Geduld
Man muß den Dingen die eigene,
stille, ungestörte Entwicklung lassen,
die tief von innen kommt,
und durch nichts gedrängt
oder beschleunigt werden kann:
alles ist Austragen – und dann Gebären.
Reifen wie der Baum,
der seine Säfte nicht drängt
und getrost in den Stürmen des Frühlings steht,
ohne Angst, dass dahinter kein Sommer kommen könnte.
Er kommt doch!
Aber er kommt nur zu den Geduldigen,
die da sind, als ob die Ewigkeit vor ihnen läge,
so sorglos still und weit.
Man muß Geduld haben,
gegen das Ungelöste im Herzen,
und versuchen, die Fragen selber lieb zu haben,
wie verschlossene Stuben und wie Bücher,
die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind.
Forsche jetzt nicht nach den Antworten,
die Dir nicht gegeben werden können,
weil du sie nicht leben kannst.
Und es handelt sich darum, alles zu leben!
Lebe jetzt die Fragen,
vielleicht lebst Du dann allmählich
ohne es zu merken
eines fernen Tages in die Antwort hinein.
Rainer Maria Rilke
aus Briefe an einen jungen Dichter
Die insgesamt zehn Briefe sind als Antworten an Franz Xaver Kappus verfasst.
Dieser hatte sich hilfesuchend bezüglich seiner ersten literarischen Werke an Rilke gewandt.
Die Briefe entstanden in den Jahren 1903 bis 1908 an verschiedenen Orten Europas)
Bürgerreporter:in:Irene-Maria C aus Laatzen |
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