Pause

Die Pausenglocke bimmelt durch das gesamte Schulhaus.
Das Einmaleins-Gemurmel hinter den Türen wird abgelöst von Scharren und Rappeln. Die Schleusen der Gelehrsamkeit öffnen sich und es stürmt und brodelt in die sonst so stillen Gänge. Pause!
Am grünen Ölfarbsockel entlang schieben die Klassen in ungeordneten Zweier- und Dreiherreihen dem Ausgang zum Pausenhof entgegen.
Das Pausenbrot wird ausgepackt.
Der Meier Wiggerl und der Zehrer Alfonsi haben ihre Semmeln schon während des Religionsun­terrichts unter der Bank ausgehöhlt, als der Lehrer Melzer vom Auszug aus Ägypten erzählte.
„Im Magen ist das gut aufgehoben“, erzählen sie und schlucken nun mit der Lechner Susanne mit, die an einem staubtro­ckenen Stück Kuchen vom Wochenende würgt.
Einer aus einer anderen Klasse leckt gerade sorgfältig die auf beiden Seiten herausquellende Marmelade vom Doppelvollkornbrot. Erst dann lässt er einen Mitschüler aus seiner Klasse davon beißen.
Der Winkler Adolf nimmt ein Taschenmesser aus der Hose und schneidet lauter gleiche Schnitze von seinem mitgebrachten Apfel.
Er schenkt niemals etwas her.
Damit ihm auch keiner was stibitzt, geht er in die Ecke, wo der Feuermelder an der Wand hängt und liest ein paar Mal die Aufschrift:
„Bei Gefahr Scheibe einschlagen und Griff ziehen!“
Er überlegt, wie lange ihn das schon juckt. Aber... nimmt er sich in diesem Moment fest vor, eines Tages, wenn niemand zuschaut, dann...

Manchmal kommt auch ein Würstelmann zum Schulhof.
Er hat einen Bauchladen dabei, einen Blech­behälter mit heißem Wasser, worin die warmen Wiener schwimmen. Die Semmel kostet ein Fünferl und die Semmel mit einem Wiener Würstel drauf kostet fünfundzwanzig Pfennige.
Wenn von den fünfundzwanzig Pfennig, die man von zuhause mitbekommen hat auf dem Weg zur Schule schon ein Zehnerl für eine Wun­dertüte oder ein Fünferl für zwei Lakritzschnecken draufgegangen sind, dann reicht’s in der Pause eben nur noch für eine blanke Semmel mit Senf drauf.
Der Groschwitz Roland hat keine Pausenbrotsorgen, denn sein Banknachbar der Zirkler Heinz muss ihm täglich eine halbe Butterbrezel geben, fürs Abschreiben lassen in der Rechenstunde. Auch dann wenn dem Zirkler Heinz seine Gleichungen falsch sind. Ausge­macht ist schließlich ausgemacht!
Zwei Butterhörnchen mit Honig drauf, manchmal auch mit Schokolade, hat die reiche Schober Heidi dabei.
Ihre Eltern haben einfach mehr Geld als die der anderen, denn ihr Vater ist der Direktor von der Porzellanfabrik. Die Schober Heidi stellt sich aber zum Essen immer in die Nähe der Treppe, auf der Lehrer Lange die Aufsicht hält.
Da traut sich keiner was abbetteln.
Der Dohlensteiner Heinz ist dagegen ganz auf sich al­leine gestellt. Er hat auch das Monopol auf Apfelbutzen. Oder er bietet einen Zimmermannsbleistift, den er sei­nem Vater stibitzt hat, ein Stück echtes Kupferkabel, eine Briese Brausepulver, einen halben Kaugummi, eine Pfefferminzkugel oder exakt fünf Zentimeter von seiner Lakritzstange als Gegenleistung für einmal Abbeißen an.
Wenn gar nichts geht, dann ist er für den äußersten Fall einem Geheimbund angeschlossen. Wenn er einem anderen auf die Schulter klopft und der weiß das aktu­elle Kennwort nicht, dann gehört die Hälfte des Pausen­brotes ihm.
So jedenfalls lauten die Statuten!
Früher einmal hat er es mit Beilagscheiben probiert, die er mit dem Hammer verbeult und eingegraben hatte. Als sie angerostet waren und er sie noch etwas mit Dreck be­arbeitet hatte, bot er sie als Schatzfund alter Römischer Münzen an, auf denen man halt nix mehr erkennen konnte.
Aber da ist ihm dann der Dohlensteiner Heinz draufgekommen, als er eine davon, die er mit einem ganzen Pausenbrot bezahlt hatte, zum Trödler trug und teuer verkaufen wollte.
Und da gab’s Prügel von beinahe der gesamten Klasse.
Bei den Kaufinger Schwestern gibt es jeden Tag in der Früh’ schon Krach. Jede von den beiden will vom Brot das Anschnittstück mit der Rinde haben.
Da schneidet die Mutter halt das Brot von beiden Seiten an und murmelt immer: „Der Vater dürfte das nicht sehen.“
Langsam gräbt die kleinere von den beiden, die Kaufin­ger Hertha, das weiche Innenleben aus ihrem An­schnittstückchen. Dann steckt sie die Nase in das hohle Brotstück und riecht lange den frischen Brotduft. Da­nach beißt sie die Rinde an der Seite an, lutscht sie warm, schiebt sie ein paar Mal vor und hinter die Zähne, bevor sie den Hochgenuss endgültig schluckt.

Der Lehrer Lange schaut ihr lächelnd zu.
Er weiß ja längst, dass ein Stück Brot – auch wenn es nur trocken ist - nie mehr im Leben so gut schmecken wird, wie als Pausenbrot Anfang der fünfzi­ger Jahre.

von Wolfgang Kreiner
(Text teilweise von Traudlinde Werner)

Bürgerreporter:in:

Wolfgang Kreiner aus München

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