Die tätowierte Fußsohle (eine makabere Polit-Geschichte)
„Guten Tag Herr Kirnberger, wie geht es Ihnen heute?“
„Ich bin nicht Kirnberger. Das versuche ich euch Weißkitteln nun schon seit einer Woche einzubläuen...!“
„Ach, Herr Kirnberger...“
„Hören Sie: Ich bin Hartmut Schirmer, Kellner, Postbote, Maler und Antiquitätenhändler. Ich habe alle zwei bis drei Jahre meinen Beruf gewechselt und zum Schluss war ich Kunstbogen- und Pistolenschütze im Zirkus, der beste südlich und nördlich der Alpen, merken Sie sich das gefälligst!“
„Nach meinen Unterlagen sind Sie aber Dieter Kirnberger, arbeitslos, sechsunddreißig, auffällig geworden wegen hypnagogischer Wahnvorstellungen. Sie haben angeblich kleine Hunde gekidnappt, in den Wald geschleppt und dort in selbst gebastelten Särgen verbrannt. Deshalb sind Sie in unsere Klinik gekommen.“
„Hergottnochmal! Das ist ja jetzt die allerneueste Version! Phantastisch meine Herren. All diese Geschichten sind frei erfunden, nur um die paar Leitungen in meinem Hirn durcheinander zu bringen. Vorgestern war ich noch der Mädchenmörder, der es mit der Pfeffermühle getan hat, vor vier Tagen der sadomasochistische Nekrophilie, ein paar Tage davor der Leichenfledderer vom Friedhof... Meine Herren, Sie verbrauchen ja in einer Woche ihre gesamten psychiatrischen Lehrbücher. Übermorgen behaupten sie sicher, ich hätte meine drei kleinen Kinder zuhause gebraten! Wer sind Sie und was wollen Sie von mir?“
„Herr Kirnberger...“
„Ich bin nicht der Kirnberger, den ihr mir an den Leib operiert habt. Eine zoologische Kuriosität habt ihr aus mir gemacht! Ein plastischchirurgisches Verbrechen! Wie viel Wochen habt ihr mich unter Drogen gesetzt, um diesen Mist zu produzieren, der mich jetzt aus dem Spiegel angrinst? Mord ist euch zu simpel, was? Injektionen mit flüssigem Silikon, Dämmerschlaf, Gehirnwäsche, Hypnose... Im Zustand der Suggestibilität soll dann die Psyche gebrochen werden, oder? Ihr habt mein Gehirn wie Brei zu zerrühren versucht. Aber es ist euch nicht ganz gelungen. Der Plutoniumbehälter hat einen kleinen Riss bekommen und daraus ist meine wahre Identität explodiert. Ich bin Hartmut Schirmer!“
„Herr Kirnberger..“
„Hartmut Schirmer, dreiunddreißig Jahre alt und nicht wie Sie behaupten sechsunddreißig, Kunstbogen- und Pistolenschütze im Zirkus. Der Beste! Meine letzte Wohnung war in der Goethestraße 128. Direkt über einem chinesischen Restaurant, wo es dauernd nach gebratenen Enten und Fisch roch. Ich hatte einen Vespa-Roller und trank gerne dunkles Weißbier. Der Typ mit den schönen Locken nannten sie mich alle. He, verdammt, weshalb habt ihr mir die Locken abgeschnitten? Ich kann ja nicht mehr in den Spiegel schauen, ohne mir selbst in die Fresse schlagen zu wollen. Einen infantilen Studenten habt ihr aus mir gemacht, einen narzisstischen Kretin. Ich finde diese linkische Type mit dem Aknegesicht einfach zum Kotzen.“
„Herr Kirnberger...“
„Die Schirmer-Realität habt ihr Gott sei Dank nicht ganz aus meiner Seele schnipseln können. Sie ist nachgewachsen. Ich bin von selber draufgekommen. Zuerst war ja nur Schneetreiben in meinem Gehirnkasten...“
„Aber, deshalb sind Sie doch hierher gekommen, weil Sie immer solche Wahngeschichten erzählt haben.“
„Die Wahngeschichten sind erst gekommen, als ihr Hirnklempner an meinem Hirn herumoperiert habt. Als ich aus dem Zwangs-Drogenschlaf erwachte, war mein Problem, aus den fünftausend Ideen, die mir durch die Rübe rutschten, die Nieten auszusondern. Und das ist mir dann schließlich auch gelungen. Dann sind mir mehrere hundert Schauer bis zum Steißbein hinabgerieselt. Und die phantastischste meiner Wahngeschichten, diejenige, die ein besoffener Dämon erfunden haben musste, die war tatsächlich abgelaufen.“
„Nun gut, Herr Kirnberger, erzählen sie Ihre Horror-Story von mir aus zum hundertsten Mal, sie wird dadurch aber auch nicht wahrscheinlicher.“
„Schirmer, der Kunstschütze – darum ging’s euch doch, um den Kunstschützen! Ich war doch nicht blind, als ich im Zirkus aufgetreten bin. Ich hab schnell gemerkt, welche seltsam hohen Tiere plötzlich in meiner Vorstellung saßen. Da hat der eine staatssekretärhafter als der andere ausgesehen. Und eines Abends, als ich ins Auto stieg, da haben mir eure Superagenten einen Knüppel über die Birne gezogen. In meinem Lebenslauf begann ein schwarzes Loch. Ihr habt mich mit Medikamenten auf den Nullpunkt gebracht. Ihr habt ein williges Aufziehmännchen aus mir gemacht, einen Kunstschützen-Automaten.
Euer Ministerpräsident hat seine Wahlrunden durch das Land gedreht. Da habt ihr euch den allerirrsten Gag einfallen lassen. Dem quasselnden Schnarchsack sollte zu einer kitzligen Promotion verholfen werden. Es hilf ja nicht ewig, wenn einer am Samstagmorgen aus dem Supermarkt herauskommt und unter dem Foto auf dem Plakat gegenüber steht: Ein Ministerpräsident wie wir. Oder wenn er mit den Kindern am Rand eines Swimmingpools hängt und darunter steht: Ein Feldzug des Frohsinns. Oder wenn er sich Ruß ins Gesicht schmiert und mit einer Grubenlampe ablichten lässt: Ein prima Kumpel. Oder in der Bergwand hängt: Gipfelstürmer und Realist zugleich. Wenn nämlich ein Ministerpräsident lauter Vakuum zwischen den Ohren hat, dann muss man sich das allerwirksamste einfallen lassen. Die Millionen von Fernsehzuschauer schätzen nichts höher als den allabendlichen Krimi. Das Mondgesicht des Staatslangweilers bringt erst Effekt, wenn attentäterisch mit Blitz und Knall hineingeschossen worden ist. Der beste Kunstschütze bringt es mit Pfeil und Bogen oder Pistole so präzise, dass es dem Herrn Ministerpräsidenten höchstens seine frisch shampoonierten Haare kitzelt.“
„Herr Kirnberger..“
Ich weiß nicht mehr, wie ihr mich dazu gebracht habt, das alles zu tun. Ihr habt euerem Homunkulus Schirmer sicher eine Feudalvilla mit Luxuswagen versprochen. Und ich hab damals nur Holzwolle im Kopf gehabt. Trotzdem bleibt die blasse Erinnerung, dass es Peng gemacht hat. Euer Schnarchsack-Ministerpräsident hat sicher die Englein singen hören, als ihm meine Kugel einen Millimeter am Ohr Vorbeigepfiffen ist. Die Sicherheitsbeamten haben dann ein armes Schwein, dem sie zuvor eine Pistole in die Jackentasche gezaubert hatten, aus der Menge herausgegriffen und drei Wochen später wieder laufen lassen. Der vermeintliche Attentäter sollte lieber dämonisch und unauffindbar bleiben. Der Ministerpräsident hat seine Wahlreise fortgesetzt und den Millionen Gaffern verkündet:
Volksnähe, das sei ein Imperativ. Er wolle sich nicht wie der Papst in einen Glaskasten einsperren lassen. Er wolle Hände schütteln und mit der Oma am Straßenrand reden. Im Übrigen sei er optimistisch. Diese wiederholten Attentatsversuche kümmerten ihn weiter nicht. Es sei gewiss der Wille einer höheren Weltregierung, ihn diese finsteren Attacken überleben zu lassen. Er werde sein Wahlprogramm voll durchziehen, denn für das Vaterland sei ihm jedes Risiko und Opfer recht...“
„Herr Kirnberger... bitte, es reicht jetzt!“
„Dann ist der Tag gekommen, an dem etwas schief gegangen ist. Vermutlich habt ihr den Schießkasper in mir nicht richtig aufgezogen oder die Dosis falsch gespritzt. Ich erinnere mich dunkel an eine Sehstörung just in dem Moment, als mir der Ministerpräsident mit einem kleinen Ohrläppchen-Zupfer signalisiert hat: Jetzt mach doch schon, ich halt einen Moment still.
Ich hab wie ein dressiertes Hündchen gehandelt, meine Kanone hat Wauwau gemacht. Ich hab aber nicht die flatternde Jackentasche getroffen, wie abgesprochen, nein, mein Schuss verschwand im Fleisch des Oberschenkels des Ministerpräsidenten. Betriebsunfall...
Der Ministerpräsident wird’s überleben, vielleicht findet bereits die nächste Wahlreise statt, vielleicht ist euer perfides Kalkül aufgegangen. Ich weiß nur noch, dass ihr mich nicht vor ein Tribunal gestellt habt. Das wäre dann doch etwas zu riskant gewesen. Ihr habt mich in irgendeiner Klapse versteckt, schwarze Komödie mit mir gespielt. Und nun wartet ihr, bis ich mir vielleicht die Adern von selbst aufschlitze.“
„Herr Kirnberger...“
„Jetzt hören Sie mal gut zu, Herr Mengele. Ich kann beweisen, dass ich nicht euer Infantil-Kirnberger bin. Ich besitze nämlich ein Indiz, das meine Identität bescheinigt. Es gibt genügend Leute, die über dieses unverwechselbare Kennzeichen Bescheid wissen. Das habt ihr wohl bisher übersehen, ihr Menschenbastler. Das ist sogar besser als ein Passfoto. Es handelt sich nämlich um eine Tätowierung auf der Fußsohle! So etwas ist Ihnen auch noch nicht unter gekommen, wie? Ein grünes Krokodil, das einen Vogel im Maul hat. Wollen sie das mal sehen? Hier bitte! Das ist mein Triumph über eueren scheiß Kirnberger. Da, schauen Sie nur hin! Das ist der Schirmer, wie er nur einmal auf der gesamten Erde vorkommt.“
„Herr Kirnberger, genau das wollten wir mit Ihnen besprechen. Die Tätowierung auf der Fußsohle gefällt uns nämlich gar nicht.“
„Das kann ich mir denken. Aber was wollen Sie da mit mir besprechen?“
„Das Krokodil mit dem Vogel muss weg!“
„Nein, das bleibt!“
„Herr Kirnberger, Sie können die Entscheidung durchaus selbst treffen...“
„Die Entscheidung ist bereits getroffen. Die Tätowierung wird nicht angerührt, verstanden!“
„Okay, okay, sie wird nicht angerührt. Völlig einverstanden.
Aber dann sagen Sie bitte, wo möchten Sie, dass Ihr Fuß amputiert wird?
Auf Knöchelhöhe? Kniehöhe? Oder am Unterschenkel?“
Bürgerreporter:in:Wolfgang Kreiner aus München |
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