Zwergenküsse
Im Sommer meines fünften Lebensjahres mussten wir in der Pension "Haus Daheim" in Altenbrak im Bodetal zusammen rücken und vorübergehend unser Schlafzimmer aufgeben. Es kamen zum ersten Mal "Sommerfrischler" ins Haus, Funktionäre des sowjetzonalen Gewerkschaftsbundes mit ihren Familien.
Mit einer Familie aus Leipzig kam Susi, ein blonder Lockenkopf, fünf Jahre alt, wie ich. Nun hatte ich neben meinem kleinen Bruder eine Spielkameradin in der kindergartenfreien Zeit, mit der ich bald unzertrennlich war. Aber die Urlaubszeit ihrer Eltern war nach wenigen Wochen vorüber und sie musste wieder nach Leipzig zurück.
Am letzten Tag fragte sie mich: "Kommst du mit? Wollen wir ins Dorf gehen?" Wir meldeten uns bei den Eltern ab und schlenderten zusammen die Hauptstraße entland in Richtung Dorfzentrum. Fast angekommen, sagte sie: "Das ist unser letzter Tag zusammen. Morgen fahre ich nach Hause." Ich stutzte etwas, weil sie "unser" gesagt hatte. "Ja", sagte ich, "dann können wir nicht mehr zusammen spielen." "Dann werden wir uns nicht mehr sehen", merkte sie traurig an. "Vielleicht kommt ihr ja nächstes Jahr wieder?" versuchte ich zu beruhigen. "Das glaube ich nicht", antwortete sie. "Wir dürfen nur einmal fahren. Ich werde meine Mutter bitten, dass sie dir eine Postkarte schreibt." "Ob sie das wohl macht, Susi?" "Wenn nicht, werde ich an dich denken und du musst auch an mich denken und weil heute der letzte Tag ist, möchte ich dir ein Küsschen geben." "Susi", wandte ich ein, "mitten auf der Straße! Wenn Leute kommen, dann sehen sie das doch!"
Aber Susi war praktisch veranlagt! "Guck mal, da steht doch der Leiterwagen. Da kriechen wir jetzt runter und dann sieht uns keiner!" Und so geschah es.
Ich habe nie mehr etwas von Susi gehört. Im folgenden Jahr kamen andere Familien zur Sommerfrische. Zu meinem nicht geringen Erstaunen fand ich im vergangenen Jahr eine alte Postkarte aus Altenbrak. Sie zeigt u. a. den Leiterwagen, unter dem sich Susi und ich damals vor neugierigen Augen versteckt hatten.
Die Geschichte als solche, Heidi, hatte ich nie vergessen. Habe mich aber sehr gefreut, dass es eine Postkarte gibt, die zeigt, wo der Bauer, der dort auf dem Bild links wohnte, seinen Wagen zwischen Wohnhaus und Scheune abstellte. Lebendig wurde wieder die Erinnerung daran, dass hinter dem Fenster beim Wagen gebuttert wurde. Wir haben da manchmal bei der Bäuerin eine Kanne Buttermilch abholen können.