doch beinahe nichts für das Glück des Menschen - ein Essay

Doch beinahe nichts
für das Glück des Menschen...
ein Essay
über die Entwicklung der Industriegesellschaft
des 19. und 20. Jahrhunderts

von Wolfgang Kreiner  2002
(alle Rechte vorbehalten)

Erschienen in: „Menschlichkeit/Humanity“
der jährlichen Anthologie – Reihe „Menschen Schreiben“
des Gryphon – Verlags
Ausgabe 2002/2003 gewidmet Amnesty International
ISBN 3-935192-62-2

Die Liebe ist out, ebenso wie alle Gefühle. Dafür wird Leistung, Erfolg und Sex zur staatsbürgerlichen Pflicht. Wer sich drückt, wer kreativ sein will, macht sich automatisch verdächtig. Die biologische Geburt wird weitgehend abgeschafft, der Mensch in Retorten gezüchtet. Er wird in Klassen eingeteilt – ganz oben die Alpha-Elite der Manager, ganz unten die Epsylon-Kretins für die niedrigeren Arbeiten.
Die Züchtung garantiert gleichbleibenden Charakter und damit optimale Anpassung an die jeweilige soziale Bestimmung oder Funktion. Darüber hinaus garantiert eine hochentwickelte Computer- und Robotertechnik alle materiellen Bedürfnisse. Bücher sind ebenfalls out, die Teilnahme an öffentlichen Events und Freizeitveranstaltungen dagegen Pflicht. Alle sind weitestgehend glücklich – auch die Epsylons. Wer dennoch einmal leichtes Unbehagen verspürt, greift zu Psychopharmaka, welches vom Staat kostenlos verteilt wird.

So oder ähnlich schildert der Engländer Huxley vor etwa einem dreiviertel Jahrhundert diese Vision einer derartigen Roboter-Gesellschaft. In ihr entwirft er den Untergang der europäischen Zivilisation des 20. Jahrhunderts in einer fernen Zukunft.
Doch mittlerweile verwandelt sich diese ursprüngliche Satire vor unser aller Augen auf erschreckende Weise in beklemmende Wirklichkeit.
Biologen arbeiten emsig an der künstlichen Veränderung menschlicher Gene, das erste geklonte Baby ist bereits geboren, Roboter und Computer verdrängen zunehmend Arbeiter und Angestellte aus Produktion und Büro. Acht Millionen Bundesbürger kommen kaum mehr ohne ihr tägliches Quantum Valium aus, Gefühle sind verpönt, „cool“ ist das Modewort der Zeit. Aufmerksam beobachten Literaturkritiker, dass es in der deutschen Literatur offensichtlich keine Liebesgeschichte, kein Liebesgedicht mehr gibt.
Es ist kaum mehr zu übersehen, dass wir auf dem besten Wege in eine Gesellschaft sind, die schon viel eher einem Alptraum gleicht. Längst haben wir es doch aufgegeben, die Entwicklung der Technik unseren Bedürfnissen anzupassen.
Vielmehr sind wir ausschließlich damit beschäftigt, uns selbst diesen technischen Entwicklungen anzupassen. Jedoch es gelingt uns immer weniger. Bei diesem Wettrennen in die Zukunft scheinen wir an irgendeiner Abzweigung einen völlig falschen Weg eingeschlagen zu haben, denn das allgemeine Unbehagen an der gesamten Richtung wächst. Allmählich werden die Stimmen immer lauter und unüberhörbarer, die zu einer Umkehr mahnen. Und dies nicht nur am Rande der Kolonne, bei den Mitläufern, sondern selbst ganz vorne bei jenen, die eigentlich die Richtung kennen müssten, melden sich Zweifel. Immer mehr entdecken wir, dass Besitz und Verbrauch ausschließlich materieller Güter unsere eigentlichen Bedürfnisse nach Sinnerfüllung nicht befriedigen können und uns ein Leben ohne Ziel und Zuversicht kaum ausfüllt. Der ursprüngliche Glaube an die technische und industrielle Zivilisation, der er ihre Erfolge und daraus erwachsende Stärke verdankt und welcher mit dem Wort Fortschritt bezeichnet wurde, ist brüchig geworden.

Die ursprüngliche Idee des Fortschritts war seinerzeit deshalb so verführerisch, weil sie an die Eigenliebe und den Stolz der Menschen appellierte. Sie schaffte Gott und den Glauben weitgehend ab und proklamierte dafür die totale Unabhängigkeit des Menschen von irgendwelchen, das Schicksal möglicherweise beeinflussenden Mächten. Ausschließlich die menschliche Vernunft wurde zur Richtschnur dieses neuen Zeitalters. Entsprechend sah der Fortschrittsglaube die Entwicklung des Menschen als eine kontinuierliche, stetig aufwärts führende Linie. Kaum ein Mensch zweifelte daran, dass die Zivilisation kräftig voran schritt – einem goldenen Zeitalter entgegen.
Doch weniger eine Zunahme des Glücks war die erste Folge dieses technischen Fortschrittes, sondern eher ein Massenelend, welches heute beinahe unvorstellbar ist. Millionen Menschen wurden entwurzelt und mussten ein Sklavendasein führen, welches man im Zeitalter der Aufklärung eigentlich überwunden geglaubt hatte. Kinder wurden in Bergwerke gesteckt, Mütter arbeiteten an mechanischen Webstühlen bis zu 16 Stunden täglich und Männer schufteten unter unbeschreiblich schlechten Bedingungen. Elend, Dreck und Krankheiten, Hunger und Alkoholismus machten aus der arbeitenden Bevölkerung in kurzer Zeit menschliche Wracks und aus den dafür in kurzer Zeit geschaffenen Produktionsstätten, ja sogar ganzen Industriezentren, Schandflecke der Zivilisation.
Aber der Fortschritt einmal in Gang gesetzt, war nun nicht mehr aufzuhalten. Fortschritt wurde zum meist gebrauchten Wort der Arbeiterbewegung – mit Vorwärts, auf, auf und voran, voran begannen ihre Lieder und Vorwärts hießen beinahe all ihre Kampfblätter und Zeitschriften.

Natürlich, wenn es eine Zeit gab, in der das Wort Fortschritt überzeugend, weil für jeden einzelnen überprüfbar, war, dann war dies die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. Es ging in der Tat alles aufwärts und vieles wurde auch spürbar besser. Das Elend der Arbeiter nahm ab, die Kinderarbeit verschwand, die Arbeitszeit wurde gesetzlich geregelt, Bürgerrechte und Demokratie wurden erkämpft. Der Wohlstand für den einzelnen vermehrte sich merklich und die Wissenschaft meldete zunehmend Erfolge. Die Geheimnisse des Kosmos wurden immer mehr enträtselt und Krankheiten besiegt. Berauschende Triumphe, welche die vorangegangenen Visionen scheinbar Wirklichkeit werden ließen.
Der europäische Geist triumphierte über die Welt und offensichtlich schien es für den Fortschritt tatsächlich keinerlei Grenzen mehr zu geben.

Während des ersten sowie des zweiten Weltkriegs wurde dann allerdings dem naiven Fortschrittsglauben des 19. Jahrhunderts ein jähes Ende bereitet. Erstmals in der Geschichte wurden Menschen in größerem Maßstab maschinell getötet. Bezeichnender Weise hieß die neue Waffe auch Maschinengewehr. Ebenso effektiv waren schwere Waffen, wie die Panzer, U-Boote und das eingesetzte Gas. Hier zeigte die neue Technik erstmals ihr apokalyptisches Gesicht.

In nur drei Jahrzehnten wurden mehr Menschen getötet als in allen europäischen Kriegen der vorangegangenen Jahrhunderte. Die Grauen dieser Kriege zerstörten abrupt die Selbstgefälligkeiten der europäischen Zivilisation. Als großer Irrtum erwies sich der Glaube, technischer und humaner Fortschritt könne Hand in Hand gehen und das eine sei ohne das andere kaum denkbar.
Während der technische Fortschritt ungeahnte Höhen erklommen hatte, war der Mensch dort hängen geblieben, wo er schon vor Anbruch des neuen Zeitalters herumgestolpert war. Er dachte noch immer in Steinzeit-Kategorien und machte auch wiederholt die gleichen Fehler. Nur hatten die Fehler jetzt infolge seiner vervielfachten Kraft auch eine vielfachere Wirkung. Die Folge war tiefer Pessimismus.
Doch mochten die Intellektuellen sich auch noch so sehr mokieren und die Satiriker spotten – der technische Fortschritt ließ sich durch nichts mehr beirren. Losgelöst von der allgemeinen Idee des Fortschritts führte er von da an ein munteres Eigenleben. Vom Ballast moralischer Ansprüche befreit geriet er daher - modern und zweckfrei - schon viel eher in die Nähe des Sports.

Der Nationalsozialismus berauschte sich schließlich vollends am technischen Fortschritt. Deutsche Forscher, deutsche Zeppeline, deutsche Motoren, deutsche Flugzeuge waren die besten, die größten, die zuverlässigsten, die schnellsten der Welt. Etwas derart Gigantisches wie die Autobahnen, die sich öde und leer durch das deutsche Reich zogen, gab es nirgendwo sonst auf der Welt. Und damit sie ihren Zweck erfüllen konnten, bauten die Deutschen, aller Blut- und Boden- Mystik zum Trotz, auch das größte Autowerk Europas, um ein Volk von Autofahrern zu werden.
Der Zweite Weltkrieg brachte dann den größten Vorwärtssprung in der technischen Entwicklung und zugleich den Absturz der europäischen Zivilisation auf einen Tiefstpunkt, den niemand vorher für möglich gehalten hätte. Hatte es doch Kriegsgräuel zu allen Zeiten gegeben, dennoch – Auschwitz und Hiroschima wären vor dem technischen Zeitalter nicht einmal nur denkbar gewesen. Die Idee, Millionen Menschen in Gaskammern zu töten oder die gesamte Einwohnerschaft einer Großstadt bis zum letzten Kind durch eine einzige Bombe zu vernichten, war erst möglich, als der technische Fortschritt auch die Mittel hierzu lieferte. Die moralischen Hemmungen des 18. und 19. Jahrhunderts waren zu diesem Zeitpunkt längst korrumpiert.
Wenn es auch möglich war, dass alles so kommen konnte – es hätte nicht alles so kommen müssen. All diese Geschehnisse waren der Ausfluss perverser Ideologien. Sie stehen in ihrer irrationalen Ungeheuerlichkeit außerhalb des technischen Zeitalters, wenngleich sie aber auch nur in jenem möglich waren.
Die Atombombe hingegen ist das direkte Ergebnis technischen Denkens. Sie war gewissermaßen das zwangsläufige Resultat naturwissenschaftlicher Forschung und Machbarkeit. Die brillantesten Geister dieses Jahrhunderts, die sie hervorgebracht hatten, standen nun entsetzt vor dem Resultat ihrer Arbeit – Zauberlehrlingen gleich, welche die Kontrolle über ihre Arbeit vollständig verloren hatten. Zum ersten Mal rückte die vollständige Selbstvernichtung des Homo sapiens gedanklich in den Bereich des Möglichen.
Plötzlich war offensichtlich, dass die gesamte phantastische Entwicklung seit Erfindung der Dampfmaschine nicht zur Vervollkommnung des Menschengeschlechts, sondern zu dessen tiefster Verrohung geführt hatte. Der Fortschrittsglaube hatte in dem Wahn, dass man ein historisches Niveau erreicht hatte, in dem kein Rückschritt mehr möglich war, alle menschliche Vorsicht gelockert und damit ermöglicht, dass Barbarei in die Welt einbrach. Der technische Fortschritt war demnach zum Vehikel des menschlichen Rückschritts geworden.
Aber der Schock all dieser Erkenntnisse wurde jeweils schnell betäubt durch die Verführungen der Wohlstandsgesellschaft.
Eine weitere industrielle Revolution, die folgte, war die Ära der totalen Motorisierung und damit Mobilisierung der gesamten Gesellschaft. Die neunen Werkstoffe wie Kunststoff und Leichtmetalle, die Wegwerfprodukte und letztlich der Computer selbst änderten den Lebensstil und das Denken der Menschen abermals radikal. Galt doch die Sparsamkeit bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts noch immer als persönliche und öffentliche Tugend, so wurde nun die Verschwendung gewissermaßen zu einer allgemeinen volkswirtschaftlichen Pflicht. Mehrverbrauch war nicht mehr nur das Ergebnis, sondern viel eher das erklärte Ziel der Wirtschaftspolitik und alleine das Wachstum wurde zum Gradmesser gesellschaftlichen und nationalen Fortschritts.
Dann kam die New Economy und die hatte so ihre eigenen Lieblingssprüche: „Die Schnellen werden die Langsamen fressen“ oder „Get big fast“ („Werde groß, und zwar schnell.“). Oder „Wer bremst, verliert.“
Dass die Propheten dieses Tempowahns ihre Unternehmen ungebremst an die Wand fuhren, Millionen von Arbeitsplätzen vernichteten und einen ganzen Kontinent damit in eine Krise stürzten, ist nun bereits Teil der jüngeren Wirtschaftsgeschichte.

Während es eine Weile dauerte, bis die Folgen dieser Wachstumsorgie zu Tage traten, sind sie heute unübersehbar. Rohstoffe nähern sich allgemein der Erschöpfung, die Erde insgesamt beginnt unwohnlich zu werden. Längst sehen wir uns nach einem neuen Planeten um und prüfen mit Milliardenaufwand die Besiedelbarkeit. Würde dieser gesamte finanzielle Aufwand in die Welternährung, die verschiedenen Forschungszweige (einschließlich der Friedensforschung), und den Umweltschutz gesteckt, die Welt wäre für jedermann so erträglich und schön, dass er den Gedanken an eine neue Welt, einen anderen Planeten, ad absurdum führen würde.

Hingegen zeichnen sich unter den Einwohnern der Industriegesellschaften nicht nur alle möglichen physischen Krankheitszustände wie Allergien, als Folge der Luft- Lebensmittel- und Wasserverschmutzung ab, sondern zunehmend auch psychische Störungen, hervorgerufen durch Stress und Hektik und purer Lebensangst. Ein Drittel der Bevölkerung nimmt täglich mehrere Medikamente ein, die Zahl der Alkohol- und Rauschgiftkonsumenten steigt täglich – und es sind zunehmend Jugendliche unter 25 Jahren.
15.000 bis 20.000 Bundesbürger nehmen sich jährlich das Leben und weit über 100.000 versuchen es – darunter Zehntausende junger Menschen und Kinder.
Plötzlich greift die Angst vor dem Hetz-Schlag um sich und einige stellen erstaunt fest, dass eine leere Seite im Terminkalender nun wirklich keine Katastrophe darstellt.
Viele fragen sich nach dem ermüdenden Wettlauf um die hipste E-Commerce-Idee: Was will ich eigentlich da, wo ich hinrenne?
All dies sind Signale einer Gesellschaft, die zutiefst verängstigt und verunsichert ist. Die elementarsten psychischen Bedürfnisse des Menschen können nicht mehr befriedigt werden.
Körperliche Arbeit ist weitestgehend abgeschafft und die Menschen sind zu immer mehr passiven Tätigkeiten und stupiden Funktionen verurteilt. Dadurch verkümmert die geistige Leistung und somit auch Leistungsbereitschaft des einzelnen immer mehr. Immer gibt es einen Rechner, einen Computer, eine Maschine in der Nähe, welche uns geistige und körperliche Leistung abnimmt. Junge Leute mit mittlerer Reifeprüfung rechnen 10 Prozent einer Summe mit dem Taschenrechner aus und die Kassiererin im Supermarkt weiß nicht, wie viel Wechselgeld sie herausgeben muss, wenn der Betrag auf dem Display der Kasse nicht angezeigt wird.
Bei Stromausfall werden ganze Großraumbüros geschlossen, weil kein Mensch mehr mit einer mechanischen Schreibmaschine schreiben kann und - wegen der Maschinenlesbarkeit - mit der Hand nicht schreiben darf. Liebesbriefe werden ausschließlich noch per SMS über Handy verschickt. Immer weniger Mädchen können noch einen Pullover stricken oder sich selbst ein Essen kochen – und immer weniger Jungen können ein Feuer machen, einen Baum pflanzen, ein Zelt aufstellen oder ihr Fahrrad selbst reparieren.
Es gibt Sportlehrer, die klagen, dass die (zumeist auch noch durchgehend übergewichtigen) Kinder keinen Ball mehr fangen, beziehungsweise auf einem Bein hüpfen oder ein Seil hinaufklettern können, ohne das Gleichgewicht zu verlieren.
Kein Wunder, solange kein Kind mehr auf einen Baum klettert und Seilhüpfen schon bei Mädchen im Einschulungsalter als extrem uncool gilt!
Und es gibt immer weniger junge Menschen, die überhaupt schon einmal ein Buch gelesen haben. Es gibt zwar mehr Freizeit als jemals zuvor, aber immer weniger werden damit auch fertig.
Das eigentlich Paradoxe ist doch, dass wir unsere Kinder mit allen möglichen materiellen Dingen ausstatten, wie Markenkleidung, Handys, Spielkonsolen für ihre Computer, die natürlich auch jeweils vom Feinsten sein müssen, dabei aber stöhnen, wie teuer und im Grunde unfinanzierbar dies alles sei – wir den Kindern jedoch gleichzeitig das vorenthalten, was sie am dringendsten brauchen und das vor allen Dingen völlig kostenlos zu haben wäre, - nämlich Zeit, in der wir uns ihnen zuwenden.

Was wir brauchen ist eine gewisse „Entschleunigung“ in allen Bereichen des Lebens. Lifestyle ist vielleicht sogar notwendigerweise langsam, wenn man ihn nicht als Rausch, sondern als Lebenskunst versteht. Im Athen und Rom der klassischen Antike war gemächliche Bewegung ein Statussymbol und Eile eine Sklaveneigenschaft.
Fast zweieinhalb Jahrtausende später scheinen freie Bürger zu Zeitsklaven geworden zu sein, die gleichzeitig essen, telefonieren, E-Mails tippen und im Fernsehen die Börsenkurse verfolgen.
Die Ursachen dieses Temporauschs sind schnell benannt: Globalisierung, Computer, Internet, Handy. Im globalen Dorf ist immer irgendwo Arbeitszeit. Dies war schon immer so, aber früher waren die lokalen Arbeitszeiten nicht miteinander verbunden. Heute sind sie es. E-Mails fordern ihre sofortige Beantwortung möglichst ohne Bedenkzeit – „as soon as possible“ („so schnell wie möglich“).
Muße ist in einer Gesellschaft, die auf Leistung und Effizienz getrimmt ist, verloren gegangen. Die tägliche massenhafte Vernichtung von elementaren menschlichen Fähigkeiten – nämlich Kinder aufzuziehen, Häuser zu bauen, sich selbst fortzubewegen, (und nicht sich fortbewegen zu lassen!), zu kommunizieren, Krankheiten zu ertragen und den Tod als Teil des Lebens einfach zu akzeptieren ist das eigentliche verhängnisvolle Ergebnis des Industrialismus.
Gefangen in seinem klimatisierten Glück ist der Mensch kastriert. Was ihm bleibt, ist nur noch die Wut, - vielleicht auch nur auf sich selbst oder seine Spezies, die ihn dazu bringt, zu töten oder sich selbst zu töten. Die allgemein zunehmende Gewaltbereitschaft heutzutage ist möglicherweise auch schon wieder der Ausdruck eines morbiden Reizes des Bösen.

Das ausgehende 19. und beginnende 20. Jahrhundert war über sich selbst noch begeistert. Das ausgehende 20. und beginnende 21. Jahrhundert hingegen trägt die Bürde des Fortschritts wie einen Fluch.
Die Technik hat die Faszination, die sie so lange Zeit besaß, längst eingebüßt. Die Atomenergie wird als direkte physische Bedrohung empfunden. Selbst einigen ihrer Befürwortern ist sie suspekt.
Die Raumfahrt, insbesondere die Mondlandung, angeblich Höhepunkt menschlicher Emanzipation, war zugleich auch der größte propagandistische Flop.
Noch nach mehr als zweieinhalb Jahrhunderten sind die Namen Montgolfier, Wright oder Lindbergh jedem ein Begriff, aber kaum jemand erinnert sich, wie die drei Männer hießen, die als erste vor ein paar Jahren auf dem Mond landeten. Während die einen Menschen aus Fleisch und Blut waren – welche zum anfassen gewissermaßen, waren die anderen nichts als Roboter, in einer Steinwüste abgesetzt von einem Roboter.

Die alten Leitbilder des technisch- industriellen Zeitalters haben praktisch ausgedient. Hingegen sehnt sich die volltechnisierte Gesellschaft zurück nach der Autonomie des einzelnen, nach menschlichen Proportionen, nach der Geborgenheit der vorindustriellen Zeit.
Die Einrichtungen der Restaurants in den Betonburgen ähneln mit ihrer Holztäfelung und ihren Butzenscheiben schon eher wieder Landgasthöfen. Die Werbung – bester Indikator kollektiver Sehnsüchte – lockt mit Bildern einer untergehenden Welt: einsame Strände, beschauliche Gässchen in romantischen Orten und unberührte Natur. Auch die Gesichter der modernen Autos haben wieder runde Formen und runde Scheinwerfer, viel Chrom und nostalgische Grillverzierungen.

Die Sehnsucht des ausgehenden 19. Jahrhunderts hieß: Dabei sein.
Die Sehnsucht des beginnenden 21. Jahrhunderts heißt: Ich wäre so gerne dabei gewesen.

Was dem Menschen bliebe, wäre der Ausstieg. Doch diese Sehnsucht wird unerfüllt bleiben. Die Gesellschaft kann nicht einfach umkehren und hinter das Förderband oder die Dampfmaschine zurück – ja nicht einmal mehr hinter das Auto, das Flugzeug oder den Computer.
Selbst die sehr luxuriösen Lebensbedingungen Adeliger der vorhergehenden Jahrhunderte würden die meisten Menschen heute zurückweisen – keine Zentralheizung, kein Strom, weder WC noch Dusche, keinerlei Gemüse oder Obst im Winter, keine gekühlten Getränke im Sommer keine Vitamintabletten, weder Radio noch Fernsehen, kein Auto mit Klimaanlage, keine beheizte Bahn – keine betonierten oder asphaltierten Straßen. Auf Reisen eingepfercht in eine rumpelnde Postkutsche ohne Heizung, die sich zu jeder Jahreszeit mühevoll durch unwegsames Gelände quält. Zahnbehandlung ohne Betäubung, Schreiben nur mit Tinte und Federkiel auf rauhem Papier.

Die Adeligen und Privilegierten fanden dieses Leben seinerzeit herrlich! Wir hingegen sind von der industriellen Zivilisation vollends verdorben. Wir können nicht mehr ohne sie leben und sind auf sie angewiesen wie ein Gelähmter auf seinen Rollstuhl.
Aber wir sollten endlich aufhören diesen „Rollstuhl“ zu vergötzen. Anstatt ihn immer vollkommener und perfekter zu machen und damit uns selber auch immer abhängiger von ihm, sollten wir endlich selbst laufen lernen, so mühsam es auch scheinen mag.
Zumindest sollten wir aber wenigstens damit aufhören, den technischen Fortschritt mit „Fortschritt an sich“ zu verwechseln.

Was den anderen Fortschritt betrifft, den Fortschritt in Richtung Freiheit und Menschlichkeit, so hat dieser sich während dieser gesamten Zeit so wesentlich auch nicht verändert. Eher im Gegenteil – die Menschen verkehren immer gröber miteinander. Selbst innerhalb der Familien herrscht oft ein Ton, der zu früheren Zeiten undenkbar gewesen wäre. Der Verkehrston, das heißt die sprachlichen Umgangsformen, die das zwischenmenschliche Klima vor allem bestimmen, sind wesentlich schlechter geworden. Verkäufer und Verkäuferinnen erlauben sich mitunter, gegenüber Kunden in einer Art und Weise aufzutreten, die in früheren Zeiten zur sofortigen Entlassung geführt hätte. Gute Manieren sind längst nicht mehr die Regel, sondern schon viel eher die Ausnahme. Empfindsamkeit gilt als Empfindlichkeit, die beinahe schon wieder als Charakterschwäche ausgelegt wird. Es hat ein Kult des Egoismus um sich gegriffen.
Ungerechtigkeit? Alles nur eine Frage der Perspektive! Schon Adam Smith, der Urvater der modernen Ökonomie hatte erkannt: „Der Mensch hat in der Regel niemals das Allgemeinwohl im Sinn.“

So betrachtet zeigen sich Manager, Vermögensverwalter, Analysten, Banker – ja selbst Politiker von ihrer allzu ‚menschlichen’ Seite: Als Raffzähne.
Die Folge ist eine erneute Vertrauenskrise wie 1931 beispielsweise. Vielen gilt es als ein demokratisches Recht, dass sich der Stärkere durchsetzt, dass er es den anderen zeigen oder aber doch wenigstens sagen darf.
Diese Haltung ist im Grunde folgerichtig, weil sie eine Art Notwehr ist. Denn das Leben in der Massen- und Leistungsgesellschaft ist immer hektischer geworden, die Konkurrenz immer gnadenloser. Wer sich behaupten und durchsetzen will, muss etwas vertragen können. Von der Ellenbogengesellschaft ist Rücksichtnahme daher nicht zu erwarten. Und dieses Verhalten setzt sich rückwärts fort – bis hinein in die Kindergärten und Schulen.

Das scheinbar stets Machbare, überall und jederzeit Verfügbare, aber auch jederzeit Austauschbare dieser konsumorientierten Gesellschaft wurde schon beinahe zur Normalität und die sofortige Befriedigung ihrer Augenblickswünsche, ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse oder das Eigentum anderer zur Maxime dieser nachfolgenden Generation erhoben.

Dem Zeitalter der Vernunft, von dem das 18. Jahrhundert träumte, haben wir uns um keinen Schritt genähert. Es ist wie eine Fata Morgana immer weiter hinter den Horizont zurück gewichen. Wir sehen nun, dass die Aufklärung erst einen ganz geringen Teil der Erde beherrscht und die Zahl der tatsächlich Aufgeklärten hinter der Masse der Menschheit verschwindet, die dem Vorurteil und der Unwissenheit ausgeliefert sind.
Irgendein schlauer Kopf hat einmal gesagt: „Einhundert bewusst denkende Menschen könnten die Welt verändern, aber – entweder es gibt noch nicht so viele – oder aber die andern schlafen alle zu fest.“
Und: „Wenn Einhundert Millionen Menschen etwas Dummes sagen oder denken – so bleibt es dennoch eine Dummheit.“

Wir erkennen nun plötzlich, dass die Bestrebungen der letzten Jahrhunderte viel für den Fortschritt des menschlichen Geistes bewirkt, aber nur sehr wenig für die Vervollkommnung der Menschheit getan haben, viel für den Ruhm des Menschen, einiges für seine Freiheit.....

.....doch beinahe nichts für sein Glück!

Bürgerreporter:in:

Wolfgang Kreiner aus München

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