit 30 km, seit Beverungen hinter mir liegt. Holzminden da vorne zieht sich und doch ist es schon das Ziel der Silberstrecke, 80 km. Die ersten beiden Marathons vor Jahren kam ich bis hierher und es war jedes Mal genug.

Vor zwei Jahren dann war der große Tag. Diesmal sollte es die Goldstrecke sein. Ein guter Freund begleitete mich an Land, hielt es nicht für wirklich möglich, was der Alte da treibt. Aber ich kam an. Es regnete damals in Strömen und so sah man meine Tränen nicht, die ich vergoss, als ich unter der Brücke von Holzminden hindurchpaddelte zu den letzten 55 km, dem eigentlichen Marathon. Es regnete auch noch bei meiner Ankunft und wieder stiegen sie auf und auch mein Freund sah sie nicht. Schnell war ich unter der Dusche, dann am Bierstand und später oben im Bootshaus in meinem Schlafsack; zwischen Kraftgeräten holte ich die Kraft im Schlaf zurück.

Jetzt habe ich meine ersten 80 km wieder hinter mir. Ich wähle die rechte Uferseite der Weser, um nicht doch in Versuchung zu geraten, hier anzulanden und es genug sein zu lassen. Und wieder hebt drüben am Ufer einer seine Hand, grüßt mich, wie damals mein Freund. Vielleicht ist es heute jemand von den Kanufreunden aus dem Mündener Kanuclub. Was mögen sie gedacht haben, als ich mit ihnen an der Theke im Vereinshaus stand und wie nebenbei bemerkte, dass ich es noch einmal wissen wolle und nach Hameln will? Nach Hameln - die ganzen verrückten 135 km. Alle hatten das schon gemacht – irgendwann früher. Aber wenige vielleicht noch in meinem Alter. 65 Jahre habe ich vor zwei Monaten abgehakt. Im letzten Winter ging es mir gesundheitlich nicht wirklich gut. Ich brachte dann den Januar auf Helgoland zu und kehrte runderneuert zurück. Irgendwie fühlte ich mich wie ein Neureifen, mit dem man quietschend in die Kurve gehen könnte, mit guter Bodenhaftung. Doch jetzt spüre ich, dass ich doch nur runderneuert bin. Die Gesamtlaufleistung schmerzt in den Armen. Das Genick und der obere Rücken beginnen steif zu werden und schmerzen, als ich unter der Brücke von Holzminden in die letzten 55 km paddele. Doch auch jetzt stellt sich wieder dieses seltsame Gefühl ein, dass der Marathon nun erst beginnt.

Sie hatten in den Wetterberichten einen heißen, sonnigen Tag angekündigt. Der Himmel ist aber schon seit dem Morgen bedeckt. Das ist vielleicht mein Glück. Die Weser fließt ruhig – zu ruhig. Unterbreche ich das Paddeln, dann wird das Boot schnell langsamer. Die Weser will mir heute nicht helfen. Sie meint wohl, dass ich mir das selbst antue und es nun auch zu Ende bringen solle. Ich spreche mit ihr, aber bis auf ein Grinsen der Schafe am Deich antwortet niemand. Plötzlich stoße ich einen Schrei aus, nein – es ist so ein Juchzer, wie sie ihn in den Bergen auf der Alm ausstoßen, wenn sie ein Wohlgefühl oder was auch immer ausdrücken wollen. Er wirkt auf mich wie ein Startschuss. Meine Arme beginnen wieder kräftig durchzuziehen. Es gibt jetzt kein Zurück mehr. Da ist auch niemand auf der Uferstraße, der mich mit tröstenden Worten übernehmen würde. Ich muss da jetzt durch. Ich will da jetzt durch!

Und da ist er wieder - mein Tunnel. Langsam gleite ich hinein. Die Gedanken sind nicht mehr so wirklich konkret. Irgendwo da vorne ist ein Ziel und das wird immer stärker. Ich spüre wie es mich zieht. Meine Paddelschläge werden automatischer. Sie haben nicht mehr so viel Druck und suchen, das Wasser und den Körper freundlich zu verbinden. Wir wollen nicht gegeneinander kämpfen, wir wollen gemeinsam unser Ziel finden. Es klingt sicher jetzt etwas pathetisch, aber der Fluss und ich haben Freundschaft geschlossen. Nun erkenne ich jede Flussbiegung, jeden Campingplatz, an dem ich vorüber ziehe und die Orte, die Häuser, die Seilfähren, die Brücken. Sie scheinen mich zu begrüßen. Mein Tunnel ist zum Film geworden. Ich bin Darsteller und Zuschauer zugleich.

Hinter Bodenwerder weckt mich ein Dritter aus dem Traum – der Wind. Und nun ist es wieder Kampf. Ich muss meine Kraft einteilen. In den langen Böen verhaltener paddeln und in den Pausen dazwischen Strecke machen. Natürlich trinke ich zu wenig. Jetzt fluche ich, dass ich nur zwei Liter an Deck habe und den dritten hinten im Stauraum. Anzulanden und ihn auszupacken, daran denke ich nicht. Natürlich wäre das richtig gewesen. Auch als ich vor Stunden pinkeln musste, hätte ich das nicht in die Plastikflasche im Sitzen machen sollen, sondern an Land mit ein paar Kniebeugen für den Kreislauf. Dann wäre es auch nicht zu dem dramatischen Schluss gekommen. Aber das wusste ich da noch nicht.

Mein Körper ruft nach den Müsliriegeln und dem Traubenzucker. Jedes Mal nach dem Essen habe ich das Gefühl aufgetankt zu haben. Die Arme melden Kraft. In solchen Pausen schaue ich auf die Uhr und bin beruhigt. Ich habe noch genügend Zeit. Doch bald merke ich, dass es wohl wieder 14 Stunden werden. „Kampfsitzen“ haben sie im Seekajakforum diese Veranstaltung genannt. Sie haben das richtig eingeschätzt. Meine Arme aber reklamieren, dass sie den Kampf austragen. Ganz bewusst versuche ich, meine Rückenmuskulatur Arbeit übernehmen zu lassen. Ich bin noch kein solcher Techniker. Erst vor 10 Jahren als Mittfünfziger habe ich mit dem Paddeln angefangen - als Autodidakt. So bewundere ich die vielen wirklichen Sportler in ihren Rennkajaks, die scheinbar an mir vorbeifliegen. Doch so manchen sehe ich an, dass auch sie ihren Kampf kämpfen. Sie sind hier jetzt auch seltener, in diesen letzten 55 Kilometern. Die sind schon alle im Ziel, denke ich. Aber da vorne sind zwei Boote. Ganz langsam komme ich näher. Unfassbar! Ich paddele vorbei. Später werden sie mich wieder überholen. Das passiert jetzt öfter. Wir haben alle einen Wiedererkennungswert bekommen. Ich spüre, wie sich auf diesen letzten 55 km eine neue Gemeinschaft der Leidenden gebildet hat. „Bald ist die Quälerei vorüber“, ruft mir jemand zu. Ich antworte: „Ja, bald!“ Das gibt Kraft.

Irgendwann sehe ich am Ufer die 100 km-Marke. Kann das wirklich sein? Habe ich schon 100 km gepaddelt? Ich male mir aus, welche Strecke das an Land ist und wie lange ich sie mit dem Auto fahre. Das ist nicht wirklich, was ich hier mache. Vielleicht sind es die Endorphine, die mich jetzt glücklich machen. Sie lösen die Euphorie aus, die den Schmerz überdeckt, den ich spüren müsste. Der Verstand wäre hier nur im Wege. Mein Körper mobilisiert soeben den Reservetank. Wo er das herholt weiß ich nicht wirklich. Es ist mir auch egal. Hauptsache es geht weiter. Und es geht! Mein Tunnel ist zu einer Welle geworden. Die Superwelle wie bei einem Surfer vor Hawaii. Nein, da vorne, das ist nicht Hawaii, das ist das AKW Hameln. 15 km von hier aus. Wieder will der Wind verhindern, dass ich ankomme. Aber da lasse ich nicht mit mir verhandeln. Ich überhole einen Paddler auf der Höhe der Kühltürme. Das Wasser ist hier besonders schmuddelig, aber das stört mich nicht. Jetzt müssen meine Hormone paddeln. Sie tun es! Klare Gedanken denke ich nicht mehr. Das AKW liegt hinter mir und auch der Wind. Ich habe es ihnen gezeigt. Sage ich das laut oder denke ich es nur? Noch ein paar Biegungen noch und ich bin da. Ich trinke den letzten halben Liter, esse die letzten Traubenzucker. Später entdecke ich, dass ich noch mehr Traubenzucker in der Tagesluke vor mir gehabt hätte. Vermutlich hätte ich sie alle hineingestopft. Ich bin jetzt in einer gefährlichen Euphorie. Aber das wird mir erst später klar. Wieder überhole ich ein paar Boote und dann fangen meine Arme an, einen Endspurt einzuleiten. Viel zu früh und warum überhaupt? Es ist die Welle! Dann weiß ich, als ich an den Stegen vorüberziehe, dass gleich der Anleger vom Kanuclub Hameln kommt. Da ist er! Auf ihm steht mein Freund, hält die Kamera hoch und macht die Zielfotos, die vor zwei Jahren vom Regen verhindert wurden. Ich haue rein wie verrückt, weil ich es bin!

„Du hast es geschafft!“, sagt er und hält mein Boot, während ich die Spritzdecke löse und mein Paddel auf den Steg lege. Auf der Bank sitzen ein paar Frauen und klatschen. Ich fühle mich wie ein Sieger, ohne wirklich zu wissen, was ich da gesiegt habe. Vermutlich habe ich gegen mich selbst gewonnen. Bis heute bin ich mir noch nicht wirklich darüber im klaren. Der Freund hält mein Kajak und ich drücke mich mit beiden Armen aus dem Sitz, um gleich wieder dahinter auf dem Deck abzusacken. „Lass dich einfach auf den Steg fallen“, rufen die Frauen von der Bank. Sie haben hier sicher schon so manche Heros aussteigen gesehen. Mit einer letzten Anstrengung schwenke ich meinen Hintern auf den Steg, ziehe die Beine nach, rolle auf den Bauch und gehe in den Vierfüßlerstand. „Lass dir Zeit“, sagt mein Freund, der noch immer das Boot hält. Ich stehe auf, schwanke und gehe wieder auf alle Viere. „Langsam“, rufen sie von der Bank. Dann stehe ich. Der Paddelkamerad zieht das Kajak auf den Steg und wir tragen es neben meinen Bulli, den ich schon am Tag zuvor dort abgestellt hatte. Ein Foto am Boot, dann stehen wir am Bierwagen und ich bestelle zwei Bier. Meine Beine da unter mir gehören mir nicht wirklich, denke ich und bitte, dass wir uns an den Tisch da vorne setzen. Wir prosten uns zu, mein erster Schluck läuft in mich hinein wie ein Kuss. Dann wird es dunkel!

Ich liege auf einer Decke und jemand fragt mich nach meinem Namen. Der Notarzt und ein Rettungssanitäter beugen sich über mich. Am Arm wird Blutdruck gemessen. Sie sprechen von mir, auch mein Freund. Er ist Diabetiker, höre ich. Langsam komme ich zurück. Mein Freund erzählt mir, dass ich mehrmals am Tisch „weg“ war. Offene Augen, aber weg eben. Irgendwie kann ich mich nicht erinnern. Er erzählt mir, sie wollten mir Cola mit Zucker einflößen. Bis jemand auf die Idee kam, mich hinzulegen. Das war dann wohl auch die entscheidend richtige Maßnahme. Zu wenig Blut im Kopf. Das soll vorkommen. Der Arzt will mich mit ins Krankenhaus nehmen. „Es kann auch etwas Anderes dahinter stecken“, meint er. Ich meine, dass ich das nicht will. Ellenlange Untersuchungen und eine ellenlange Rechnung, nein! Aber ich müsse unterschreiben und mich gleich hinlegen. Ich unterschreibe und verspreche das Hinlegen. Mein Freund holt mir auf Anweisung des Doktors eine Bratwurst und will sie nicht einmal bezahlt haben. Ich kann mich nicht wehren. Die Glückshormone liegen schon. Am nächsten Tag erfahre ich, dass Günther, der Platzwart, gleich den Arzt gerufen habe, das DRK war schon abgefahren. Sie sollten eigentlich für solche „Fälle“ wie ich einer bin, vor Ort gewesen sein. Anschluss verpasst. Soll vorkommen. Doch jetzt bringt mich mein Freund Dietmar, dem ich noch immer unendlich dankbar bin, zum Bus. Warum habe ich gestern schon mein Bett vorbereitet? Habe ich da etwas geahnt? Der Notarzt will sichergestellt sehen, dass noch jemand nach mir schaut, wenn ich da liege. Dietmar organisiert das. Ich liege und schlafe.

Nach 12 Stunden stehe ich auf. Duschen, anziehen, Boot aufladen. Günther spricht mit mir und eine Paddelkameradin, die gestern bei mir Blutzucker gemessen hat, wie sie erzählt. Sie ist freundlich und wir kennen uns bereits von einer anderen Gelegenheit, erzählt sie. Aber ich bin noch nicht so wirklich wieder da. Vielleicht war es die Rintelner Eisfahrt im vergangenen Dezember. Ich werde sie beim nächsten Mal wieder erkennen. Dann erinnere ich mich auch an die Wirtin des Bootshauses, die gestern hilfreich war. Ihr Gesicht sah ich da irgendwo über mir. Sie ist jetzt unterwegs zu einem Vorstellungsgespräch, weil sie mit der Wirtschaft aufhören werden. Später lasse ich ihr eines meiner Bücher schicken mit ein paar Dankesworten. Das mache ich auch bei Günther und Dietmar so. Wie sonst soll ich zum Ausdruck bringen, dass das eine besondere Marathonerfahrung war, diese Hilfe, diese wirkliche Kameradschaft. Vielleicht ist das auch meine wichtigste Erfahrung aus diesem für mich letzten Extrem-Marathon: Es gibt sie die Kameradschaft und eine menschliche Nähe, die man ruhig auch Liebe nennen darf in einer Welt, die immer kälter zu werden scheint. Nein! Die Menschen sind gut, wenn sie Gelegenheit dafür haben!

Dafür aber braucht es keine Siege!

Wenn ich künftig auf der Weser paddele, dann werden sie alle wieder dabei sein, die Erinnerungen und die guten Gefühle und vielleicht auch der eine oder andere Freund, die Freundin, die Flussbiegungen, die Seilfähren, die Orte, die Häuser, der Wind, die Sonne, mein Wesermarathon! Ganz sicher aber nicht der Notarzt, dem ich ebenso und nicht minder herzlich danke. Es ist gut, dass es ihn gibt! Aber für mich gilt künftig: „Aufhören bevor der Notarzt kommt!“

Bürgerreporter:in:

Gerhard Falk aus Dautphetal

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