Bundestagswahl 2009
Verfälscht das Wahlrecht die Wählermeinung?
Zur Bundestagswahl am 27.09.2009 sind rund 62,2 Millionen Wahlberechtigte – davon rund 30 Millionen Männer und 32,2 Millionen Frauen – in 299 Wahlkreisen zur Wahl der insgesamt 598 Mitglieder (ohne eventuelle Überhangmandate) des Deutschen Bundestages aufgerufen. Das Wahlrecht dazu ist so kompliziert, dass es der Bürger weitgehend nicht versteht oder wohl sogar nicht verstehen soll. Versuchen wir es trotzdem. Jeder Wähler hat zwei Stimmen.
Mit der Erststimme wird in jedem Wahlkreis ein Kandidat „direkt“ gewählt. Insoweit gilt das Prinzip des „Mehrheitswahlrechts“: Gewählt ist, wer die meisten Stimmen auf sich vereinigt. Aber wie viel Stimmen sind diese Mehrheit? Hätten alle 299 Wahlkreise exakt die gleiche Anzahl Wahlberechtigte, dann hätte ein Wahlkreis (62.200.000 / 299 =) rund 208.027 Stimmberechtigte. Da nur die abgegebenen, gültigen Stimmen zählen, sind das bei einer Wahlbeteiligung von angenommen 75 Prozent (208.027 * 0,75 =) 156.020 Stimmen. Angenommen es gibt 10 Kandidaten, dann kämen im ungünstigsten Fall (bei Gleichverteilung) auf jeden Kandidaten 15.602 Stimmen. Hätte aber einer der Kandidaten nur 1 Stimme mehr, dann wäre er mit seinen dann 15.603 Stimmen gewählt. - Bezogen auf die Menge der 208.027 Stimmberechtigten wahrlich eine zweifelhafte Mehrheit. Trösten wir uns, in der Praxis kommt es ja nicht ganz so extrem. Trotzdem, im reinen Mehrheitswahlrecht, dass die großen Parteien stark begünstigt, gehen viele Stimmen wirkungslos unter. Wahltaktiker empfehlen daher, die Erststimme (nur) der CDU oder SPD zu geben, denn mindestens eine dieser beiden Parteien wird an der Regierung beteiligt sein und auf diese Art könne der Wähler wenigstens seiner politischen Gruppentendenz helfen. Nur in besonderen Ausnahmefällen kann es für einzelne Wahlkreise anders sein.
Alle Nachteile des Mehrheitswahlrechts vermeidet das „Verhältniswahlrecht“. Mit der Zweitstimme wird nach dem Verhältniswahlrecht gewählt. Beim reinen Verhältniswahlrecht wird die Gesamtzahl der zu verteilenden Sitze auf die einzelnen Gruppen (Parteien) entsprechend ihres Stimmanteils an der Gesamtzahl der abgegebenen, gültigen Stimmen verteilt. Also auf 40 Prozent der abgegebenen, gültigen Stimmen entfallen auch 40 Prozent der Sitze; auf 20 Prozent Stimmen entfallen eben 20 Prozent der Sitze; und auf 1 Prozent der Stimmen dann auch 1 Prozent der Sitze. Bei unseren rund 600 Bundestagssitzen würden 0,167 Prozent der Stimmen für einen Sitz ausreichen. Eigentlich ist die prozentuale Verteilung der Sitze auf die Parteien eine leichte Aufgabe, die jeder Grundschüler lösen könnte. Aber man kann es auch komplizierter, wissenschaftlicher machen. Der Deutsche Gesetzgeber will wenigsten in diesem Punkt korrekt sein. Bis 1983 wurde nach dem System d'Hondt gerechnet, dann wurde bis 2005 nach Hare/Niemeyer gerechnet und in 2009 wird nach Sainte-Laguë/Schepers gerechnet. Mit der Zweitstimme werden „Listen“ gewählt, genauer „Landeslisten“. Wie die gewonnenen Sitze auf diese Landeslisten verteilt werden, mag letztlich jede Partei mit sich selbst ausmachen, denn es ginge ja auch einfacher, nämlich nur eine Liste je Partei, schließlich geht es ja um den Bundestag und nicht um ein Sammelsurium von Landesgrüppchen – aber jeder wie er will. Übrigens: der Wähler hat die Landesliste zu nehmen wie sie ist, einzelne Kandidaten herauspicken (wie bei der Kommunalwahl) kann er nicht. - Und für die nächste Bundestagswahl wird das Wahlgesetz Dank des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts sowieso wieder geändert.
Da für einen Sitz (100 / 598 =) 0,16722408 Prozent der abgegebenen gültigen auf Sitze anzurechnenden Stimmen erforderlich sind – es geht hier wirklich um diese Bruchteile von Prozentpunkten - muss schon genau gerechnet werden. Aber diese Sitzverteilung ergibt – nicht nur theoretisch – eine starke Zersplitterung des Parlaments und führt damit zu unstabilen Regierungen. Um dies zu verhindern wurde die „5-Prozent-Hürde“ eingeführt.
Die 5-Prozent-Hürde bedeutet, dass nur die Gruppe (Partei) überhaupt an der Sitzverteilung teilnimmt, die wenigstens 5 Prozent der abgegebenen, gültigen Stimmen errungen hat. Allerdings gibt es einen Sonderfall: hat eine Gruppe (Partei) mindestens 3 Direktmandate errungen, dann gilt die 5-Prozent-Hürde für sie nicht. Nutznießer dieser Sondervorschrift war nach der Wiedervereinigung die PDS, heute Die Linke.
Diese 5-Prozent-Bestimmung hat einige Folgen:
1.Es kann im Bundestag maximal (100 / 5 =) 20 verschiedene Gruppen/Parteien geben.
2.Theoretisch könnte bei 21 Gruppen/Parteien und Gleichverteilung jede Gruppe nur 4,76 Prozent der Stimmen erringen und damit keine einzige Anspruch auf einen Sitz haben, der Bundestag hätte nur die Hälfte seiner gesetzlichen Mitglieder – aber Juristen denken die Folgen ihrer Gesetze selten bis zum Ende, die Mängel in der Rentenformel der gesetzlichen Rentenversicherung sind nur ein Beispiel dafür.
3.Wenn wegen der 5-Prozent-Hürde zum Beispiel 5 Prozent der Stimmen keine Sitze erhalten, dann reicht für die absolute Mehrheit der Sitze (300 von 598) bereits ([100 - 5] * [[300 * 100] / 598] =) 47,65886 Prozent der abgegebenen, gültigen Stimmen. Fallen nach der 5-Prozent-Hürden-Regelung sogar 10 Prozent der Stimmen aus der Sitzverteilung raus, dann reicht für die absolute Mehrheit sogar ein Stimmenanteil von nur 45,1505 Prozent aus. - So entstehen, nicht nur theoretisch, Mehrheiten im Parlament, die nicht den abgegebenen Stimmenanteilen entsprechen.
4.Da nie alle Stimmberechtigten auch ihre Stimme abgeben, reichen bei einer geringen Wahlbeteiligung auch sehr viel weniger Stimmen aus, um die 5-Prozent-Hürde zu überspringen. Da nun aber radikale Gruppen meist nur wenige Anhänger / Wähler haben, diese aber ganz sicher zur Wahl gehen, führt eine geringe Wahlbeteiligung zu einer Stärkung der Extremen – und steht damit dem eigentlichen Ziel der 5-Prozent-Hürde entgegen. Wer diesen Effekt geringer Wahlbeteiligung vermeiden will, muss die 5-Prozent-Hürde nicht auf die abgegebenen, gültigen Stimmen sondern auf die Zahl der Wahlberechtigten beziehen (wie es entsprechend bei Volksentscheiden ja teilweise gemacht wird).
5.Da es nur um die abgegebenen, gültigen Stimmen geht, wirkt jede ungültige Stimme wie eine nicht-abgegebene Stimme.
6.Und noch so eine Merkwürdigkeit: gibt in ganz Deutschland nur ein einziger Wähler seine Zweitstimme ab, dann ist die von ihm gewählte Gruppe/Partei im wahrsten Wortsinn „einstimmig“ gewählt – und erhält die Hälfte aller Bundestagssitze.
Und die Sache mit den Überhangmandaten? Wie viel Sitze eine Gruppe (Partei) bekommt, bestimmt allein die Zweitstimme. Von diesen so zustehenden Sitzen werden die mit der Erststimme errungenen Mandate abgezogen, nur der Rest wird noch zugeteilt. Und was ist, wenn mit der Erststimme mehr Direktmandate errungen wurden als nach der Zweitstimme zustehen? Dann bleiben diese zusätzlichen Sitze dieser Gruppe (Partei) erhalten, die Sitzanzahl im Bundestag wird dann über die gesetzlich festgesetzte Menge von 598 hinaus erhöht – und diese zusätzlichen Sitze sind die „Überhangmandate“. In den vergangenen Wahlperioden entfielen diese Überhangmandate – bis zu 16 waren schon vorgekommen - nur auf die beiden Parteien CDU und SPD, allerdings recht unterschiedlich verteilt. Wahlprognostiker rechnen für die kommende Wahl mit vielen Überhangmandaten für die CDU. Wahltaktiker empfehlen daher die Erststimme vor allem den SPD-Kandidaten zu geben.
Und wer alles noch einmal in schön formuliertem „Juristisch“ nachlesen möchte, dem sei das Bundeswahlgesetz (BWahlG) zur aufmunternden Bettlektüre empfohlen.
19.09.2009
Hermann Müller
Bentieröder Bruch 8
OT Bentierode
D-37547 Kreiensen
Bürgerreporter:in:Hermann Müller aus Einbeck |
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