Bilanz nach 60 Seelenstormen(von Rainer Stankiewitz)
Wen neunundfünfzig Mal nicht der Mut verlassen hat, an sein Schaufenster mitten
in der Landeshauptstadt Schwerin zu kleben,wie er seine gewendeten Landes stimmen hört, darf jetzt eine kleine Jubiläums Bilanz ziehen:
Ganz so heiter wie auf Dorffesten, die nach immer wieder neu im Kirchengebälk
gefundenen Urkunden liebevoll von den sieben noch verbliebenen Bewohnern und
Bauer Korl ausgerichtet werden, geht es beim Seelenstorm nicht zu. Die hier
gewonnenen Erkenntnisse der letzten zwanzig Jahre müssen erst noch entsprechend bühnenreif ins Drehbuch geschrieben werden.Doch mag so ein Stück derzeit keiner sehen. Wer möchte schon erfahren, dass es ihm wirtschaftlich nicht so sehr gut geht – er weiß es ja auch so. Und was nützt ihm, wenn ihm einer sagt, warum er nichts hat? Die aus seiner Sicht Schuldigen kommen nicht ans Schaufenster am Großen Moor. Also, was soll’s? Und wenn es in der alten DDR die Kommunisten nicht gar so toll getrieben hätten, würde es einem jetzt ja auch besser
gehen. Oder etwa nicht? Gewiss, ja, man wird betrogen, es zählt nichts mehr von
dem, was man früher mal konnte.Schweinerei alles! Wählen? Geh ich schon lange nicht mehr. Je mehr mich das Stimmungsbild vieler Ostdeutscher meiner Generation bedrückt, desto eindringlicher fordere ich ihre Mühsal, nach Erkenntnis zu drängen:Nur wer sich seiner unverschuldeten Situation bewusst ist, erwirbt für eine Veränderung seiner Lage nötiges Selbstvertrauen.Wie wir heute wissen, ist selbst der Vorwurf des Westens, dass wir Ostbürger uns zu unmündigen, des aufrechten Gangs unfähigen Marionetten haben erziehen lassen, ohne Halt. Die BRD hatte selbst starkes Interesse daran, die Zweistaatlichkeit so lange wie möglich aufrechtzuerhalten, hat sie doch in vielerlei Hinsicht davon profitiert; sei es beispielsweise durch den Interzonenhandel oder sogar die Entwicklung Bayerns nach dem Krieg. Das Geschwätz von den „Brüdern und Schwestern in der Zone“ erlebte spätestens beim Niedergang der DDR die Blüte seiner Verlogenheit. Neben dem politischen Kalkül der westdeutschen Politikelite war es die maßlose, nicht vorstellbare Gier, mit der die kapitalkräftigen Bundesbürger die DDR auswaideten bis auf den allerletzten Blutstropfen. 87 Prozent des von DDR Bürgern geschaffenen Eigentums raubten sie, 7 Prozent wurde an Ausländer verscherbelt. Bis zum Beitritt zur BRD konnte sich die DDR wenigstens selbst ernähren; zwanzig Jahre danach würde die Region der EX-Republik zur tödlichen Falle für Überlebenswillige – so sehr wüteten die vermeintlichen Sieger, die im Rausch ihres Kreuzzugs gar nicht merkten, was sie anrichteten und nun durch ihre permanenten Transfers in den Osten bald selbst am Bettelstab gehenwerden. Das nährt die Mär vom undankbaren Osten als Fass ohne Boden.In Wahrheit hat man die überwiegende ostdeutsche Bevölkerung nicht nur ihres Eigentums entbunden, sondern sie tief gedemütigt, und – was kaum entschuldbar ist – ihnen Identität und Heimat gestohlen. Ich persönlich fühle mich fremd und unnütz in Mecklenburg, dem Land, in dem ich einst geboren wurde.Mein in fast dreißig Jahren in der DDR erarbeitetes Kapital floss früher in ein Gemeinwesen, das mir bis zu meinem Lebensende – zwar auf bescheidenem Niveau – ein Leben in Würde und sozialer Sicherheit und als anerkanntes Mitglied der Gesellschaft gesichert hätte. Dieses Kapital, das meiner Freunde und vieler anderer Ostdeutscher hat Zehntausende neue Millionäre im Westen hervorgebracht.Sie sind heute die privaten Eigentümer meiner unmittelbaren Umgebung. Ich als Zaungast vor der Tür habe zu tun, diese ethnische Reinigungswelle in der jüngsten deutschen Geschichte zu begreifen. Es wird nicht mehr lange dauern: Wenn meine Generation abgetreten ist, werden massenweise Häuser und Wohnungen zu haben, Klär- und Wasserwerke geschlossen, Verkehrsverbindungen eingestellt und ärztliche Versorgung nicht mehr möglich sein. Gerade entsteht im Herzen Europas ein menschenbefreites Biotop für Ameisen und Rotkehlchen. Dabei sind doch eigentlich Bedingungen für menschliche Existenz hier ideal!
Doch wenn es der Gewinnmaximierung gerade nicht dient, wird ein zweites Mal
der Osten breitgetreten. Kurios, keiner der Verwaltenden scheint es zu bemerken.
Sie sitzen in ihren feinen Beamtenstuben und glauben ernsthaft, es könnte immer
so sein und die aufgeblähte Bürokratie,für deren Loyalität die jeweilige Regierung fünfstellige Gehälter ausreicht,könnte ewig finanzierbar bleiben. Noch reicht es, weil den Hartz-4-Empfängern und Sklavenlöhnern immer weiter die Lebensgrundlage entzogen wird; doch auch hier wird es nicht mehr lange dauern und die Frage beantwortet werden müssen:Wollen wir die Alten vor den Pflegeheimen verrecken lassen, nur damit die Beamten ihre fürstlichen Pensionen genießen können? Wie wollen wir überhaupt zukünftig leben?Für alle politischen Fehlschläge trifft den
kleinen Ostmann am Zaun zu seiner einstigen Heimat keine Schuld. Er ist nur wieder einmal Opfer. Er soll aber wissen, dass kein Grund vorliegt,sich zu krümmen, weil
er angeblich am Tropf des Steu erzahlers hängt. Das übrigens ist die perfideste Masche der neoliberalen Spalter: die Wehrlosen auch noch in einen – vorerst verbalen – Konflikt zu hetzen. Sicher, man kann die Lage im Land aus anderem Blickwinkel sehen, zum Beispiel dann, wenn man seine Erkenntnisse
durch die Friedrich-Ebert-Stiftung oder die Zentrale für Politische Bildung – oder
einfach aus der Schule bezieht.Ich schaue schon mal bei den Nachdenkseiten ein oder bei der Wissensmanufaktur. Zunächst reicht es aber für einen Wissbegierigen aus, die Augen zu öffnen und hier und da mit jungen oder alten Leuten zu sprechen, die im System wegen ihrer Unnützlichkeit – mit Almosen versehen – gar nicht mehr vorkommen und daher amtlich eher unsichtbar sind.Um aktuell zu bleiben, reichte mir zum Kragenplatzen eine halbe Stunde „Hart,aber fair“ am 29. 10. 2012 in der ARD zur besten Sendezeit, wo man bestgelaunt einen Disput über Interessen konflikte vonAbgeordneten absolvierte. Immer, wenn ein strahlender Herr Plasberg den FDP Mann Kubicky und die hübsche LINKE Frau Kipping zum Gladiatorenkampf an - sagt, ist für beste Unterhaltung gesorgt.Worum ging es noch gleich? Es weiß keiner mehr so richtig im spannendsten Wort getümmel. Macht nichts. Worum es
wirklich geht, muss unbedingt entrückt in der Asse oder noch tiefer unter der Erde
liegen bleiben: Nämlich, dass weder dieZuschauer und die Beteiligten als Wähler
noch die Parla mentarier unter ihrer Berliner Käse glocke mit oder ohne ihre
Nebenverdien ste für die Aufrechterhaltung der kapitalistischen Macht relevant
sind.Die Spiele der Neuzeit im Fernsehen,bunt und laut, manchmal wirklich witzig
und geistreich, aber belanglos und vernebelnd,verschweigend und darum gefährlich,
sind die Inszenierung Jener, die uns fest im Griff haben haben. Dass die meisten
von uns diesen Griff ohne Murren und Knurren ertragen und dabei noch Spaß zu haben scheinen, kann Indiz dafür sein, dass mich meine Wahrnehmungen täuschen. Vielleicht liegen ganz andere Ursachen vor. Unter Umständen haben Leute wie ich Defizite, den Status quo vor der mecklenburgischen Haustür als Freiheit zu sichten.
Um vorzubeugen, dass man mich als rückwärtsgewandten, faulen Ossi indentifiziert,
der sich dem Aufbau einer freiheitlich demokratischen Gelddiktatur auf seinem
Heimatflecken verweigert, bilde ich hier den Beweis ab, mich gauckgemäß
„eigen“verantwortlich zu verhalten: mein soeben selbst gebauter Brotbackofen wird
mir helfen, das Gröbste in jener Eigenverantwortung zu überstehen.
Vielleicht werden wir ohnehin bald nicht ganz freiwillig lernen, unser täglich Brot
mit ganz anderen Augen zu betrachten.Schlechts wär’s allemal nicht.
Bürgerreporter:in:Norbert Höfs aus Schwerin (MV) |
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