2. Teil: Kinder- und Jugendjahre im Schatten des Nationalsozialismus - Erinnerungen der 89-jährigen Zeitzeugin Maria Bengtsson Stier
....Ich erlebte Hitler im Jahr 1931 (es kann auch 1932 gewesen sein) als Siebenjährige zum ersten Mal, als er auf einer seiner Propagandareisen in unserer Heimatstadt Alzey / Rheinhessen kam, um eine Rede im Stadion zu halten. Schon bevor er erschien, konnte man überall kleine weiße unscheinbare Klebezettelchen entdecken. Eines Morgens waren sie ganz einfach da, so, als wären sie in der Nacht vom Himmel gefallen. Sie klebten auf dem Briefeinwurf der Häuser, an Eingangstüren, an Straßenlaternen, an Schaufenstern.
Auch an dem Briefeinwurf unseres Nachbarn klebte ein Zettelchen. Ich ging damals ins zweite Schuljahr und hatte, seitdem ich lesen konnte zur Gewohnheit, alles zu lesen was gedruckt und für mich erreichbar war. Ich wanderte also umher und buchstabierte mich durch die Klebezettelchen „hindurch“. Einen Spruch habe ich bis zum heutigen Tag gut behalten. Da stand: „Wie der Herr, so´s Geschärr (Geschärr = Geschirr) – wie der Hitler so der Butler“. Ich verstand die Worte an sich, aber den Inhalt natürlich nicht. Also ging ich zu meiner Mutter und fragte sie was das zu bedeuten hat. „Ach“, sagte sie und winkte ab, „das ist nichts, worum du dich kümmern sollst“. Und dann legte sie mir die Hände auf die Schultern und schaute mich ernst an. „Heute darfst Du nicht auf die Straße gehen, das ist gefährlich. Bleibe im Hof, dass ich dich sehen kann“, sagte sie.
Nun begriff ich überhaupt nichts mehr. Wieso war es gefährlich auf die Straße zu gehen? Wir wohnten in einem sehr ruhigen, gepflegten Wohnviertel und wir Kinder spielten doch immer auf der Straße, die für den Verkehr gesperrt war. Warum sollte es denn ganz plötzlich gefährlich sein, sich auf der Straße aufzuhalten? Eine nähere Erklärung bekam ich aber nicht.
Gehorsam ging ich in den Hof, doch war es unerhört langweilig sich alleine im Hof aufzuhalten, und außerdem war meine Neugierde geweckt. Ich schlich zum Hoftor, machte es auf und streckte meinen Kopf hinaus. Die ganze Straße war menschenleer, keine Menschenseele weit und breit. Vorsichtig ging ich hinaus, blieb stehen, schaute mich um und ging dann zögernd einige Schritte weiter. Nichts, es passierte gar nichts. Nun ging ich zielbewusst schnurstracks in Richtung Roßmarkt weiter. Der Roßmarkt war und ist ein großer freier Platz, der von Geschäftshäusern umrahmt ist und damals der Sammelpunkt aller „Roßmarktsteher“ war. Diese Roßmarktsteher waren arbeitslose Männer, die sich dort täglich in kleinen Interessengruppen zu ihren Diskussionen versammelten.
Auf meinem ganzen, langen Weg durch die Schlossgasse begegnete mir weder Mensch noch Tier. Das fand ich seltsam, aber doch auch hochinteressant, denn es deutete auf eine kommende Überraschung hin. Und richtig – als ich zum Roßmarkt kam standen dort Menschen dicht an dicht…..
Fortsetzung folgt!
Bürgerreporter:in:Gisela Görgens aus Quedlinburg |
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