Evolutionäre Bildwissenschaft – Ikonische Wende evolutionisiert (Teil 2)
Bild-Bild-Bild (…) Medien-Boulevardisierung?
Alle beklagten die Boulevardisierung der Medien und die Übermacht des Visuellen. Nur Hubert Burda nicht, so das CICERO-Magazin 8/2004: Im Gegenteil würde der Verleger & Kunsthistoriker das schöne Zeitalter der Bilder, den „Iconic Turn“, propagieren. Warum er so optimistisch ist: „Seitdem es Menschen gibt, werden sie von Bildern bewegt. Aber in unserer Moderne gilt das in besonderer Weise. Die Visualisierung unserer Welt ist offenbar. Die Quantität und die Verbreitungs-Geschwindigkeit von heutigen Bildern sind historisch beispiellos. Sloterdijk hat doch Recht, wenn er sagt, dass der Begriff der Moderne die Entstehung der Welt im Bild ist. Bildliches Denken ist die Triebkraft moderner Kulturleistung. (…) Der Zeitenwende-Begriff des „Iconic Turn“ bezeichnet nicht nur die äußerliche Bebilderung der Welt. Es geht um eine Weltanschauung im buchstäblichen Sinne. Die inneren Bilder und Metaphern, die wir mit uns herumtragen, die werden mächtiger. Bilder werden in unserem Bewusstsein wichtiger."
UND: Die Welt werde linkshirnhälftig zerlegt: „Und nun ist die optische Revolution da. Da wird sich die Textkultur zwangsläufig verändern. Und vielleicht in mancher Hinsicht zum Guten. In der Medizin ist jedenfalls die Verbildlichung der Diagnostik ein Segen. (…) Das Internet ist der lebende Beweis für den „Iconic Turn“. Es vereint Text und Bewegtbild zu völlig neuen Medienformen. (…) Alles wird optisch und bewegt dazu, wenn es wichtig und ernst genommen werden will."
Die bisweilen "verwirrende Vielfalt" des Bilder-Themas habe ich im 1. Teil meines Doppelartikels erörtert und betont, dass die neue fächerübergreifende Bildwissenschaft EVOLUTIONÄR ausgerichtet sein sollte. Es ging um Evolutionisierung der Kunstgeschichte – Evolutionäre Kunstwissenschaft. http://www.giessener-zeitung.de/giessen/beitrag/41...
Üblicherweise will man mit dem Terminus EVOLUTION ausdrücken, dass es sich um eine ENTWICKLUNG handelt, das heißt, eine bestimmte Sache existiert im Laufe der Zeit in verschiedenen Zuständen. In meinem Symmetriebuch habe ich eine bislang nicht existierende „Evolutorische Symmetrielehre“ (Evolutionäre Symmetrie-Theorie; kurz EST) explorativ und theoriebestimmt (nicht-idealistisch, bewusst-phylogenetisch forschend) entwickelt: Symmetriebücher -Hahn 1989 und 1998 (engl.) googeln.
Wissenschaftler aller Disziplinen feiern den „Iconic Turn”, von einer „Evolutionären ikonischen Wende“, sprach ich: Wir leben im Zeitalter der Bilder und des Sichtbaren, so dass nichts unseren Augen verborgen bleiben soll. Wir wollen alles sehen; von Natur & Kunst. Und da unsere Augen oft zu „schwach“ sind, erfolgt Sichtbarmachen mit optischen Instrumenten: für Entferntes & Mikroskopisches; auch zur URKNALL-Erforschung. Vgl. z. B. „Gottes-Teilchen: LHC-Antworten auf Fragen nach Ursprung, Aufbau und Evolution der Welt? - http://community.zeit.de/user/wernerhahn/beitrag/2... .
Projekt Evolutionäre Bildwissenschaft
Allerorten sind jetzt Bilder Gegenstand wissenschaftlicher Reflexion: in den Geisteswissenschaften wie in den Biowissenschaften, die etwa den Bereich der Nanometerskala bebildern oder den menschlichen Wahrnehmungsapparat, um „Bilder im Kopf” anatomisch zu lokalisieren und biochemisch zu verstehen.
Bedingung für die Rezeption meiner neuen Sehtheorie ist die Akzeptanz rationalistischen Denkens und experimenteller Verfahren im Gefolge des Fortschritts der Naturwissenschaften (Biowissenschaften). Noch berechenbarer als in der Renaissance wird die neue Perspektive-Ansicht mit einer veränderten evolutionären Raumauffassung (meine evolutionäre Geometrie als dynamische Bifurkations-Geometrie; vgl. mehr zur EST – Homepage http://www.art-and-science.de/ - ebenda http://www.art-and-science.de/9.htm .
Was das Ikonische sei und wie es funktioniert, war schon immer Gegenstand künstlerischen Schaffens und ist das Projekt einer Evolutionären Bildwissenschaft, wie sie sich im Doppelartikel von mir formiert. In dem von mir konzipierten nicht-leeren mathematischen Raum ließ sich die Körperwelt in ihren Ausdehnungen und Entfernungen erstmals experimentell-konkret lokalisieren (ars-evolutoria- und DS-Experimente). Diese neue Vermessbarkeit der visuellen Wahrnehmung war Voraussetzung für die Einführung der neuen Perspektive in der bildenden Kunst, so dass in einer Zeit, in der die Macht des Sichtbaren größer scheint als je zuvor, die neue EVOLUTIONÄRE BILD-Theorie und neue SEH-Theorie die kulturelle Evolution beflügeln können. Die Argumentation in der ars evolutoria (poesia evolutoria) ist – wegen ihrer Gründung auf Evolution - offen genug, um als neue Norm für das ,natürliche Sehen’ neue Denkräume aufzustoßen. Die Zeiten, in denen traditionell das Bild als theoretisches Eigentum der Geisteswissenschaftler betrachtet wurde, gehen zu Ende. Unsere Wahrnehmungen sind nicht als Abbilder einer „Wirklichkeit” zu verstehen, sondern stützen sich auch auf ein im Verlauf der EVOLUTION genetisch gespeichertes Vorwissen.
Zur These des Neurobiologen Semir ZEKI, dass Kunst den Gesetzen des Gehirns unterliegt und Ausdruck der neuronalen Fähigkeit des Gehirns sei, habe ich mich an anderer Stelle geäußert: „NEURO-ÄSTHETIK: Evolutionäre Theorie von “ALLEM” (ETOE Teil 3) & EVOLUTIONISM-UNIVERSALISM-art nach dem URKNALL“ - http://community.zeit.de/user/wernerhahn/beitrag/2... -Auch in http://community.zeit.de/user/wernerhahn/beitrag/2...
Zum uralten Traum der Wissenschaft, die EVOLUTION der Natur mit Hilfe der KUNST zu simulieren, wahr werden zu lassen, siehe: „Wie Künstler EVOLUTION malen: Zur Ausstellung „DARWIN – KUNST UND DIE SUCHE NACH DEN URSPRÜNGEN“ (Teil 2)“ in http://www.myheimat.de/gladenbach/kultur/wie-kuens... (illustriert mit 34 a&s-p-Bildern). Der Artikel legitimiert die Begründung einer Wissenschaft von den Bildern, die sich transdiziplinär & EVOLUTIONÄR neuen Phänomenen der Bildlichkeit widmet. Die Rede vom „Iconic Turn“ wird hierdurch evolutionisiert; kann somit zu keinem Ende kommen. Im Beitrag geht es auch um eine kunst- und kulturpädagogisch ausgesprochen bedeutungsvolle Perspektive, eine zukunftsfähige Sehweise mit der Möglichkeit für kulturelle und künstlerisch-ästhetische Bildung wird ebenda formuliert. Ob, wie, warum sich die Kunstgeschichte zur Evolutionären (!) Bildwissenschaft mausern bzw. erweitern sollte, offenbart der Artikel auch. Es geht um das EVOLUTIONÄR-Ästhetische, Anschauliche, Künstlerische, Sinnliche, Symbolische, Emotionale, Imaginäre, Fiktive, Phantastische (…).
Am 13.11.2010 beklagt in Bilder&Zeiten“ Henning RITTER den Stand des zeitgenössischhen Kunst-Systems - KUNST als „Geschäfts-Modell“:
Ökonomisches & Künstlerisches seien „ununterscheidbar geworden“, da in die Beurteilung von Kunst ökonomische Motive hineinspielen, die „über die Gegenwartsbedeutung entscheiden“. Es fehle „Zukunftskunst“ mit „revolutionärem Programm“; auch das „zeitkritische Potential“ der Gegenwartskunst. „Galeristen, Kunsthändler, Aussteller und Kuratoren bestimmen die Vorgänge auf dem Kunstmarkt, während die Betrachter eine untergeordnete Rolle spielen“. Ein perspektivereicher könne eine NEUE BILD-Praxis mit Schwerpunkt Naturwissenschaften sein.
Fach-VertreterInnen einer sich auch „Kunstwissenschaft“ bezeichnenden Kunstgeschichte können die Beiträge inter- und transdisziplinärer Art der ars evolutoria kaum weiterhin nicht (!) zur Kenntnis nehmen:
Peter SLOTERDIJK äußerte sich in FOCUS 46/2010 (S. 148-152) im Interview zur Allgegenwart der Bilder und des Internets & über den „Iconic Turn“ („Der Bilder-Ernstfall“):
Wichtig sei es heute, Wichtiges von Unwichtigem und „Passendes und Unpassendes“ zu unterscheiden – Frage: „Bringt das etwas oder nicht?“ – angesichts der Stimmen- und Meinungsvielfalt im Netz. P.S.: „Die emotionale Urteilskraft von jedermann ist eine Entscheidung mit unmittelbaren Folgen für Einschaltquoten und Verkaufszahlen.“ BURDAs Buchprojekt zeige „Philikonie“ – Liebe zum Bild. Der Verleger – promovierter Kunsthistoriker – gehöre inmitten des modernen Druck- und Verlagswesens zu den Menschen, „die sich aus dem Protoplasma des 15. Jahrhunderts deuten“. BURDA habe einen „Zauberberg der Medientheorie“ geschaffen.
EVOLUTION des Furchtherrschaft-Systems und „Mana“-&-„Archetypus“-Denkens
Im FOCUS-Interview mit Christine Eichel lesen wir: Jeder kann heute im Netz zum Autor werden – „starke Absender“ waren früher „König, Gott, Genie“ – „Figuren, von denen Autorität ausstrahlte“. „Starke Figuren“ seien als „Weltschöpfer“ mit „Genius“ tätig gewesen – auch als „Prophet & Messias“ und „warum nicht auch als Kunstmessias“. Sie flößten „Gottesfurcht, Königsfurcht und Geniefurcht“ ein, meint P.S.. Die heutigen MEDIEN „bilden die Fortsetzung des Furchtherrschaftsystems mit anderen Mitteln“: Massenmedien hätten die „Fähigkeit, die Universalien der jetzigen Furchtsteuerungen in große Populationen hineinzutragen“. Sie würden auch „das Volk bei Laune“ halten – auch „zynische Idolatrie“ würde betrieben; etwa bei der „Synthetisierung von Popgöttinnen oder von Boygroups“. Die „Aura von Heiligkeit, Ganzheit, Stärke und Leuchtkraft“ („Mana“) werde durch Medialität transportiert. Bei uns gehe das auch mit „Ruhm, Prominenz und Herrlichkeit“ einher (Archetypus-Denken).
EVOLUTIONäre BLICK-Kultur
Gut, dass heute JEDER im Netz zum Autor werden kann - mit Bild-Beiträgen; siehe meine a&s-Bildergalerien zu Artikeln im Netz (myheimat & Giessener Zeitung).
Bilder sind in der Gegenständlichen Kunst Träger von Figuren. Die gegenwärtige Diskussion über die spezifischen Qualitäten des Bildlichen bringt die Begriffe der Figur sowie des Figurativen – nach allem Abstrakten - neu ins Spiel: Ebenso wenig wie das Bild ist auch die Figur in der ars evolutoria nicht mehr einzig von ihrer illustrativen oder narrativen Funktion her zu begreifen. Erkundet wird hier die Figur als konturierte und bewegte Gestalt, entfalten sich im Figurativen „destabilisierende Kräfte“ - Sehgewohnheiten verändernde, neue Blickweisen eröffnende „Asymmetrisationen/Symmetrisationen -, in denen „Bilder“ (Figuren) der evolutionären (!) Veränderung und des bifurkations-„mutativen“ Übergangs manifest werden. Mit der Entwicklung der neuen Perspektive in der ars evolutoria evolvierte (meme-gesteuert) eine neue EVOLUTIONäre BLICK-Kultur.
POLY-focales Sehen - GEGENSTÄNDLICH vs./kontra ABSTRAKT revisionsbedürftig
Werner HOFMANN vertritt in seinem Buch – der Aufsatzsammlung „Die gespaltene Moderne“ (mit Aufsätzen aus mehr als fünf (!) Jahrzehnten) – via profunder kunsthistorischer Kenntnisse die kunstwissenschaftliche These, dass die MODERNE nicht erst mit Goya, Caspar David Friedrich oder Duchamp begonnen habe, sondern im Grunde schon mit DÜRER oder BERNINI: Demzufolge kenne die Moderne keine zeitlichen Grenzen, modern sei alles, was eine "polyfokale Sichtweise" erlaube. Dabei bricht Hofmann das alte Begriffspaar modern-neu auf:
Laut Hofmanns Essayband stellt die Moderne kein linear zu denkendes Projekt dar, sondern ereignet sich in Ambivalenzen und Selbstwidersprüchen. Auch Kandinsky entdeckte in „Gegensätzen und Widersprüchen" – den Polen … - eine neue Harmonie, nachdem führende Köpfe der Malerei des 20. Jahrhunderts (Picasso, Mondrian, Duchamp) immer wieder in Niemandsländer vordringen konnten. Erkenntnis-Fortschritt (kulturelle Evolution) bedarf des Ambivalenten: nach KANDINSKY der Pole „Große Realistik“ – „Große Abstraktion“ („Gegenständliches“ – „Reinkünstlerisches“; früher: Naturalismus/Realismus und Idealismus). Das alte Lehrmeinungs-Denken in GEGENSTÄNDLICH vs./kontra ABSTRAKT ist revisionsbedürftig, was schon KANDINSKY festgestellt hat. Und Herbert READ untermauert hat (Denken-Fühlen-Empfinden-Intuieren): Siehe Kapitel 12.2.4. in meinem Symmetriewerk. Vgl. auch „Die TRANSMUTATIONEN des Wassily KANDINSKY: abstrakt - absolut – konkret – biomorph/figurativ“ - http://www.myheimat.de/gladenbach/kultur/die-trans... .
AMBIVALENZen-Integration – Doppelnatur - Modell der Komplementarität
Hofmann interpretiert die „gespaltene Modere“ immer wieder aufs Neue über die Begriffe der „Integration der Ambivalenz", der Koexistenz von These und Antithese und der „Sprengkraft der Gegensätze". Zwiespalt und die Zerrissenheit der Moderne würden in der Kunst der Moderne anschaulich werden. Er spüre – schreibt der renommierte Autor - den „Ambivalenzen und Widersprüchen, Konflikten und Kontrasten, Gegensätzen und Umbrüchen, Pendelschwüngen und Ausgleichsbewegungen, Antithesen und Synthesen der Moderne" nach. Er habe dabei das Modell der Komplementarität, ein nach Niels Bohr „erkenntniskritisch notwendiges Nebeneinander zweier widersprechender Betrachtungsweisen", für sein Schreiben und Nachdenken über die Kunst der Moderne fruchtbar genutzt. Hofmann nimmt die moderne Kunst, hier diejenige vom Rokoko bis zur Gegenwart, von Hogarth und Picasso, in ihrer Formensprache und Gedankenwelt sehr ernst – lehrt das Sehen der Moderne, macht sie erkennbar, sichtbar und erlebbar.
Der 2008 achtzig Jahre alt gewordenen Autor und Ausstellungsmacher Hofmann (vgl. das Feuilleton der FAZ, SZ, DIE WELT, Der Tagesspiegel v. 08-08-08) sah die Moderne als Spielfeld von Entgrenzungen, Vermischungen und Revokationen - als Schauplatz der „Gegensätze und Widersprüche“, in denen Kandinsky unsere neue „Harmonie“ entdeckte.
Interessant ist Hofmanns These des Buches, dass die Moderne bereits im Mittelalter begonnen habe. Wer das nicht glaubt, hänge einem normativen Schönheitsideal der monofokalen Geschlossenheit, Ganzheit und transzendent rückversicherten Ästhetik an, das antimodern ist. Wer aber in der Lage sei, gezielte Blicke an die Ränder („en marge") zu werfen, der werde in mittelalterlichen Handschriften Auflösungen, Karikaturen und Transformationen von Geometrischem in Vegetabilisches erkennen, die die wuchernde Phantasie und die Modernität des angeblich so dunklen Zeitalters dokumentieren.
Im Untersuchungsgegenstandes "Moderne" – untersucht mit dem Terminus „Integration der Ambivalenz" – wird „Synthese“ (so Hofmanns Darstellung) nicht aus „These und Antithese“ zu einer neuen Ganzheit verschmolzen, sondern beide Ambivalenzen sind gezwungen, in einer Art „Doppelnatur" nebeneinander zu existieren: Die Moderne ist gespalten, aber nicht gebrochen. Janusgesichtig ist sie, ambivalent und voller Spannungen, nicht unversöhnbar, sondern integrativ, aufgeladen mit aller Sprengkraft der Gegensätze. Sie vereint Begriff und Gegenbegriff in „einträchtiger Zwietracht" (Kontrastkoppelung). Kunst bedient sich der „Gegenkünste" wie Grotesken, Karikaturen und Capricci, um ihre Widerständigkeit gegen die kanonisierte Mainstream-Kunst aufscheinen zu lassen. Die Collage ist ihre emblematische Kunstform.
Fundamentale Grundlagen für einen SCHÖNHEITs-Begriff, „der auf empirischen Fakten beruht und diese mit objektiven, mathematischen-geometrischen Maßstäben verbindet“ (so Hofmann), hat Leon Battista ALBERTI in Anlehnung an Vitruv entworfen (1485: Zehn Bücher über die Baukunst; vgl. SB 2.3.1. und GM S. 129). Schönheit definierte Alberti „als eine bestimmte mit Berechnung verknüpfte SYMMETRIE (concinnitas) aller Teile in dem Ganzen, wozu sie gehören, so zwar, dass man nichts hinzufügen noch wegnehmen noch verändern kann, ohne sie missbilligenswert zu machen“. Kunst gerät hier in die Abhängigkeit der Natur; „Symmetria“ wird für Natur und Kunst als das „vollkommenste und oberste Gesetz der Natur“ erkannt. Entdeckt wird das Auge als Vermittler zwischen Natur und Mensch.
Alberti empfahl auch - wie Leonardo (in „verworrenen und unbestimmten Dingen“) und später Goethe (in Wolken-Bildern) -, zufällig vorgefundene, phantasieanregende Natur-Seh-Dinge zu „natürlichen Gestalten“ zu transformieren. (Siehe mein SB 8.1.1.) Ausdrücklich wurde diese Schönheit von Alberti nicht der subjektiven Vorstellung überlassen, sondern als „überprüfbares Regel-Maß“ aufgefasst“ (Hofmann): „Sie gründet auf der zentralperspektivischen Zuordnung von Raum und Körpern zu einem illusionistischen Kontinuum, das sich wie die Fortsetzung des Erfahrungsraumes präsentiert, in dem wir uns aufhalten.“ Auch gründet sie auf „Proportionssystemen“ (Zahlenverhältnissen) im Aufbau des menschlichen Körpers, die „Beziehungsschönheiten herstellen“, erläutert Hofmann ebenda (S. 129).
Aus der Zusammenfassung und Vereinigung all dieser Dinge ergebe sich etwas – so Alberti -, „wodurch jede Erscheinung der Schönheit wunderbar verklärt wird. Dies soll bei uns das Ebenmaß heißen.“ Richtige Formen sind jene, welche ein stimmiges, widerspruchsfreies Ganzes ergeben. (Siehe Zitat oben.)
Kunstschönheit und Naturgesetz
Alberti formulierte zur Kongruenz von Kunstschönheit und Naturgesetz auch: „Die Schönheit ist eine Art Übereinstimmung und ein Zusammenklang der Teile zu einem Ganzen, das nach einer bestimmten Zahl, einer besonderen Beziehung und Anordnung ausgeführt wurde, wie es das Ebenmaß, das heißt das vollkommenste und oberste Naturgesetz fordert.“ Um diese Maximen habe sich die Geschichte der Künste, der Malerei vor allem, in den kommenden Jahrhunderten gedreht, auch die Kunsttheorie habe „ihr Wunschdenken daran orientiert“, so Hofmann, der an Goethe erinnert:
Das Schöne sei „eine Manifestation geheimer Naturgesetze“ und dessen Definition der „hohen Kunstwerke“: „Alles Willkürliche, Eingebildete fällt zusammen, das ist Notwendigkeit, da ist Gott.“ (S. 130.)
Später wurde die Kongruenz des Wahren, Guten und Schönen im ästhetischen (wie im religiösen) Bereich in Zweifel gezogen. Seit 1800 hebe sich das Außenseiter-Kunstprinzip „Capriccio“ (von Regel und Regelverstoß, Norm und Abweichung) immer mehr durchgesetzt. Kunst erfuhr in der Moderne des zwanzigsten Jahrhunderts eine radikale Umwertung, einen Paradigmen-Wechsel: durch Formen zertrümmernde und auflösende Innovationen von Kubismus und Erfindungen Abstrakter Kunst bis hin zu den „Spott- und Gegenkünsten der Dadaisten“ (Hofmann). Man lernte in der kulturellen Evolution, dass Schönheit auch vom (geplanten) Zufall abhängen konnte.
Vor der Neuzeit mit Albertis Maximen zum ähnlichen Bild war das unähnliche Bild („imago dissimilis“) nach Hofmann (RS S.377)„sowohl spekulativ als auch anschaubar der Angelpunkt des mittelalterlichen Denkens über Kunst“, was Hugo von St. Viktor (christlicher Theologe um 1097 – 1141) gelehrt hat. An die Kodierung der mittelalterlichen Bilder erinnere die Mehrsinnigkeit der „Realistik“ und „Abstraktion“ (zwei Pole; s.w.oben) des Russen Kandinsky sowie die Ready-mades des Franzosen Duchamp, stellte Hofmann fest. Bezugssysteme aus unähnlichen Bildern durften und konnten sie herstellen: In mittelalterlichen Metaphernbildern war „damals das Abbild noch nicht auf das illusionistische Verfahren der schieren Nachahmung eingeengt. (…) „Das unähnliche Bild war somit keiner der Kontrollinstanzen wie Anatomie, Proportionskanon und Zentralperspektive unterworfen, die dann in den Jahrhunderten des ‚offenen Fensters’ wirksam werden sollten.“ Verstöße gegen die Empirie durch Reanimation des unähnlichen Bildes setzten wieder Mitte des 18. Jahrhunderts – beispielsweise mit Fichten-Bildern Friedrichs, dem Urinoir Duchamps, Wort- und Bildzeichen Magrittes (so Hofmann).
EVOLUTIONÄR geprägt: Neuen Kongruenz von Kunstschönheit & Naturgesetz – ars evolutoria
Zurück zu allgemeingültigen Gesetzen, allerdings auf höherer - evolutionär geprägten - Ebene mit einer innovativen neuen Kongruenz von Kunstschönheit und Naturgesetz, mutierte nachweislich bildende Kunst zur Kunst und Kunsttheorie der ars evolutoria in der zweiten 20. JH-Hälfte. Auch diese Kunst ist nicht „einfach vom Himmel“ gefallen. Als Übergangsformen erwiesen sich – aus heutiger Sicht - die historisch überholten Stil-Experimente des 20. Jahrhunderts mit ihren oft revolutionären figurativen oder abstrakten Gesten: der alte Kubismus, der überholte Suprematismus (russische Konstruktivismus), Futurismus, Mondrianismus, Surrealismus und Spielarten der L’art-pour-l’art-Abstraktion (beliebiger und inhaltsloser abstrakter Malerei); von Postmoderne-Experimenten („Anything Goes“) ganz zu schweigen. Aus einer alten (aus dem 19. JH tradierten) zu neuem Zeitbewusstsein mutierten Kunst (erste 20. JH-Häfte) entwickelte sich kulturell-mutativ (über Memetik, Spiegelneuron-Beteiligung) die Erkenntnis-Kunst ars evolutoria.
Von der Monofokalität zur Polyfokalität: METAMORPHOSE - Transformation
Der moderne Prozess der Formgenese besteht nach Hofmanns Interpretation zur „gespaltenen Moderne“ in der ständigen METAMORPHOSE ohne teleologisch festgelegte Richtung, in der unabschließbaren „Transformation“, die über die Freiheit der Wahl zwischen unterschiedlichen Modi der Darstellung verfügt. Kanon und Antikanon sind in Hofmanns Moderne komplementäre Erscheinungen. Nichts ist endgültig, das Experimentelle, das Improvisierte, der Versuch haben Kunstwert. Die Moderne macht den Schritt von der Monofokalität zur Polyfokalität - ein gekoppeltes Begriffspaar, das Hofmann, wie er schreibt, mit nicht überwältigendem Erfolg schon lange propagiert hat.
Leitgedanken in Hofmanns Essay-Texten sind Goethes Äußerung über das gelungene Kunstwerk – „da ist Notwendigkeit, da ist Gott" - und Mephistos Bonmot aus Faust II: „Gestaltung, Umgestaltung. Des ewigen Sinnes ewige Unterhaltung". Eine Schlüsselrolle spielte für Hofmann die Devise, es gelte „die Kunst, die Kunst zu verlernen“, die um die Mitte des 18. Jahrhunderts wahrscheinlich überall dort geläufig war, wo man sich von den Akademien abwandte (Goya und andere). Diese Kunstdevise spielte eine Hauptrolle in Hofmanns Bilanz der künstlerischen Moderne – „Die Moderne im Rückspiegel“ (1998). Henning Ritter formulierte in der FAZ (08-08-08), Hofmann verankerte die Moderne in der europäischen Renaissance: „Die Kunst, die Kunst zu verlernen, die seit der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts gelehrt wurde, könnte das wichtigste Mittel gewesen sein, um sich den Gesetzen und Normen der Vergangenheit zu entwinden. Solche negativen Lernprozesse und Befreiungen sind ein Lebensthema des Kunsthistorikers Werner Hofmann.“
Goethes „Metamorphose“-Idee & „poesia evolutoria“ der ars evolutoria
Dank seines besonderen Gespürs für Dissonanz und Diskrepanz in der Kunstentwicklung, sich nicht als ein einspuriger folgerichtiger Ablauf von Stilen besteht – also Kunst-Bewusstseins-Krisen offenbart – hat Hofmann das Moderne schon im Traditionellen auffinden und herausstellen können (Mittelalter, Renaissance). Robert Musils „Möglichkeitssinn“ (als Gegenwelt zum Wirklichkeitssinn) und Goethes „Metamorphose“-Idee (immer kritisch betrachtet) begleiten den Kunsthistoriker in seinen schriftlichen Mitteilungen seit Jahrzehnten. Im Abschnitt "Zur Unvorstellbarkeit von Formevolution durch totale Formverachtung/Formentsagung“ (Kapitel 8.1. SB) habe ich schon 1989 im Symmetriewerk darauf hingewiesen; durch Hofmanns Bücher bekam ich manche Anregungen zur „poesia“ der ars evolutoria – vgl. Teil 1 des Doppelartikels -, konnte ich meine Kunst und Theorien dazu bestärken. Gerne denke ich zurück an den freundlichen Gedankenaustausch bei einem Treffen mit dem Ex-Kunsthallenchef in der Hamburger Kunsthalle im Jahr 1975 (vgl. Brief in Kap. 5.4. Symmetriebuch), freute mich besonders über HOFMANNs DANKes-Worte nach Veröffentlichung des Symmetriebuches 1989: (…) „Mit Ihrem Buch haben Sie mir eine große Freude gemacht – eine Fundgrube, aus der ich oft schöpfen werde!“ (…) 1983 attestierte mir der Kunstwissenschaftler vor der Drucklegung meines Symmetriebuches: „... Sehr beeindruckt. Nicht nur haben Sie auf viele alte Fragen eine Antwort gefunden. Sie haben neue Fragen in die Diskussion gerückt und damit das Problemfeld erweitert. Ihre Untersuchung scheint mir im besten Sinne interdisziplinär angelegt. Deshalb sollte man sie so schnell und so gut wie möglich veröffentlichen!“
Wenn ich nunmehr – nach Jahrzehnten - wiederum an Hofmanns jüngste interessanten Forschungsergebnisse anknüpfen werde, kann dies als Hommage an den Kunsthistoriker, Museumsleiter und Ausstellungsmacher zum 80. Geburtstag betrachtet werden.
Es geht hier um Erkenntnisse Hofmanns in den Veröffentlichungen des Beck-Verlages „Die moderne im Rückspiegel: Hauptwege der Kunstgeschichte (1998) und „Die gespaltene Moderne: Aufsätze zur Kunst“ (2004).
Von der monofokale Perspektive zur Polyfokalität-Sicht
Der Terminus „offenes Fenster“, den Hofmann für seinen Diskurs über den „Paradigmenwechsel, den wir moderne Kunst nennen“ benutzt - er stammt von Leon Battista Alberti in der Renaissance (1435) -, ist ein Schlüssel-Begriff. Er hat mit der disziplinierten Welt der nur einen einzigen Blickpunkt zulassenden Zentralperspektive zu tun: „perspektivische Monofokalität“ ohne Perspektivbrüche. Die monofokale Perspektive wurde durch die Bild-Experimente in der Moderne entmachtet, so dass durch eine Polyfokalität-Sicht – in Antithese zum Streben der Renaissance nach Schönheit als dem „obersten und vollkommensten Naturgesetz“ – auch der Schönheitsbegriff zu etwas anderem mutiert ist:
Der Wiener Kunsthistoriker Julius von Schlosser hatte in der Debatte über ästhetische Maßstäbe die Schönheit „die tyrannischste aller Ideen“ genannt. Seit Kepler kam es durch kulturelle Evolution – insbesondere naturwissenschaftlichen Fortschritt – zur Entwicklung eines exakteren Symmetriebegriffs. Abgelöst wurde der eher irrationale antike Begriff: „Symmetrie ist zunehmend augenfälliger, anschaulicher, kommensurabel, durchschaubar und rational erklärbar geworden“, formulierte ich in einem Essay (EST: Hahn 1996, S. 257).
Hier habe ich mich auf mein SB (Hahn 1989) bezogen: Ausführungen ebenda zu Kepler, Hessel, Goethe, Haeckel, Jaeger, Hegel, Rosenkranz, Adorno, Kambartel, Portmann und Ludwig. Da die kulturelle Evolution des Symmetrie-Begriffs sehr eng mit der EVOLUTION des SCHÖNHEITs-Begriffes verknüpft ist, kann gesagt werden, dass ein eher irrationaler Schönheitsbegriff sich zu einem exakteren Begriff von Schönheit mutiert ist.
Dass Schönheitsnormen und Stil-Gesetze in den Techniken der Moderne abgedankt haben, so dass Kunst-Prozesse „Zeichen der Auflösung“ von Kunst gezeigt haben (Kunst der Kunstlosigkeit, so Hofmann) kann an exemplarischen Beispielen (Malewitsch, Mondrian) erörtert werden. Zu zeigen ist, dass für innovative Erkundungen und Experimente in der bildenden Kunst und Kunsttheorie die Möglichkeiten des (monofokalen) Staffeleibildes nicht erschöpft sind (These Hofmanns). Kunstsparten wie Graphik, Malerei und Plastik sind angesichts der Errungenschaften der ars evolutoria nicht veraltet (obsolet). Zu entthronen waren Bildkategorien der „alten Moderne“.
Mit meinen früheren Publikationen habe ich dokumentiert (nachgewiesen), dass ich (Naturwissenschaftlern analog) in Kunst und Theorie der ars evolutoria bevorzugt ein exploratives, das heißt systematisch probierend-entdeckendes Experimentieren, praktiziere. Text- und Bildmaterial meines Symmetriebuches beweisen, dass ich nicht von einer bereits ausformulierten KUNST- und NATUR-Theorie der ars evolutoria ausgegangen bin: Als Resultate ergaben sich immer wieder neue Hypothesen mit festen Begriffen, nachdem zuvor exploratives Experimentieren mit Bildern/Texten stattgefunden hat. Begleitet wurde exploratives Experimentieren aber auch von theoriebestimmtem Experimentieren: vgl. die Wege zur Entdeckung und Patentierung einer Doppelspiegel-Vorrichtung zum doppelten stereoskopischen Sehen; zum experimentellen Zweifachsehen und Einfachsehen.
Zu den im Kunstbereich entdeckten Experimenten und Bildresultaten waren angemessene Begriffe zu entwickeln. Experimente am ars-evolutoria-„Labortisch“ (einer „Ein-Mann-Werkstatt zum „Möglichkeitssinn“; Musil-Begriff) standen ganz im Dienst der Prüfung meiner Theorien zur EST.
Für meine Homepage schrieb ich als ein „Credo“:
Künstlerische Praktiken können ein Ort von Erkenntnisgewinn sein. In künstlerischen Konzepten der (alten) Moderne ging es vorrangig um die permanente Entwicklung von Neuem – um künstlerische Wissensproduktion, ohne dass künstlerische Theorien, Arbeitsweisen, Verfahren und Methoden (= Kunst-Wissen) Teil eines spezifischen Wissens im System von Natur-Wissenschaften geworden sind. Durch experimentelle Demonstrationen und Beobachtungssituationen in der ars evolutoria ist es mir Schritt für Schritt gelungen, künstlerische Erkenntnisweisen mit naturwissenschaftlichen zu verknüpfen, ineinander zu führen und zu verschmelzen (und umgekehrt).
So konnte ein Wissenstransfer (Interaktion, Transdisziplinarität) zwischen Künsten und (Natur-)Wissenschaften – und umgekehrt – ermöglicht und befördert werden. Die Inhalte der Links meiner art-and-science-Homepage machen deutlich, welche spezifischen Fragestellungen, Methoden und Verfahren der ars evolutoria Einfluss auf naturwissenschaftliche Erkenntnis haben. Im künstlerischen Wissen der ars evolutoria kommt ein szientifisches Wissen zum Einsatz und umgekehrt, wobei die Frage nach dem Nicht-Wissen jeweils das Pendant des Wissens bildet und Nicht-Sichtbares sowie Unbewusstes nicht ignoriert werden.
So konnte es über ars evolutoria z. B. gelingen, Weiterführungen der Evolutionstheorien mit künstlerischem Wissen zu erarbeiten, was eine (Wieder-)Entdeckung von Denkformen und Arbeitsweisen der Renaissance bewerkstelligen konnte („Neo-Renaissance“-Devise „Ars sine scientia nihil est“, Postulat L’Art-pour-la-science“ – „Kunst um der Erkenntnis willen“; siehe Link PDF EST und „Evolutionäre Symmetrietheorie“!)
Bürgerreporter:in:W. H. aus Gladenbach |
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