Hat auf freier Strecke

Halt auf freier Strecke | Foto: mfG- Filmverleih Pandorra....2011
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Andreas Dresen: "Halt auf freier Strecke"

Von Tobias Kniebe
Der einzige deutsche Wettbewerbsfilm rührt das Cannes-Publikum zu Tränen: Andreas Dresen zeigt, wie ein Familienvater an Krebs stirbt - vom ersten Speichelfaden bis zum letzten Sex. Und Harald Schmidt interviewt den Tumor.

Schon mit dem ersten Bild taucht hier eine Frage auf, die auch den Regisseur Andreas Dresen sicher umgetrieben hat: Kann man das im Kino überhaupt noch zeigen, wie ein Mann eine Krebsdiagnose bekommt, nach der er nur noch ein paar Monate zu leben hat? Denn die alte Behauptung, dass das Kino die Realität des Sterbens gern verdränge, ist ja längst nicht mehr wahr. Gerade diese Szene ist in jeder Form und Variation schon hundertfach gedreht worden - da muss man wissen, was man tut.

Bild vergrößern Frank (Milan Peschel) ist der Mann, der die Diagnose bekommt, zusammen mit seiner Frau Simone (Steffi Kühnert): Das Krebsdrama des deutschen Regisseurs Andreas Dresen hat beim Filmfestival in Cannes das Publikum zu Tränen gerührt. Das Drama ist der einzige deutsche Beitrag im offiziellen Programm des 64. Internationalen Festivals. (© dpa)

Dresen entscheidet sich, einen echten Berliner Klinikarzt eine echte Diagnose geben zu lassen, in seinem echten Arbeitszimmer, so wie der Mann es jede Woche mehrmals tut. Auch der banale Anruf wegen einer Operationsraumbelegung, der störend dazwischenkommt, stand in keinem Drehbuch. Er gehört zum Betrieb des Krankenhauses. So beginnt "Halt auf freier Strecke", der deutsche Beitrag in der Reihe "Un certain regard".

Frank (Milan Peschel) ist der Mann, der die Diagnose bekommt, zusammen mit seiner Frau Simone (Steffi Kühnert). Man wird nun im Wesentlichen diese Familie sehen, zu der auch die Teenager-Tochter Lili (Talisa Lilli Lemke) und der neunjährige Mika (Mika Nilson Seidel) gehören, wie sie die letzten Lebensmonate des Vaters erlebt.

Anzeige Ein nicht operierbarer Gehirntumor raubt ihm erst das Gedächtnis, dann die Orientierung, dann die Kontrolle über die Körperfunktionen, schließlich das Sprachvermögen. Er stirbt daheim - in einem neuen, eindrucksvoll hässlichen Reihenhaus am Stadtrand Berlins. Und Milan Peschel sieht aus wie ein aus dem Nest gefallenes Vogelküken, das unersättlich den Schnabel nach Liebe aufsperrt.

Dresen scheut sich nun nicht, alles zu zeigen, was eben passiert - vom ersten tropfenden Speichelfaden bis zum letzten Sex und zur letzten Inkontinenzwindel. Das müde alte Stilmittel des Realismus treibt er auch in den Dialogen (nach Stunden von Interviews mit Betroffenen von allen Beteiligten improvisiert) und in der Besetzung (alle Schwestern und Ärzte sind echte Schwestern und Ärzte) zu eindrucksvollen Höhepunkten. Fast wirkt es wie eine Befreiung, wenn zwischendrin einmal der Tumor phantasmagorisch die Form eines Schauspielers annimmt und zu reden beginnt - er wird, in Franks Tagträumereien, bei Harald Schmidt interviewt.

Von dieser Abweichung abgesehen, vermeidet Dresen alles Metaphysische, auch alle Worte darüber, was dieses Leben, das da zuende geht, nun bedeutet haben könnte. Das ist sicherlich Absicht, es lässt aber auch den Betrachter mit der Frage allein, was Kino - oder Kunst überhaupt - in einem solchen Fall leisten kann.

Die Antwort kann tausend Formen annehmen, aber zum Beispiel liegt sie in der einfachen Präsenz der Tochter am Sterbebett. Sie trainiert Turmspringen und hat darin eine Körperlichkeit und Sinnlichkeit, die sie weder ihrem Hänfling von Vater noch ihrer ewig gestressten Mutter verdanken kann, sondern eigentlich nur dem Wunder des Lebens selbst.

Der sanfte Riese Und das ist dann wieder die umwerfende Macht des Kinos, dass es dieses Mädchen nur anschauen muss, um alle anderen Überlegungen überflüssig zu machen. Es ist eben doch die lebensbejahendste Kunst, die wir haben. "Ich muss zum Training", sagt die Tochter, als der Vater endlich entschlafen ist. Dann ist der Film zuende.

HALT AUF FREIER STRECKE

Regie: Andreas Dresen

Darsteller: Milan Peschel, Steffi Kühnert, Talisa Lilli Lemke,

Mika Nilson Seidel, Ursula Werner, Otto Mellies

Deutschland 2011, 110 Minuten

Produktion: Rommel Film

Kinostart: 17. November 2011 - Pandora Film Verleih

Der Arzt hat die Wahrheit gesagt. Die Zeit ist bemessen.

Warum ich und warum jetzt?

Ein Mann lässt Frau und Kinder zurück, Eltern, Freunde, Nachbarn und die Geliebte von gestern, die Personen in seinem Leben.

Tag um Tag ein Stück Abschied.

Die Worte werden weniger, länger dauert das Schweigen.

Vor dem Fenster wechselt das Jahr die Farben.

Sterben ist eine letzte Arbeit.

Nicht allein sein, während man allein bleibt, das ist vielleicht gut.

Frank und Simone haben sich einen Traum erfüllt und leben mit ihren beiden Kindern in einem Reihenhäuschen am Stadtrand. Sie sind ein glückliches Paar, bis zu dem Tag, an dem bei Frank ein inoperabler Hirntumor diagnostiziert wird. Die Familie ist plötzlich mit dem Sterben konfrontiert.

Bürgerreporter:in:

Wolf STAG aus Essen

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