Größenwahn in Stadtallendorf
Seit dem 14.12.2016 hält morgens in Stadtallendorf IC 2273 als einziger Fernverkehrszug. Das freut verschiedene Vertreter aus Politik und Wirtschaft, die laut einem Artikel in der Oberhessischen Presse vom 25.2.2016 gleich die Gelegenheit ergriffen, bei der DB nach mehr IC-Halten zu betteln. Als Begründung, warum ein IC-Halt nötig sei, werden jedoch Argumente genannt, bei denen die Bedeutung der Stadt oder eines InterCity-Halts maßlos überschätzt wird.
Riesige Stadt ohne IC-Halt
Wir lesen in der OP: "Immerhin ist Stadtallendorf die größte Stadt an der Intercity-Linie 26 (Stralsund-Hamburg-Karlsruhe) ohne festen Halt mehrfach am Tage."
Stadtallendorf ist die größte Stadt an der Main-Weser-Bahn zwischen Marburg und Kassel, also auch größer als die IC-Halte Treysa und Wabern. Eine Statistik vom Land Hessen gibt folgende Gemeindegrößen an:
Wabern 7 286
Treysa 17 909 (inklusive Ziegenhain)
Stadtallendorf, 21 057
Butzbach, 25 120
Bad Nauheim, 31 309
Bad Vilbel, 32 655
In Butzbach, Bad Nauheim und Bad Vilbel fährt nicht nur der IC ohne Halt durch, sondern normalerweise auch der RegionalExpress von/nach Kassel. Diese Orte sind nicht nur größer als Stadtallendorf, sondern hätten einen Grund mehr, sich über eine fehlende Fernverkehrsanbindung zu beschweren. Darüber hinaus gibt es natürlich noch weitere Orte größer als Stadtallendorf, in denen der IC nicht halten mag.
Zeitreise im IC?
Man kann auch die Geschwindigkeit des InterCity-Zugs überschätzen: "Bahnpendler, die den IC morgens Richtung Frankfurt nutzen, sparen gegenüber der Rückfahrt ohne Fernzug eine halbe Stunde - allein auf dem kurzen Abschnitt Marburg-Stadtallendorf."
Der IC 2273 braucht für die Strecke Stadtallendorf - Frankfurt 78 Minuten. Wer für die Rückfahrt einen RegionalExpress nach Kassel nutzt, braucht 72 - 76 Minuten, ist also etwas schneller.
Für eine Bahnfahrt zwischen Stadtallendorf und Marburg benötigt man meist 14-20 Minuten. Der langsamste Zug an Werktagen ist 23 Minuten unterwegs. Zum Einsparen einer halben Stunde müsste man selbst nach einer Reise mit Lichtgeschwindigkeit noch eine kleine Zeitreise antreten.
Franfurt-Pendler können übrigens bei der Rückfahrt mit dem InterCity etwa 15 Minuten Fahrtzeit einsparen, wenn sie nahe des Westbahnhofs arbeiten. Der IC hält nämlich nachmittags am Westbahnhof, der RegionalExpress nach Kassel nicht.
Gute Bahnanbindung?
Im Artikel findet sich folgendes Zitat von Winter-Personalleiter Andreas Fiedler: "Immer wieder fragen Kunden und Lieferanten, wie es um unsere Zuganbindung steht."
Für die Qualität einer Bahnanbindung sollten eigentlich Parameter wie Zahl der Verbindungen zu wichtigen Bahnknoten und Reisezeiten bestimmend sein. In Politik und Wirtschaft schaut man wahrscheinlich mehr nach den Produktklassen. Mit einem ICE-Halt fühlt man sich groß, während eine gute RegionalExpress-Anbindung nicht der Rede wert ist.
Die Kurstadt Bad Homburg (über 50000 Einwohner) hätte mehr Grund zum Jammern. Weder Fernverkehr nach RegionalExpress lassen sich im 2013 renovierten Bahnhof blicken. Stattdessen fahren von dort RegionalBahnen in den Hintertaunus und zahlreiche S-Bahnen. Planungen zu einer Anbindung an den Fernverkehr oder das zukünftige Hessen-Express-Netz sind nicht vorhanden. Stattdessen möchte man die U-Bahn von Gonzenheim und eine Straßenbahn (Regionaltangente West) in den Bahnhof fahren lassen.
InterCity statt Auto
Von der Bundeswehr wird genannt, dass man wegen Standorten in ganz Deutschland und Wochenendpendlern eine gute Erreichbarkeit benötigt. Offensichtlich geht das nur mit IC: "Doch momentan zwingt sie die Situation zum Ausweichen auf das eigene Auto, auch Kreitmayr ergeht es momentan so."
Durch den IC-Halt ergeben sich bis zu 50 Prozent mehr Verbindungen, und die Fahrtzeit kann bis zu einer halben Stunde günstiger sein. Das hängt aber vom Fahrtziel ab. Die Verbesserungen für Fernpendler sind jedoch nicht so riesig, dass wegen des IC-Halts ein großer Teil der autofahrenden Soldaten auf die Bahn wechseln wird. Bei Reisezeiten von mehreren Stunden fällt es nämlich nicht mehr so ins Gewicht, ob man eine halbe Stunde länger unterwegs ist oder die Abreise um eine halbe Stunde verschieben kann.
Großgemeinde Stadtallendorf
Marian Zachow meint, dass ein IC-Halt so bedeutend ist, dass die Einwohner aus den Nachbarorten Kirchhain und Neustadt und zahlreichen Dörfern in nah und fern dafür nach Stadtallendorf kommen: "Die Stadt verfügt aus Sicht von Vizelandrat Marian Zachow (CDU) über ein Einzugsgebiet von rund 50000 Menschen, nur allein, wenn man auf den Ostkreis schaut. Fasse man das Gebiet größer, also bis Alsfeld oder Frankenberg, so wären es rund 100000 Menschen."
Mit tollen Bahnverbindungen kann man zahlreiche Einpendler aus der Umgebung anziehen. Das zeigen die ICE-Bahnhöfe Limburg-Süd und Montabaur, wo die ICE-Neubaustrecke eine große Erweiterung des Angebots bedeutete. Ein alle zwei Stunden verkehrender IC, der die bei Pendlern beliebten Fahrtziele Marburg, Gießen, Frankfurt auch nicht schneller erreicht als der RegionalExpress, kann das sicher nicht. Ein Kirchhainer, der nach Frankfurt möchte, wird nicht unbedingt in die Gegenrichtung nach Stadtallendorf fahren, um dort in den IC zu steigen. Man sollte nicht vergessen, dass die Mehrzahl der Züge auch in Kirchhain oder Neustadt hält, und dass man mit dem Auto auch zu den IC-Halten Marburg und Treysa fahren kann.
Planlos bei der Bahn
Im Gegensatz zum Ende 2002 abgeschafften InterRegio kann der InterCity nicht mit RMV-Fahrscheinen genutzt werden. Für Inhaber von RMV-Zeitkarten besteht aber die Möglichkeit, eine Aufpreiskarte, welche eine Woche oder ein Monat gültig ist, zu erwerben. Diese wurde aber bisher nicht für Fahrten ab/nach Stadtallendorf angeboten. Früher gab es dafür keinen Bedarf, weil (außer beim Hessentag) maximal ein IC pro Woche in Stadtallendorf hielt. Das änderte sich mit dem Halt des stark von Pendlern genutzten Zugs IC 2273.
Leider vergaß es die Deutsche Bahn, das Angebot von RMV-Aufpreiskarten um den Bahnhof Stadtallendorf zu erweitern. Nachdem sich ein Pendler beschwert hatte, dass er keine Aufpreiskarte kaufen könne, wurde der Aufpreis für RMV-Zeitkarteninhaber von/nach Stadtallendorf bis zum 31.3.2016 erlassen. In einem Zeitungsartikel der Oberhessischen Presse vom 7. Januar wurde den Lesern zudem versprochen:
"Die Bahn will ihre Zugbegleiter jetzt über diese Lösung informieren. Den Fall, dass ein Kunde mangels Information von einem Zugbegleiter doch am Ende als Schwarzfahrer eingestuft wird, hält die Sprecherin für „hypothetisch“."
Ich habe es am 22.1. und am 11.3.2016 mit einer Fahrt nach Marburg ausprobiert. Das Personal im Zug hatte keinerlei Ahnung davon, dass die Fahrt nach Marburg bis 31.3. aufpreisfrei ist. Immerhin haben sie die Fahrt ohne Aufpreis geduldet. Ich wäre auch nicht begeistert gewesen, mich in einem DB-Reisezentrum für die Rückerstattung eines fälschlicherweise erhobenen Fahrpreises in die Warteschlange einzureihen.
Ausblick
Die Bahn hat 2015 ein neues Fernverkehrskonzept präsentiert, welches Änderungen für die Main-Weser-Bahn bringen wird. Der IC-NEU wird in vielen Fällen mit Doppelstockzügen gefahren. Zu den Zielen gehört eine Einbindung fast aller Städte mit mehr als 100.000 Einwohnern, was auch mit neuen Halten und Linien verbunden ist. Ab Dezember 2019 soll zweistündlich eine Linie Münster-Siegen-Frankfurt verkehren, die dann zwischen Gießen und Frankfurt irgendeinen Regionalzug von der Main-Weser-Bahn drängen oder ausbremsen wird. Den IC über Kassel wird es weiterhin geben - vielleicht kann man mit den neuen Doppelstockwagen die Zeitverluste durch einen Halt so weit verringern, dass noch Zeit für den Halt in Stadtallendorf bleibt. Allerdings sollte man nicht vergessen, dass Städte mit weniger als 25000 Einwohnern nicht zu den im IC-Netz anvisierten Zielen gehören.
Im Konzept wird auch eine stärkere Tarifintegration (Fern-/Nahverkehr) angestrebt. Ob man so weit gehen möchte, den IC in den RMV-Tarif zu integrieren, wird sich zeigen.
Autobahn oder Flughafenausbau?
Ähnlich wie für einen InterCity-Halt fallen Politikern und Unternehmen immer "gute" Argumente ein, warum man ihren Ort ans Autobahnnetz anbinden oder den nahegelegenen Flughafen ausbauen sollte. Wenn das Vorhaben mit ähnlich stichhaltigen Argumenten begründet wird, kann das Konsequenzen wie verschwendete Geldmittel oder unnötige Umweltzerstörung zur Folge haben.
Links
InterCity mit eingeschränkter Nutzungsmöglichkeit
Zuschlagsfrei zwischen Treysa und Marburg
Fernverkehr in Stadtallendorf
ICE-Halt in Stadtallendorf
http://www.statistik-hessen.de/themenauswahl/bevoe...
Artikel der Oberhessischen Presse (nur gegen Bares lesbar):
http://www.op-marburg.de/Lokales/Ostkreis/Breites-...
http://www.op-marburg.de/Lokales/Ostkreis/Intercit...
Bürgerreporter:in:Sören-Helge Zaschke aus Stadtallendorf |
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