"Pappusflug" - oder Plädoyer für eine Blume

Von jeher war ich ein ausgesprochener Naturfreak und so kam es, dass ich um unser neu erbautes Haus einer recht artenreichen Blumenwiese den freien Lauf der ihr innewohnenden Natur beließ.
Als ich eines Morgens im April auf die Terrasse hinaus trat, wurde ich vieler gelber Blumenköpfe gewahr, die augenblicklich mein Herz höher schlagen ließen. Es waren allersamt schöne fette Löwenzahnblüten, an die sich auch sofort die ersten Bienen heranmachten, sobald die Sonne auch nur einen Augenblick hinter den Wolken hervorlugte.
Es schwirrte, summte und brummte in unserem Garten. Nun begann alles zu leben!
Eher mitleidig sah ich daher meinem Nachbarn, einem Professor in wasweißich zu, wie dieser sich manchmal auf seinem Zierrasen abmühte. Auch jedes noch so kleine Pflänzchen, welches nicht nach Gras aussah, stach er vorsichtig aus. Mit einer Papierschere bewaffnet hielt er obendrein nach jedem Grashalm ausschau, welcher vom Rasenmäher ignoriert wurde, um ihm dann mit verbissener Mine den Garaus zu machen und seinen Rasen damit auf ein Gleichmaß zu trimmen versuchte.
Als Wochen später der Löwenzahn sein sattes Gelb verlor und sich mit den grauweißen Flauschkugeln schmückte, machte ich mich, von meinem Nachbarn zwar verständnislos bestaunt, daran, meine Wiese mit einer Sense zu mähen.
Bei jedem Schwung der Sense stoben unzählige Schirmchen der Löwenzahn-Flauschkugeln in die Höhe, erfüllten die Luft mir schwebender Fruchtbarkeit und machten sich in allen Richtungen auf ihren Weg.
Einge Tage später, als noch immer der betörende Geruch frischen Heus um unser Haus in der Luft lag, fand ich im Briefkasten einen offenbar persönlich zugestellten Brief vor, den ich mit einiger Verwunderung zwar, aber auch voller Neugierde öffnete.
Dann las ich:
"Sehr geehrter Herr Nachbar,
wie Sie sicher bereits bemerkt haben werden, bezitze ich um mein Haus einen erstklassigen englischen Rasen, auf dessen Pflege und tadelloses Aussehen ich ganz besonderen Wert lege.
Dieser bereitet mir jedoch seit Ihrem Zuzug mehr und mehr Mühe.
Die in Ihrem Garten überproportional auftretenden Löwenzahngewächse, gegen die Sie offensichtlich nichts zu unternehmen beabsichtigen, geben eine Unmenge an Flugsamen frei, die dann bei Westwind auf mein Grundstück getragen in dermaßen großer Zahl fruchtbar werden, so dass ich mich ihrer nur noch unter größtmöglicher Anstrengung und erheblichem Zeitaufwand erwehren kann.
Diese Intensität dieser Sameninvasion und der hierdurch verursachte Schaden auf meinem Grundstück hat nun meiner Meinung nach bereits die Grenze der Sachbeschädigung erreicht. Ich fordere Sie daher auf, diesem kausal dafür verantwortlichen Zustand in Ihrem Garten durch adäquate Bekämpfung dieses Unkrauts abzuhelfen. Anderfalls würde ich mich dazu gezwungen sehen, Gegenmaßnahmen zu ergreifen und gegebenenfalls sogar gerichtliche Schritte einzuleiten.
Dieser Zustand ihres verwilderten Gartens kann so jedenfalls nicht länger hingemommen werden!
Hochachtungsvoll
Prof.Dr.rer.Nat. W.H. Przibilski

Ziemich fassungslos stand ich dieser nachbarschaftlichen Dreistigkeit gegenüber. Innerlich kochte ich vor Wut. Mein Löwenzahn - Unkraut? Der König meiner geliebten Blumenwiese! Mein Garten verwildert? - ein Zustand? Invasion meines Löwenzahns! Sachbeschädigung? Klage?
Na warte, lieber Professor in wasweißich, dachte ich in meinem Zorn - Ihnen werd' ich's zeigen!
Am darauffolgenden Tag setzte ich mich hin und verfasste einen gebührenden Antwortbrief.
Ich schrieb:

Sehr geehrter Herr Professor Doktor Przibilski, werter Herr Nachbar,

zunächst möchte ich den Erhalt Ihres Briefes bestätigen, dessen Inhalt ich mit einiger Verwunderung zur Kenntnis nahm.
Mit großem Bedauern vernahm ich darin, dass Sie sich auf Ihrem Grundstück von Löwenzahn belästigt fühlen, auf dessen Anzucht ich aber auf meinem Grundstück ganz besoneren Wert lege.
Allerdings wird diese herliche Blume auch sehr oft verkannt. Erlauben Sie daher, dass ich Ihnen hierüber die Augen etwas öffne; heißt diese Blume doch ausdrücklich 'Taraxacum officinale', von taraxis, einer Augenentzündung und 'akeomai', - 'ich heile'!
Sehr viel Liebliches und Nützliches vermag sie zu bewirken. Nicht nur als unterleiblösendes und -heilendes 'Extractum taraxaci', sondern auch eine Frühjahrskur mit ihr verbesert den gesamten Stoffwechsel. Der Wurzel dieser Blume wird eine schweißtreibende Wirkung zugeschrieben, die gerade bei Übergewicht, Zuckerkrankheit und Verstopfung Enormes zu bewirken vermag.
Als wohlmundender und vitaminreicher Frühlingssalat ist sie schon von Alters her von vielen Menschen hoch geschätzt.
Aber auch schon alleine durch ihren Anblick vermag sie jedes offene Gemüt augenblicklich zu erquicken. Betrachten Sie nur einmal, wie sich auf der Rosette gezahnter Blätter majestätisch der wohlgefällige Schaft erhebt, welcher das von Gold überquellende Blütenkörbchen trägt! Um dieserlei Betrachtungsmöglichkeit bringen Sie sich allerdings stets selbst, indem Sie - wie ich wiederholt beobachten konnte - diese herrliche Pflanze bereits in prenatalem Stadium ausrotten und ihr so die vollständige Entfaltungsmöglichkeit ihrer Schönheit und Natur auf Ihrem eigenen Grund und Boden unmöglich machen.
Und welches Schauspiel gar, wenn diese königliche Blume ihr Blütenkörbchen ablegt, um sich mit dem silberweißen Haar des Alters zu schmücken!
Es genügt das Säuseln eines Zephiers (des von Ihnen gerügten Westwindes), um ihren 'Pappus', (den Sie ganz profan 'Samen' nennen!), von gefiederten Luftschirmchen hinweggetragen zu sehen, überall hin, ohne Ansehen der Grenzen, des Standes, der Bildung oder des Vermögens...
Daher auch der Dichter ausdrücklich singt:
"...fliegt ihr Strahlenkrönchen, fliegt hin, über jedes Haus...!"

Mit vorzüglicher Hochachtung

W. K.

Bürgerreporter:in:

Wolfgang Kreiner aus München

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