Schräge Gedanken, Teil 2
Eigentlich wollte ich von den nächsten schrägen Gedanken erst in einer Woche berichten, aber so lange halte ich es einfach nicht aus. Und schon gar nicht, wenn dauernd schräge Dinge geschehen.
Nachdem ich den ganzen Tag Asiatische Marienkäfer in allen Entwicklungsstadien untersucht habe, wollte ich eigentlich an einem Programm weiter schreiben, das ich in den nächsten Tagen fertig haben will. Dann erfuhr ich, dass meine Nachbarn für heute, ab 1800 ein Gartenfest organisiert haben, zu dem ich auch kommen soll. Nur, ich geh nicht gerne auf Feste, weil dort gleich drei Dinge zusammen kommen, die ich nicht so besonders mag: Viele Leute auf engem Raum, laute Musik und Alkohol. Mal sehen, wie ich mich da am besten drücke…
Pünktlich um 1753 hat dann ein Platzregen mit Gewitter eingesetzt. Zum Glück haben die ein riesiges Zelt aufgestellt. Und mit noch mehr Glück fällt gar nicht auf, dass ich nicht auftauche.
Um viertel nach Sechs, ich war inzwischen fleißig am Software hacken, war Kaffeenachschub fällig. Als ging ich hoch in die Küche, kochte mir eine große Tasse voll, nahm mir eine Semmel mit und lief wieder hinunter ins Labor. Lief, nicht ging.
Schwerer Fehler. Drei Stufen bevor ich unten war, bin ich dann auf irgend etwas Rutschiges getreten, meine Füße machten sich selbständig, und ich hatte keine Hand frei, um mich festzuhalten. Sollte ich meine Tasse loslassen? NIE! Das war meine Lieblingstasse, mit Snoopy im ersten Weltkrieg! Und in der anderen Hand? Eine Sesamsemmel! KEINESFALLS! Wie soll ich denn eine heruntergefallene Semmel jemals wieder sauber bekommen?!?
Also streckte ich die Arme nach vorne, setzte mit dem A...h hart auf einer Treppenstufe auf und rutschte mit ausgestreckten Beinen weiter. Bis mich ein Schrank unten im Gang stoppte. Schmerzhaft. Aber viel interessanter war die Optik bei diesem „Sturzflug“:
Da der heiße Kaffee in meiner Tasse - wie alles andere auch - der Massenträgheit gehorcht, blieb er erst einmal, wo er war. Nur leider nicht in der Tasse, die sich auf Grund meiner rudernden Abfangbewegungen sehr viel zu schnell nach unten bewegte. Daher hatte ich eine heiße Kaffeewolke vor mir, die sich quälend langsam, aber genau so schnell wie ich, nach unten bewegte.
Und auf ihrem Weg zuerst mich, dann den Boden und Teile der Wand traf. In der halben Ewigkeit die verging, bis ich endlich zum Stehen, äh, Liegen kam, und die Teilchen der heißen Kaffeewolke die Endpunkte ihrer Bahnen erreichten, erinnerte ich mich an meinen alten Physikprofessor von der TU München, der seinerzeit – muss 1979 gewesen sein - eine Geschichte von seinem alten Physikprofessor, ebenfalls von der TU, erzählt hat.
Sein alter Professor war in den 50er Jahren oft bis sehr spät in seinem Büro im dritten Stock der TU in der Arcisstraße geblieben. Das Gebäude wurde damals gerade renoviert, und am Abend konnte er eben besser arbeiten, als bei dem Lärm tagsüber. Irgendwann, es war schon dunkel, wollte er nach Hause, packte seinen Kleinkram auf ein Tablett und verließ sein Büro. Wie jeden Tag ging er den Gang entlang, zu einer Tür ins Treppenhaus, öffnete die Tür und ging weiter.
Nur war das Treppenhaus im Zuge der Renovierung abgerissen worden, und der Hausmeister hatte vergessen, die Tür – die mittlerweile ins Nichts führte – abzuschließen.
Als er Tage danach im Krankenhaus wieder aufgewacht ist, wollte sein Arzt wissen, was er sich dabei gedacht hatte. Und der Professor erinnerte sich:
Als er aus dem dritten Stock fiel, konnte er vor sich die Dinge fliegen sehen, die er auf das Tablett gelegt hatte. Sie fielen genau so schnell wie er selbst. Also dachte er: „Stimmt. Die träge Masse ist gleich der schweren Masse.”
Inzwischen war ich unten im Gang vor dem Labor angekommen, hatte in einer Kaffeewolke geduscht, die sich aber nicht so heiß anfühlte, wie ich das erwartet hatte. Vermutlich hatte sich die Oberfläche der Kaffeepartikel in der Kaffeewolke so weit vergrößert, dass die heißesten Anteile vom Luftstrom als Kaffeedampf weggeweht worden waren.
Obwohl ich wie ein Mehlsack eingeschlagen war, hatte ich keine Verletzung. Hm, also deutlich mehr Glück gehabt als der alte Professor meines alten Professors. Bei dem übrigens nichts zurückgeblieben ist.
Als mir bewusst wurde, dass ich soeben sehr erfolgreich einen Mehlsack imitiert hatte, fiel mir die Geschichte von „Käsärmchen”, meinem noch viel älteren Deutsch und Englisch Lehrer wieder ein. Das war 1971 im Asam Gymnasium in München.
Ich war damals in der 7. Klasse, die Schule war chronisch Pleite und alles war viel zu eng. Deshalb hatte man im Keller die Wände zwischen jeweils zwei Abstellkammern herausgebrochen, und verwendete die nun entstandenen etwas größeren Abstellkammern als Klassenzimmer. Gut, für 43 Schüler war darin schon Platz, nur hatten die Pech gehabt, die genau über den Resten der herausgebrochenen Mauer saßen. Da konnte man keinen Tisch oder Stuhl wackelfrei hinstellen. Aber einen Vorteil hatte das improvisierte Zimmer: Es gab zwei Türen: Eine hinten und eine vorne. Nur abschließen konnte man sie meistens nicht, weil oft die Schlösser sabotiert waren…
Da die Schule schon irgendwie ein wenig vergammelt war, und es kaum Mülleimer gab – höchstens in ausgewählten Klassenzimmern – war es – zumindest in meiner Klasse – üblich, Müll einfach über die Schulter nach hinten zu werfen. Wenn das Zeug zu sehr stank, kam schon irgendwann eine Putzkolonne, um es wegzuräumen.
An dem besagtem Tag hatte jedoch einer meiner Mitschüler seine Bananenschale nicht weit genug geworfen. Sie war vor der hinteren Tür gelandet. Und genau durch die kam Käsärmchen. Trat wie in jedem Slapstick Film üblich auf die Schale, rutschte mit beiden Beinen aus und schlug wie der bereits erwähnte Mehlsack mit dem Rücken auf die wackligen Bodenbretter. (Von denen ich annehme, dass sie seinen Sturz abgefedert haben)
Geschocktes Schweigen in der Klasse.
Soweit ich mich erinnere, sogar das einzige mal, dass hier wirklich Ruhe herrschte.
Käsärmchen rappelte sich wieder hoch, sah unseren Klassenkasperl an, der unmittelbar neben der Tür saß, und schrie ihn an:
„Zapf!!! Ich frage sie auf Ehre und Gewissen, waren sie das?!?“
Günter Zapf – Künstlername Ernie Moore -, der ältere Bruder von Rudi Zapf, dem Musiker, verneinte, was auch sofort alle bestätigten. Er hatte ja wirklich nichts mit der Bananenschale zu tun gehabt.
„Dann ist ja gut. Aber wenn ich nicht so sportlich wäre, dann hätte ich mich jetzt ernsthaft verletzen können.” (Niemand lachte!)
Käsärmchen und sportlich??? Der hatte diesen Spitznamen erhalten, weil aus den kurzen Ärmeln seines Hemdes zwei zahnstocherdürre weiße Ärmchen herausschauten, mit denen er vermutlich keine 10 Kilogramm heben konnte.
Soviel zu den unterschiedlichen Graden von Selbsterkenntnis und Selbsteinschätzung.
Hm, und so langsam beginne ich zu verstehen, wieso mein Großvater in der 50er Jahren überall Geländer eingebaut hat, und darauf bestand, dass ich mich immer daran festhalte, wenn ich eine Treppe rauf oder runter lief...
So, das sind jetzt genug schräge Gedanken. Dann hoffe ich mal, dass es ein paar Tage dauert, bis die nächste Geschichte fällig wird.
Bürgerreporter:in:B Göpfert aus München |
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