Der Türenknaller

Nichts irritierte den alten Wiedemeier so, als die Stille, die ihn neuerdings umgab.
Als er noch in der Innenstadt wohnte, hatte er jahrelang dem Bremsen und Anfahren der Straßenbahn vor dem Haus, dem Anlassen der Motoren, dem Quietschen der Reifen, sowie dem ständigen Zuschlagen von Autotüren gelauscht.
Von all dem aber vermisste er in der neuen Umgebung am meisten das Türenschlagen. Bis tief in die Nacht hinein war früher das Schlagen der Autotüren vor der Kneipe manchmal zu hören gewesen. Sogar die verschiedenen Autotypen konnte er schon alleine am Klang der zugeschlagenen Türen, Kofferräume und Motorhauben voneinander unterscheiden.

Nachdem die Wiedemeiers in die kleine Wohnung am Stadtrand umgezogen waren, vermisste er die vertrauten Geräusche von früher und geriet zunehmend in Depressionen.

Damals blieb ihm nur noch, seine Frau ab und zu mit Verletzungen und Gemeinheiten dermaßen in Rage zu bringen, dass sie Türen knallend durch die Wohnung lief.
Als er sie jedoch mit seinen Gemeinheiten ins Grab gebracht hatte und von da ab sein Dasein als Witwer fristen musste, war er auch noch dieser Möglichkeit beraubt.

Tagelang warte er vergeblich auf Baustellenfahrzeuge in der Nachbarschaft oder tieffliegende Düsenjäger inklusive Schallknall.
Hingegen richtete man vor seinem Haus eine Dreißigerzone ein, Überflüge der Militärjets wurden auf Drängen der Grünen Partei ganz eingestellt und Autos schlichen nur noch im Schritt-Tempo vorbei oder benützten die Umgehungsstraße.
Einzig die Fahrzeuge der Müllabfuhr sorgten an einem Tag in der Woche morgens um sieben Uhr wenigstens ein paar Minuten lang für erträgliche Geräuschbelebung.
Aber auch diese Fahrzeuge wurden immer moderner und leiser.
In diesen anbrechenden Zeiten gewisser Beruhigung musste Wiedemeier befürchten, dieserlei Geräusche bald überhaupt nicht mehr vernehmen zu dürfen.
Ihm blieb nur noch, alle Türen und Fenster der Wohnung weit zu öffnen, um für Durchzug zu sorgen, damit wenigstens ein paar Mal am Tag ein Fenster oder eine Tür von selbst krachend zu fiel.
Aber der ständige Durchzug machte ihn zunehmend kränker und an windstillen Tagen war ihm damit ohnehin nicht geholfen.

In seiner Not heftete er Zettel an die Pinwände aller Supermärkte der Umgebung:

„Stundenweise Nebenjob als Türenknaller zur häuslichen Geräuschbelebung zu vergeben.“

Schon wenig später meldete sich ein kräftiger, junger Mann, der früher als Maurer gearbeitet hatte, nun aber arbeitslos war.
„Zwischen Tür und Angel lässt es sich schlecht reden“ meinte dieser und drängte sich an Wiedemeier vorbei in die Wohnung.
„Massive Buche, wie?“, murmelte er, während er träumerisch über den Türrahmen strich.
Dann ein Ruck, und schon krachte die schwere Tür ins Schloss.
„Das sind halt Türen!“ begeisterte sich der Türenknaller.
Wiedemeier war ebenfalls begeistert und führte ihn sogleich durch die gesamte Wohnung.
„Ich hoffe, Sie haben hier keinerlei Schiebe-, Dreh-, Pendel-, Hinter- oder Falttüren in Ihrer Wohnung.“
„Nein, um Gottes Willen“, meinte Wiedemeier, „natürlich nicht, wo denken Sie hin.“
„Na dann ist es gut. Wissen Sie“, meinte der Türenknaller weiter, „den Einbau von Schiebetüren kann man bestenfalls bei Baufirmen und Genehmigungsbehörden gerade noch tolerieren.
Drehtüren hatten wir früher ohnehin nur in Anwaltskanzleien eingebaut und Pendel- oder Flügeltüren wiederum höchstens mal in Gebäude von Parteizentralen.
Hintertüren hingegen trifft man ausschließlich bei Finanzämtern, Banken oder Ministerien an.
Falttüren jedoch kann ich mir beim besten Willen nur in Pfarreien und Klöstern vorstellen. Und Falltüren – na ja, die hab ich bisher nur in Forsthäusern angetroffen.

Aber bei Ihnen scheint ja alles in Ordnung zu sein, alles sehr massiv. Da lassen sich wirklich recht vernünftige Geräusche erzeugen!“
Mit einem Knall schlug er plötzlich die Wohnzimmertür zu, dass der Mörtel vom Türzargen bröckelte.
„Das ist genau das, was ich mag“, begeisterte sich Wiedemeier und führte den Türenknaller weiter von einem Zimmer ins nächste.
„Jede vernünftige Tür will doch täglich mehrmals zugeschlagen werden“, meinte der Türenknaller, nachdem er mit allen Türen fertig war, „denn dann kann sie doch erst zeigen, was tatsächlich in ihr steckt!“

„Gut“, meinte Wiedemeier, „ich zahl’ Ihnen 12 Euro in der Stunde, kommen Sie ab heute täglich zwei Mal hier für zwei, drei Stunden vorbei – wäre das möglich?“

Bürgerreporter:in:

Wolfgang Kreiner aus München

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