Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge: Zug in die Vergangenheit -
Immer wieder weisen die Finger hinaus in flüchtige Landschaften. Man sieht Gebäude vorbeiziehen oder Menschen, die draußen freundlich winken, ein Kirchturm, eine Burg, das Haff. Dann wenden sich die Köpfe, winden sich aus dem offenen Abteilfenster und manches Mal formt der Mund ein staunendes Oh. Es ist eine Fahrt auf abgelegenen Gleisen, eine Fahrt in die Vergangenheit. Der Sonderzug „Classic Courier“ nach Masuren und Ostpreußen befördert 360 Menschen. Sie alle haben eine einzigartige Geschichte, ein besonderes Schicksal. Und der Zug bringt sie dorthin zurück. Ein Reisebericht.
Der Schwalbenkönig
Zuhause trägt er den Namen des Schwalbenkönigs. Hier ist er einfach nur Erwin oder Herr Heise. Erwin Heise stammt aus Gurske an der Weichsel. Das gehört inzwischen zu Polen und er eigentlich an den Möhnesee. Dort ist er so was wie ein Bauunternehmer. Zumindest stellt er für mehr als 40 Rauch- und Mehlschwalbenpaare das nötige Material für den Nestbau her: Lehm, Wasser, dazu reichlich Kuhmist als Bindemittel. „Klappt prima und die Schwalben fühlen sich bei mir Zuhause,“ sagt der 81-Jährige stolz. Über diese Tierschutzaktion hatte sogar die BILD-Zeitung in großen Lettern berichtet. Seither kennt ihn jeder nur noch als den Schwalbenkönig vom Möhnesee.
Ein letzter Wunsch
Dass er ein angenehmer, äußerst gutmütiger und freundlicher Mensch ist, merkt man nicht nur an seiner Tierliebe. Dabei hätte Heise Grund genug, an seiner Vergangenheit zu verzweifeln. Denn hier zwischen dem ersten Reisebahnhof in Posen (Poznan) und dem Gebiet um Thorn (Torun) verlor er vor 65 Jahren sein Elternhaus, seine Heimat. Der geliebte Großvater verlor sogar das Leben. Die Russen schlugen ihn mit dem Gewehrkolben nieder. „Doch ich bin darüber nicht mehr böse. Ich denke immer, dass die Schuld an den Schrecken des Krieges nicht bei den einfachen Soldaten zu suchen ist. Die Schuld liegt doch immer bei denen da oben. Und die unten müssen darunter leiden,“ meint Erwin Heise, der auch seinen Bruder durch den Krieg verlor.
Doch von Leid ist heute auf seinem Gesicht keine Spur. Er lächelt und freut sich, als ihn der Sohn der neuen polnischen Eigentümer seines Elternhauses am Bahnsteig eins abholt. „Ich wurde mit offenen Armen empfangen. Es ist immer wieder schön, in die alte Heimat zurückzukehren,“ sagt Heise. Er war schon oft hier, hat mit anderen ehemaligen Westpreußen über 3.000 Euro für den Orgelneubau in der Dorfkirche gesammelt und sogar einen Schüleraustausch zwischen dem alten und neuen Zuhause angeregt. Heute liegt dem 81-Jährigen ein besonderer Wunsch auf dem Herzen. Er redet mit dem Dorfpfarrer, spricht über den Tod. „Wenn ich sterbe, möchte ich hier in der alten Heimat beerdigt werden,“ flüstert er. Und der Geistliche nickt. So soll es sein. Als sich der Zug wieder in Bewegung setzt und die schweren Waggons polternd Fahrt aufnehmen, hat Heise das Ziel seiner Reise eigentlich schon erreicht. Erwin lehnt sich zurück in den weich gepolsterten Sitz im Abteil neun. Er schaut lange aus dem Fenster. Über seine Lippen wandert ein Lächeln.
Glück gehabt
In Abteil sieben des zweiten Wagens sitzen Günter Krohn und seine Ehefrau Christine. Auf der langen Fahrstrecke nach Allenstein (Olsztyn) bleibt viel Zeit für Erinnerungen: „Wenn wir so zurückdenken, können wir sagen, dass wir immer viel Glück im Leben hatten.“ Dieses Lebensglück beginnt schon mit der Gnade der späten Geburt. Dies mag bei einem 80-jährigen überraschend klingen. Doch sind es gerade die wenigen Monate, die Günter Krohn von seinen nahezu gleichaltrigen Klassenkameraden trennen - und ihn letztlich vor dem Kriegseinsatz bewahren. So wird der erst Fünfzehnjährige 1944 zunächst nur zum Schanzen an den Westwall herangezogen. Dabei kommt es zu zwei prägenden Erlebnissen: beide sind Angriffe aus der Luft. Eine Attacke gilt der Brücke, in deren Nähe die Jugendlichen einen Graben ausheben. Später werden Tiefflieger auch den Zug durchsieben, in dem Krohn und seine Kameraden die Heimreise antreten. „Es gab nicht die Spur von Gegenwehr. Da habe ich instinktiv gespürt, dass das mit dem häufig bemühten Endsieg nichts mehr werden kann. Man hatte uns belogen,“ resümiert Günter Krohn.
Im Salonwagen sitzt derweil Daniel am Klavier. Er versucht sich an Chopin. Klingt gut. Ginge vielleicht auch besser, wenn der Zug nur nicht an den falschen Stellen ins Ruckeln verfiele. Das Publikum stört es wenig. An den runden mit gehäkelten Decken geschmückten Tischen wird hinter grünen Samtvorhängen Königsberger Dampflokbier kredenzt. Dazu servieren die Kellner Würstchen und Kartoffelsalat. Wer will, kann in der Bordküche des blauen Speisewagens zusehen, wie man Piroggen zubereitet. Später gibt es noch eine ökumenische Andacht im roten Salonwagen. Dann folgt die Ankunft im Land der tausend Seen: Masuren. Schönes Hotel, direkt am Wasser. Nach der langen Bahnfahrt, die von Koblenz in einem großen Bogen über acht Stunden nach Berlin und weiter nach Posen, am folgenden Tag nach Thorn führte, bleibt nun endlich Zeit für einen abendlichen Spaziergang. Es ist Zeit für Ruhe und Einkehr. Dazu findet man im Land der ungezählten Seen tatsächlich tausende Gelegenheiten.
Historie des Schreckens
Am nächsten Morgen blinzelt die Sonne noch verschlafen über das ruhige Wasser, während die Volksbund-Ausflügler schon wieder auf den Beinen sind. Allgemeiner Aufbruch zur Wallfahrtskirche Heilige Linde, zur berüchtigten Wolfschanze, ins malerische Fischerdörfchen Nikolaiken (Mikolajki) und in die Johannisburger Heide mitsamt Stocherkahnfahrt auf dem glasklaren Kruttinna-Flüßchen. In dem ehemaligen Führerhauptquartier, versteckt in dichten Wäldern, legt sich nicht zum letzten Mal der Mantel der Geschichte über die Sinne: Hier also war es. Von hier aus ergingen so viele unsägliche Befehle, so viele unsinnige Schlachtpläne, die Millionen um Millionen in den Tod trieben. Hier verübten schließlich die Männer um Claus Schenk Graf von Staufenberg ihr missglücktes Attentat. Vieles ist erhalten. Die bis zu acht Meter dicken Betonbunker, machen es der Natur schwer, ihr angestammtes Revier zurückzuerobern. So ist es auch bei den Menschen. Ihre Wunden brauchen lange, bis sie heilen, andere zeichnen uns für immer. Was bleibt, ist ein Mahnmal der Geschichte, die in dicken Stahlbeton gegossene Historie des Schreckens. Es heißt, der Hälfte der Opfer des Zweiten Weltkrieges wäre ihr Schicksal erspart geblieben, wenn Hitler damals am 20. Juli 1944 gestorben wäre.
„Ich habe nicht für Hitler gekämpft, sondern für meine Kameraden,“ sagt Gerhard Späth. Zu diesem Zeitpunkt bewegt sich die insgesamt 360-köpfige Bahnreisegruppe auf eingefahrenen Gleisen. Die Schienen, auf denen der Classic Courier dahinrumpelt, stammen noch von der Königlich Preußischen Eisenbahn. Von Allenstein (Olsztyn) aus geht es nun also über die polnisch-russische Grenze nach Köningsberg (Kaliningrad). Die 750-jährige Stadt an der Ostsee mit dem berühmten Dom gehört heute zu Russland. Deutsche gibt es hier kaum noch. Als Gerd Späth in den Wintermonaten 1944/45 hier in verlustreichen Rückzugsschlachten kämpfen musste, herrschte Not, Chaos und Elend: „Überall Menschen, Soldaten, Frauen, Kinder. Und alles drängte zum Hafen, alles wollte die letzte Chance zur Flucht ergreifen. Viele haben es nicht geschafft. Auch von meinen Kameraden sind viele gefallen. Ich selbst bin mit letzter Kraft vom Ufer in ein bereits ablegendes Landungsboot gesprungen. Aber damit war der ganze Schlamassel noch längst nicht vorbei,“ erinnert sich der 84-Jährige. Unter den hunderten, die sich auf die Schienenkreuzfahrt nach Masuren und Ostpreußen begeben, ist er der einzige, der in diesem schrecklichen Krieg als Soldat gekämpft hat. Darüber zu sprechen – dass ist ihm wie vielen Angehörigen seiner Generation nie leicht gefallen. Mal waren andere, praktische Dinge des täglichen Lebens wichtiger oder der richtige Zeitpunkt verpasst. Manchen überwältigt die Erinnerung derart, dass es schwer fällt, etwas zu sagen, wenn einem gleichzeitig so viel Schreckliches durch den Kopf geht. Und meist ist keiner da – keiner, der richtig zuhört.
Gedanke an die Gräber
Hier im Zug ist das anders. Die meisten Mitreisenden haben einen persönlichen Bezug zu den schönen Landschaften im ehemaligen Osten Deutschlands. Die Bewältigung des Heimatverlustes ist für sie eine Lebensaufgabe. Manches Leben ist auch dafür zu kurz. In den Abteilen tauschen die Schicksalsgenossen ihre Erinnerungen aus. Und während der Zug Stunde um Stunde auf den östlichsten Punkt der Schienenkreuzfahrt zusteuert, reisen einige seiner Passagiere weiter in die Vergangenheit. Neben dem Idyll der alten Heimat, den bunten Gassen voller geschäftiger Handwerker, den fruchtbaren, überbordenden Bauernhöfen und grünen Wiesen Ostpreußens, blitzt hier und da auch der Gedanke an die Gräber auf. Sie sind häufig die letzten Zeugen der eigenen Geschichte. Die gegen Ende des Zweiten Weltkrieges zur Festung ernannte Domstadt hat viele Tote gesehen. In Königsberg und den umliegenden Gemeinden der russischen Exklave gibt es zahlreiche Soldatenfriedhöfe. Dorthin führt kein Gleis. Dennoch sind diese Kriegsgräberstätten für viele Reisende wie Gerhard Späth der Ort, an dem sie ankommen möchten.
Stilles Gedenken
Ausnahmsweise treten die Angehörigen der Kriegstoten diese Reiseetappe mit dem Bus an. Die Zeit ist knapp bemessen, der Zug steht schon wieder in umgekehrter Richtung nach Westen weisend und wartet. Doch in dem Moment, in dem die Angehörigen die Grabstätten betreten, scheint die Zeit still zu stehen. Dann entdecken Susanne und Karl Pannekens im Namenbuch der Kriegsgräberstätte Kaliningrad ihren Angehörigen: „Jakob Pannekens, Dienstgrad Flieger.“ In Fischhausen ergeht es Gertrud Schütt ähnlich. Hier liegt ihr erster verlobter Paul Hermann, den sie noch in der Schulzeit kennen gelernt hat. Gemeinsam sprechen die Mitreisenden das Vater Unser. Auch in Pillau (Baltijsk) gibt es ein gemeinsames Gedenken. Hier vermutet Gerhard Späth die meisten seiner gefallenen Kameraden. Er legt einen großen Strauß roter Nelken an das Hochkreuz, um das der kühle Ostseewind streift. Es ist still geworden.
Rückfahrt über die alte Haff-Strecke: Hierher verirrt sich nur selten ein Zug. Die Menschen, die hier die Sonne in ihren kleinen Gärten am Bahndamm genießen, schauen verwundert auf. In den Abteilen hört man, wie die Äste entlang der wenig befahrenen Strecke gegen Fenster und Abteildächer schlagen. Es geht nur langsam voran. Doch der Blick auf den malerischen Küstenstreifen, auf das hohe Sumpfgras am Ufer und auf das helle Glitzern der seichten Brandung ist einmalig schön. Bahnfahrerromantik. Es ist die wohl schönste Strecke der gesamten Schienenkreuzfahrt. Ein echter Geheimtipp für alle Pufferküsser und Nietenzähler, wie die Bahn-Liebhaber scherzhaft genannt werden.
Bis Danzig ist es nun nicht mehr weit. Noch eine Übernachtung, noch eine Stadtführung, dann geht es schon wieder heimwärts. Für viele Reisende des Zuges in die Vergangenheit war es ein einmaliges Erlebnis. Gerhard Späth sieht es anders. Während er auf der Rückfahrt das Preisausschreiben gewinnt und auf dem Führerstand der Lok mitfahren darf, zieht er sein Resumée: „Die Reise war schön aber die Zeit einfach zu knapp. Es war wie ein Tropfen auf den heißen Stein. Ich werde wiederkommen.“
Die nächste Schienenkreuzfahrt ist für 22. bis 28. Juni 2010 geplant.
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(ein/kip)
Bürgerreporter:in:Winfried Kippenberg aus Bad Grund (Harz) |
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