Die TRANSMUTATIONEN des Wassily KANDINSKY: abstrakt - absolut – konkret – biomorph/figurativ
„Die Zeit war schwierig, aber heroisch. Wir malten, das Publikum spuckte. Heute malen wir, und das Publikum sagt: ‚Das ist hübsch’. Dieser Wechsel will nicht heißen, dass die Zeiten leichter geworden wären für die Künstler.“
(KANDINSKY: Hommage an „Franz MARC“ 1936)
Vorbemerkung: Mit der U-Bahn fahren wir zum Königsplatz in München, denn die grandiose KANDINSKY Retrospektive findet im Lenbachhaus und im Kunstbau statt. Vor den Propyläen sind für die Ausstellung „fliegende Bauten“ aufgebaut, in denen man die Tickets kaufen kann. Wir sind nicht die einzigen, die die Idee eines Museumsausflugs haben. Rote Plakate informieren: Bis zum 8. März 2009 wird die Ausstellung verlängert. Vor den Ticket-Schaltern haben sich unterschiedlich lange Schlangen gebildet. Wir müssen so lange warten, bis eine gewisse Anzahl an Besuchern hineingelassen wird, damit die Ausstellung nicht zu voll wird. Die Eintrittskarten bekommen Rentner/Pensionäre freundlicherweise ermäßigt zum halben Preis.
Das malerische Gesamtwerk von Wassily KANDINSKY wird momentan durch eine große Retrospektive in München präsentiert; die großartige Ausstellung mit zahlreichen großformatigen Bildern beginnt im Lenbachhaus München (KUNSTBAU) und umfasst 95 Gemälde. Bis zum 8. März 2009 wurde die Ausstellung verlängert; danach wandert sie über Paris (08. April – 10. August 2009) nach New York (18. September 2009 – 10. Januar 2010). Die Ausstellung „Kandinsky – Absolut. Abstrakt“ ist ein Gemeinschafts-Projekt der weltweit größten KANDINSKY-Sammlungen: der Städtischen Galerie im Lenbachhaus in MÜNCHEN, dem Centre Pompidou in PARIS und dem Solomon R. Guggenheim Museum in NEW YORK. Erstmalig seit über 30 Jahren wird das Gesamtwerk des W.K. in allen Werk-Phasen mit herausragenden Gemälden präsentiert.
Der bekannte Vertreter der („alten“) modernen Kunst - der gebürtige Russe & Deutsche (seit 1928) & Franzose (seit 1939) Wassily KANDINSKY -, 1866 in Moskau geboren und 1944 in Paris gestorben, ist einer der großen wichtigen Erneuerer der Kunst des 20. Jahrhunderts und gilt als „Begründer“ der abstrakten Malerei. So sehen es auch die Macher der Retrospektive noch, obwohl eine SCHIRN-Ausstellung zeigen konnte, dass W.K. nicht das Patentrecht „Begründer der abstrakten Malerei“ für sich beanspruchen kann. (Vgl. (1)&(5).)
Die Sammlungs-Schwerpunkte der drei Partnerinstitute München/Paris /New York ergänzen einander in idealer Weise: Das Lenbachhaus schöpft aus seiner hervorragenden Kollektion von Werken aus der Zeit des „Blauen Reiter“ bis 1914 (88 Gemälde-Schenkung von Gabriele MÜNTER im Jahr 1957 mit dem Frühwerk der Münchner und Murnauer Jahre von W.K.). Im Centre Pompidou liegt der Schwerpunkt auf W.K.s Schaffen während der Russischen Revolution und seiner Zeit am Bauhaus in Weimar und Dessau bis 1933. KANDINSKYs Spätwerk aus den Pariser Jahren 1933 bis 1944 ist durch Werke aus dem Guggenheim Museum New York bestens vertreten. Dass ausschließlich Hauptwerke der Malerei von W.K. in der Retrospektive präsentiert werden, die für Kandinskys künstlerische Entwicklung entscheidend waren, betont die Einmaligkeit und Einzigartigkeit der Ausstellung, die der Kunstinteressierte (Fachmann oder Laie) gesehen haben sollte. Die Gemälde-Schau im Kunstbau wird in München ergänzt durch die Ausstellung des kompletten druckgrafischen Werks Kandinskys im Lenbachhaus. Jedes der drei Partner-Museen bereichert die Ausstellungs-Tournee der zentralen Kandinsky-Retrospektive im eigenen Haus mit einer begleitenden Präsentation weiterer Werke und Dokumente des Künstlers:
Wer die Gemälde-Schau im Kunstbau nicht sehen konnte, kann sich einen guten Eindruck verschaffen, wenn er sich den KATALOG zur Münchener Ausstellung (2) besorgt - die Buchhandelsausgabe des Prestel-Verlages ist 9.95 Euro teurer als die Museumsausgabe: der Katalog enthält (teilweise kommentiert) 95 Gemälde, ein Register, Bibliografie (vollständiger Auflistung von W.K.s Aufsätzen zur Kunst und den Buchpublikationen von W.K.) sowie der Werkliste und Beiträge von V.E. BARNETT, T. BASHKOFF, C. DEROUET, M. HALDEMANN, A. HOBERG. Wer sich ohne Katalog und/oder Ausstellungsbesuch einige ausgestellte Werke ansehen möchte, kann sich Bildstrecken im WEB ansehen: z. B. bei FAZ.Net (6) und „art“ über http://www.art-magazin.de/kunst/11594/wassily_kand...
Auch wenn KANDINSKY, der mit 30 Jahren spät zur Kunst berufene, studierte Jurist, gegenständliche Reminiszenzen mehr und mehr aus dem für ihn „materialistischen“ 19. Jahrhundert ausschied, so gibt es durchaus in der Retrospektive, die den Weg der Trans-Formationen/Mutationen von „abstrakt“ über „absolut“ zu „konkret“ & „biomorph-figurativ“ schildert, wobei im Zickzack-Kurs immer wieder Anleihen aus der „natürlichen“ Welt zu verzeichnen sind, was Ausstellung und Katalog beweisen. Durch die Schenkung von Gabriele MÜNTER besitzt das Lenbachhaus ein phantastisches Konvolut von gerade frühen Bildern, an denen sich wie im Kunstgeschichtsbuch W.K.s Weg zur Abstraktion abschreiten lässt:
Wiederholt hat KANDINSKY sein Ringen mit der Malerei geschildert. Zu einem neuen farbstarken und expressiven Mal-Stil fanden KANDINSKY und Gabriele MÜNTER (G.M.) 1908, wodurch der Durchbruch zur „abstrakten“ Malerei-Phase des W.K. eingeleitet worden ist. Mit anderen gründete W.K. 1909 in München die NKVM (Neue Künstlervereinigung München). Die Gruppe erntete zur ersten Ausstellung (mit 8 Gemälden W.K.s) in der Galerie Heinrich Thannhauser im Münchner Acropalais vernichtende Kritiken. Da Presse und Öffentlichkeit auch eine zweite Ausstellung der NKVM heftig angegriffen haben, verfasste 1910 der Münchner Maler Franz MARC eine positive Gegendarstellung hierzu und kam so in Kontakt zur Gruppe. Seit 1911 entwickelte sich eine enge Freundschaft W.K.s zu Franz MARC, der in die Nähe von Murnau (Sindelsdorf) gezogen war und Mitglied der NKVM wurde. Mit seinem Artikel „Zur Ausstellung“ in der kleinen Broschüre „Zwei Kritiken“ wandte sich MARC gegen die heftigen öffentlichen Attacken; 1912 hat MARC in der Zeitschrift „Pan“ für die „neue Malerei“ und ihre „konstruktiven Ideen“ eingesetzt: als sich Max BECKMANN gegen MARCs Position wendete, schrieb der Tierliebhaber und Futurismus-Freund im „Pan“ den kämpferischen Artikel „Anti-Beckmann“.
Ärger mit Kollegen veranlassten W.K. & G.M. sowie F.M. die NKVM-Gruppe zu verlassen und die „Erste Ausstellung der Redaktion Der Blauer Reiter“ (1911/1912) zu machen, in der auch der Wiener Komponist Arnold SCHÖNBERG mit Werken vertreten war. 1912 erscheint W.K.s Buch „Über das Geistige in der Kunst“ und das Almanach „Der Blaue Reiter“. 1913 fasst MARC den Plan zur Herausgabe einer illustrierten Bibel-Ausgabe des Blauen Reiters; hierzu fertigte er u.a. zur Illustrierung der Genesis den mystischen vierfarbigen Holzschnitt „Geburt der Pferde“ (mit roter strahlender Sonne und 3 Pferde-Formen); auch zur „Schöpfungsgeschichte II“ enstand ein noch abstrakterer Holzschnitt 1914 mit Pferdeartig-Werdendem - vergleichbar zu den Schöpfungsgedanken in MARCs beeindruckendem „Skizzenbuch aus dem Felde“ (1915) mit Pferden. (Vgl. Katalog „Franz Marc. Pferde“ Christian von HOLST, Staatsgalerie Stuttgart 2000.)
1914 muss W.K. in die Schweiz emigrieren, wo sich in Zürich auch W.K. & G.M. trennen. Ärgerlich: Der Kunsthändler Herwarth WALDEN sollte in Berlin in der Kriegszeit 70 Werke aufbewahren, verkaufte sie aber während der Kriegsjahre unerlaubt, ohne W.K.s Einwilligung.
Als „zweifellos“ der „wichtigste Begründer der abstrakten Malerei“ bezeichnet die Kuratorin Annegret HOBERG den Maler KANDINSKY im Katalog-Beitrag „WASSILY KANDINSKY – ABSTRACT. ABSOLUTUT. KONKRET“ ((2) S. 190 ff.). Sein Leben lang blieb W.K.s tiefe Überzeugung vom „Geistigen in der Kunst“ und seiner Analogie zur abstakten Kunst erhalten, unterstreicht HOBERG ebenda. Besonders der Eindruck eines impressionistischen Gemäldes von Claude MONET (Heuhaufen) und das Farberlebnis eines Sonnen-Untergangs beim Kreml in Moskau motivierten W.K., Maler zu werden. GEISTIGES wollte W.K. mit den Mitteln der bildenden Kunst transportieren: „Über das Geistige in der Kunst“ (1912) lautete ein Buchtitel; künstlerische Neuerungen und progressive Ideen (Besonderes) könne W.K. mit seiner Sicht des Geistigen in der Kunst leisten, glaubte der Maler sowie seine Freunde G.M. & F.M.: Die religiöse Symbolfigur „Heiliger Georg“ (Schutzheiliger) stand für den Sieg des Geistes über das Materielle (Titelbild Almanach „Der Blaue Reiter“; vgl. Kat. S. 198). Verkürzt stellt HOBERG einige Hauptmerkmale von W.K.s Abstraktion - VOR 1914 - zusammengefasst so dar: Verschlüsseln und Verbergen von Gegenstandsresten – zunehmende Unkenntlichkeit – Denken in Gegensätzen und das Gegenläufige der formalen Anordnungen.
Unter „ABSOLUT“ verstand W.K. die „rein abstakte Form ohne gegenständliche Überbrückung“ (1914, Vortrag „Mein Werdegang“). Also „reine“ Malerei ist eine „absolute“ Malerei, wenn - von jeglichem Gegenstand unabhängig - mit abstrakten Formen gearbeitet wird, mit Bildelementen, die der Maler frei erfindet. Mit der Eliminierung des Gegenstandes wurden „revolutionär“ (geistesgeschichtlich „evolutionär“) die Schranken der abbildenden Kunst eingerissen, PERSPEKTIVE verschwand (vorerst) aus den Tafelbildern des W.K. (siehe weiter unten – Spätwerk; vgl. mehr in (5)).
Ab 1920 manifestiert sich unter dem Einfluss der russischen Konstruktivisten indessen eine neue Formensprache in W.K.s Werken: Analog zu MALEWITSCH mit seinen suprematistischen Formen – jedoch die „Mechanik“ im Werk der Konstruktivisten ablehnend - strebt W.K. (auch „russischer Messias“ genannt) nach Formen geometrischer Art, die „freier, elastischer, abstrakter“ sein sollen und nicht an einen Gegenstand gebunden sein dürfen; zu weiteren Offenbarungen KANDINSKYs tiefer Geistigkeit – seinem Glaube an das „Geistige in der Kunst“. In seinen Schriften mit kunst-revolutionärem Sendungsbewusstsein spricht W.K. von der „Epoche des großen Geistigen“ der Menschheit (a.a.O. S. 203), in der es zu einer SYNTHESE der Künste und einer SYNTHESE zwischen Künsten und Wissenschaften kommen müsse: Mit Ablehnung des positivistischen (toten) „Materialismus“ zugunsten des (lebendigen) „Geistigen“, der Dimension des Nichtmateriellen. (W.K.: „Punkt und Linie zu Fläche“ 1926, S. 22, 31f.) “Synthetische Kunst“ bestimmte auch das Credo der synthetischen Arbeit des Bauhauses (Vereinigung von Kunst, Wissenschaft, Industrie). Als Musterbeispiel des angestrebten Ideals einer Einheit der Künste sah KANDINSKY die russische Kirche (vgl. HOBERG ebenda S. 211).
Während späte Bauhaus-Bilder eine Malerei unter dem „Einfluss von Formen aus Industrie und Technik“ (HOBERG S. 206) zeigen, transmutiert W.K.s Palette über eine neue Technik und Pinselführung in den PARISer Jahren: Im Pariser Spätwerk von 1934-1944 mutiert die Malerei zu neuen, oft biomorphen Form-Konstellationen mit bunter Farbgebung. Einmal resümierte KANDINSKY: „Zehn Blicke auf die Leinwand, einer auf die Palette, ein halber auf die Natur. So habe ich gelernt, mit der Leinwand zu kämpfen . . .“ . In der Münchner W.K.-Retrospektive fällt besonders in der Spätphase des Malers eine gewisse Sprunghaftigkeit ins Auge, ein fast schon „postmoderner“ rascher Wechsel zwischen den Stilen. So sieht man, wie in „Bleu de ciel“ („Himmelblau“ von 1940) Joan MIRÓs Surrealismus durch das Bild schwebt, den er kennengelernt hat. Ein neues Figürliches begründet W.K. nach Non-Figurativer-Malerei (abstrakt-absolut-konkret) radikal durch einen STIL-Wandel mit neuer Formen- & Farben-Sprache und Wiederkehr der PERSPEKTIVE: mit lesbaren biomorphen symmetrischen Element-Gefügen, dem Dualismus zweier Hälften und der Gegenüberstellung von Gegensätzen; „Synthese geteilter, widerstreitender Kräfte (so HOBERG).
Der „Vater der abstrakten & absoluten Malerei“ kehrt zum „Diesseits“ aus der Welt des Spirituellen (Makrokosmos) zurück: zum Sinnlich-Vertrauten - allerdings Urhaften - „halb mikroskopisch kleinen Tierchen, halb phantastsischen Ursprungs“ (so der Katalog). Wir sehen Sinnlich-Wahrnehmbares als Nicht-Immaterielles in biomorphen Kleinstformen (Mikroksmos): Amöben- & Embryonen-Strukturen, „Urtierchen“ & „Urpflanzen“ mit geometrisch-bunten, dekorativ verflochtenen Binnen-Strukturen - begleitet von Farbe-Sand-Beimischungen auf meist einfarbigen Gründen (milchig wie Wolken, himmelblau, rostrot, lindgrün). Auch größere anthropomorph wirkende skurrile Gestalten (Mischwesen mit „Körper“, „Hals“ und „Kopf“) grüßen den Betrachter oder agieren lebendig in „antithetischer Konfrontation“. HOBERG interpretiert Farben so: die Farbigkeit verweise auf einen „russischen oder fernöstlichen Charakter“ („Chinoiserien“).
W.K. reklamierte für diese Malerei der Pariser Jahre, die „häufig kritisch betrachtet und weniger gewürdigt wurde“ (Katalog, so K.V.) den Begriff „KONKRET“ anstelle von „abstrakt“ und „absolut“. Der Terminus „konkret“ galt damals als das Aufgeben der Abstraktion (siehe oben) zugunsten der nicht-gegenständlichen Kunst (Kreis, Quadrat, Dreieck, Flächen, Balken, Linien etc. als malerische Mittel). Da Formen der Natur im Spätwerk KANDINSKYs mit biomorph-organischen Strukturen geduldet wurden (Figürliches nicht mehr eliminiert wurde) scheint mir der Terminus „KONKRET“ hierfür indessen widersprüchlich. HOBERG meint, W.K. habe im Spätwerk nach einem „neuartigen Naturbegriff“ (S. 217) gesucht. Die „geometrische Form“ habe der Maler als nur eines unter vielen nicht-gegenständlichen Mitteln bezeichnet. Und er habe auch deren „emotionalen Gehalt“ hervorgehoben, wenn W.K. schrieb (1930): „Die Berührung des spitzen Winkels eines Dreiecks mit einem Kreis hat in der Tat nicht weniger Wirkung als die des Finger Gottes mit dem Finger Adams bei MICHELANGELO.“ (Aus „Essays über Kunst und Künstler“, S. 141.) Mutig seien die Künstler!: „Sie bauen eine neue Welt auf, die mit der NATUR so innerlich-tief verbunden ist, wie es die Menschheit schon seit Jahrtausenden nicht gesehen hat. Und so wird die Phantastik zur REALITÄT.“
Hervorzuheben ist, dass W.K.s Glaube an das Geistige in der Kunst nicht ausschloss, dass der in Deutschland zeitweise als „entartet“ verfemte Maler formulierte: „synthetisches schaffen und werk und das erkennen des schöpferischen prinzips in der natur und innere verwandtschaft derselben mit der kunst“. (In: „wert des theoretischen unterrichts“1926, S. 4,)
W.K. hat – wie die Bibliothek im Nachlass zeigt – auch biologische Literatur studiert, die ihn inspiriert haben muss: Z.B. den Band „Zellen und Gewebelehre. Morphologie und Entwicklungsgeschichte. II. Zoologischer Teil“. (1913; vgl. hierzu Anm. 103, HOBERG a.a.O. S. 224f.) W.K. ließ sich in seinem eigenen biomorphen Stil durch Formen anregen, die Hans ARP, Max ERNST, Paul KLEE und Joan MIRÓ in ihrem Werk verwendeten: „eine Art automatische Sprache, in welcher die unbegrenzten Bildmöglichkeiten des Surrealismus und der formalen Abstraktion mit denen der Naturwissenschaften verschmolzen. (Katalog (2), K.V.)
Der Autor Matthias HALDEMANN (Artikel „Theater des Bildes – Abstraktion der Abstraktion“) hat in seinem Katalog-Beitrag (S. 242 ff.) herausgestellt, dass für KANDINSKY galt: „Leinwand ist Nichts – die Welt vor der Schöpfung, vor Chaos. Ihre erste Belebung ist ein PUNKT – der Augenblick der ersten allerersten Berührung mit dem Stift (Kohle, Blei, Pinsel). Der Punkt ist der Keim der Verkörperung, Embryo der Schöpfung. Er birgt in sich unendliche Möglichkeiten. Die aus ihm werdende erste LINIE ist in spe in allen Richtungen möglich … Die Linie ist die erste Bestimmung der FLÄCHE, erste Entwicklung des Kosmos, des Embryo.“ (W.K.: „Kompositionselemente“, 1912/14.) Dieses geometrische Bild-Modell geht auf LEONARDO zurück – wo (wie bei Leon Battista ALBERTI) das Werkganze ein „dynamisches Kontinuum“ darstellt; so formuliert es HALDEMANN. Für W.K. sei hingegen GEOMETRIE „Bestandteil eines unobjektivierbaren, dynamischen Formbegriffs“. Destabilisiert werde hier das visuelle Wirkungsfeld, das sich jeder Fixierung entziehe: Transformation der Malerei als Raumkunst mit PERSPEKTIVE in eine „Zeitkunst“ ohne PERSPEKTIVE, wobei für W.K. zwischen gegenständlicher Welt und der Malerei keine mimetische Ähnlichkeit mehr besteht. (Von „Perspektive“-Verlust spricht der Autor nicht.) Hierbei wendet sich W.K. aber mit seiner schauspielernden Farben-Palette nicht von der sichtbaren Wirklichkeit ab: Es „abstrahiert sich die wiedererkennbare Welt auf der Sehfläche vielmehr selbst zu einem autonomen Farb-Form-Bild“: ohne Formklarheit, als „Frageplatz“ für den ‚desillusionierten’ Blick des Betrachters („paradox“: materiell – immateriell, real – irreal). (Ebenda S. 252f.).
Ganz anders sah dies LEONARDO, als er geraten hat, sich zur Schulung der Phantasie auf einem fleckigen Mauerwerk alle möglichen Motive eines Noch-nicht-Gedachten vorzustellen, was Victor HUGO später in seiner Kunst des gestaltlosen Farbflecks malerisch ab 1849 umgesetzt hat (vgl. mehr hierzu im Katalog S. 248f.). Punkt-Topos, Linienar-Arabeske und die Kunst des Farbflecks seien in W.K.s „kompositioneller Malerei“ vermittelt und schaffen „ein sichtbar-imaginiertes, universell-metamorphisches Kontinuum, betont HALDEMANN. EVOLUTIONÄR im Sinne der Darwinschen Evolutionstheorie sind KANDINSKYs autonomen Lineamente, Flecke und übrigen Konfigurationen der Bauhaus- und Paris-Phase (abstrakt/absolut/konkret/biomorph-figurativ) aber NICHT zu interpretieren. Sie bleiben ein innovatives „formgewordenes Metamorphoseprinzip, Arabesken im neuen Sinn“ des kreativen erfolgreichen Künstler-Philosophen (HALDEMANN S. 249). Wenn auch W.K. scheinbar „evolutionär“ denkend formuliert hat: „Die autonom gewordene abstrakte Kunst unterliegt auch hier dem Naturgesetz und ist gezwungen ebenso vorzugehen, wie ehemals die Natur, die mit Protoplasma und Zellen bescheiden anfing, um ganz allmählich zu immer komplizierteren Organismen fortzuschreiten.“ (W.K.: „Punkt und Linie zu Fläche“. 1926 (1973), Anm. 1, S. 120.)
Der Beliebigkeit & Bedeutungslosigkeit („Leere“) zeitgenössischer Kunst-Markt-Kunst heute kunsttheoretisch und künstlerisch-praktisch Paroli zu bieten, ist über den Terminus „EVOLUTION“ indessen möglich. Innovativen Widerstand gegenüber dem Mythos Abstraktion zeigte KANDINSKY schon im (seither oft nicht verstandenen) Spätwerk in den amöbenhaft-organischen biomorphen Elementen z. B. der Bilder Monde bleu (Blaue Welt) & Rayé (Gestreift) von 1934, Succession (Aufeinanderfolge) 1935, Composition IX (Komposition IX) 1936, Formes capricieuses (Launische Formen) 1937, Parties diverses (Verschiedene Teile) & Bleu de Ciel (Himmelblau) von 1940 sowie Autour du cercle (Um den Kreis) 1940, Balancement (Balance) 1942. Werner HOFMANN hat schon 1953 in einem Beitrag zur „Morphologischen Kunsttheorie“ W.K. als Erforscher des Wachstumsrhythmus’ des Lebendigen (innerer „Notwendigkeit“) vorgestellt. Die theosophischen „Irrwege“ W.K.s bei der Suche nach einem neuen „modernen“ eigengesetzlichen Natur- und Formbegriff sind historisch nachvollziehbar. Der Künstler-Theoretiker glaubte, dass Malerei „sich als wirklich reine Kunst in den Dienst des Göttlichen stellt". Das Copyright für Abstraktion als Kultur-Leistung lag aber bei Künstlern des 19. JHs: „TURNER, HUGO und MOREAU“. (Vgl. Schirn-Ausstellung hierzu; die Macher der Münchner Retrospektive-Ausstellung erwähnen diese Frankfurter Schau leider nicht). Das Copyright für die Erfindung evolutionärer Formwelten, in denen klassische Kategorien wie „Natur“ und „Kultur“ („Kunst“) überbrückt werden (z. B. in ars evolutoria als Erkenntniskunst, die Perspektiv- und Harmoniegesetze reanimiert) ist im Darwinjahr 2009 zu feiern.
Für den Kultur- bzw. Feuilletonteil der Medien besuchten viele Autoren die DARWIN-Schau in der Frankfurter SCHIRN Kunsthalle. Frankfurts Schirn ergründet DARWINs Einfluss auf die Kunst. Das Thema EVOLUTION, das W. KANDINSKY gemieden hat, ist auch für die bildende Kunst nun nicht mehr zu verdrängen, nicht im Darwin-Jahr 2009. Was die C.R.DARWIN-Ausstellung in der Frankfurter Schirn heute leistet, in der die Kuratorin Pamela KORT unterschiedlichste bildnerische Reaktionen auf die Darwinsche Evolutions-Theorie versammelt (Werke/Positionen 1859-1959 – daher ohne ars evolutoria!), beschreibt z.B. ein FAZ-Artikel von C. RIECHELMANN: „Darwinismus müssen wir ab jetzt auch als eine kunsthistorische Epoche betrachten“. Hier wurde nicht (!) „nach einer Synthese gesucht, die den Streit um Darwin und die Evolutionstheorie löst“ – „die Bilder bleiben im Streit“. (…) „Ideologien, zu dem Stoff, aus dem unsere Mythen sind. Wir sehen die Wiedergänger unserer Populärkultur“.
Es sei „die herausragende Leistung der Ausstellung, dass sie die changierenden Meinungen zu Darwin“ (darwinistische und antidarwinistische) auch „ästhetisch sichtbar“ mache. (3) Die DARWIN-Ausstellung reflektiere erstmals umfassend die Auswirkungen der Popularisierung der Ideen Charles Robert DARWINs (1809-1882) auf die Kunst, erklärte Pamela KORT. Die Künstler hätten traditionelle Motive wie die Darstellung des Menschen und seine Herkunft neu definiert. Die Motivwahl bekannter Maler könne unter Berücksichtigung des Darwinismus besser verstanden werden. Die Schau zeigt knapp 150 Gemälde, Zeichnungen und Lithographien von 1859 bis 1959.
Ein Rätsel für mich ist es, dass der als „deutscher Darwin“ bezeichnet Künstler-Forscher – der in der SCHIRN gewürdigte Zeichner & bedeutende Evolutionsforscher Ernst HAECKEL (zwei Ausstellungswände und eine Vitrine werden ihm gewidmet) - in W.K.s theoretischem Werk nicht reflektiert wird: Sollen doch E.H.s „ornamental“ wirkende zoologischen Zeichnungen, die „Kunstformen der Natur“, den Jugendstil und den Symbolismus beeinflusst haben. Die akribischen Naturzeichnungen des Naturwissenschaftlers HAECKEL mit den vielen (auch symbolisch zu sehenden) Symmetrien beweisen ohne Frage das große zeichnerische Talent des Verfechters der Darwin’schen Theorie.
Erstmals macht eine KUNST-Ausstellung die Bedeutung des Zoologen HAECKEL (1834-1919) als KÜNSTLER deutlich. (4) Der Naturforscher trug auch auf diese Weise zur weltweiten Verbreitung von Darwins Theorien bei. Seine Zeichnungen und Illustrationen dienten Künstlern als Vorlage und Inspirationsquelle. Die DARWIN-Schau kontrastiert unterschiedliche Interpretationen von Künstlern. Alfred KUBIN (1877-1959) offenbarte in unheimlichen Mischwesen eine bedrohliche Sicht der EVOLUTION. Im Sumpf tut sich Unheimliches: Gefährliche, fischäugige Geschöpfe bewegen sich in brackiger Brühe. So die düsteren, Bild gewordenen Visionen des österreichischen Malers, die heute als eine Reaktion auf die Thesen von Charles Darwin interpretiert werden. Merkwürdig: KANDINSKY hat mit KUBIN ausgestellt: mit der Ausstellungs-Vereinigung „Phalanx“ in München bis 1904 und in der NKVM (siehe oben) 1909. KUBIN war Mitglied der Neuen Künstlervereinigung. 1912 stellte KUBIN mit W.K. auch in der zweiten Ausstellung des Blauen Reiters aus und 1913 sollte sich KUBIN an der Bibel-Ausgabe des Blauen Reiters beteiligen. Der Künstlerkollege Alfred KUBIN habe die „revolutionäre Bedeutung von Kandinskys Kunst erkannt und mit eindrucksvollen Worten beschrieben“ lesen wir im Katalog (HOBERG, S. 199). Der Evolutions-Begriff muss W.K. zumindest bekannt gewesen sein, wenn er auch wohl W.K.s Glauben an das (lebendige) „Geistige“ im Wege gestanden hat!
Ob KANDINSKYs Bibliothek Ernst HAECKELs „Kunstformen der Natur" beherbergt hat, wäre interessant zu wissen: E.H. hat ja wie W.K. eine Synthese zwischen den Künsten und den (Natur-)Wissenschaften angestrebt. E.H. hat keine Affen-Bildnisse für seine „Kunstformen“ gemalt (vgl. indessen die vielen proto-surrealistschen Primaten-Gemälde des Tiermalers Gabriel von MAX in der Schau); auch keine Szenen wie „Nereiden und Tritonen“ beim „Kampf ums Dasein“ (BÖCKLIN) oder Steinzeit-Bilder mit vollbrüstigen Höhlen-Frauen (FAIVRE). Auch keine bedrohliche skurril-unheimlichen Mischwesen, wie sie z.B. KUBIN schuf. (Vgl. (4).) FRAGE: Haben die nicht-bilateral-symmetrisch geformten figurativen biomorph-organischen Form-Konstellationen im Spätwerk W.K.s irgendwie mit HAECKELs Werk zu tun? Glaubte W.K. als Künstler-Philosoph an EVOLUTION? War für W.K. all seine Malerei doch nur „reine Kunst“ ohne Natur-Bezug („Phantastik“ konkret – siehe oben)? Die organischen biomorphen Spätwerk-Formen hat HALDEMANN „als unentzifferbar hieroglyphische geheimnisvolle Bilderschrift“ interpretiert (TAFEL-Bild 82; a.a.O. S. 245). Fragen über Fragen an die Forschung.
Am 19.11.2008 kommentierte ich unter dem Titel „Spuren des Geistigen im Münchner Haus der Kunst“ einen Bericht: Zu einer in der Süddeutschen Zeitung vom 19.09. besprochenen Ausstellung schrieb Johan SCHLOEMANN („Geigerzähler des Absoluten“), die Schau wolle „von Nietzsches Gottestod bis heute dem Numinosen und Transzendenten in der modernen Kunst nachspüren“. Der Bezug von Kult und Religion, „überhaupt der nicht-rationellen, antimaterialistischen Entgrenzung im Sinne von Wassily KANDINSKYs wirrer, aber wirkungsreicher Schrift ‚Über das Geistige in der Kunst" (1912)’“ werde diskutiert. Es sei ja kein esoterisches Geheimnis mehr, dass „diverse Helden der Moderne vom Bauhaus bis MONDRIAN sich esoterischen Geheimnissen hingaben oder sonstigen Erleuchtungen und Erhöhungen“.
Avantgarde und Mystizismus waren in der Tat verschwistert. Kasimir MALEWITSCH, dessen Schwarzes Quadrat im ersten Raum der Schau das Absolute verkündet, meinte, „befreit vom Schmutz" könne die Kunst sich „Gott als dem zeitlosen Prinzip nähern". Über diese schwärmerische Seite der Moderne konnte man in letzten Jahren bei Beat WYSS, Klaus von BEYME und anderen einiges lesen, so der Autor. Folgende Web-Ergebnisse lassen sich zum Thema Evolution der „Kunsthelden“ finden, kommentierte ich: Essays mit dem Titel: „Kandinsky – Malewitsch – Richter: Abstraktion & Evolution 2008/2009“ (1) sowie „Rückkehr zur Renaissance: Kandinsky und Malwitschs Kunst-Evolution (Mutationen). STIL-Fragen“ (5). Die leicht zu googelnden ZEIT Online Artikel könnten dazu führen, dass zum Darwinjahr 2009 (vgl. SCHIRN: „DARWIN, Kunst und die Suche nach den Ursprüngen“, 02. - 05. 09) neue innovative Anregungen diskutiert werden. In diesem Zusammenhang könnten kunstinteressierte User auch Interesse haben an den Essays „Kultur der Evolution: Anmerkungen zur Jahrestagung 2008 des ZfL Berlin“ sowie „Mathematik, Mandelbrot-Menge, Chaologie, „Weltformel“ und EVOLUTION“ a.a.O., da es hier auch um KUNST-Fragen geht.
Dass KANDINSKYs esoterisch-„lyrisches“ Farb- und Formgetöse auch heute noch „Strahlkraft“ evoziert und viele mit tiefster „Heiligenverehrung“ zu W.K. aufsehen (z.B. Batik- & Aquarell-Schüler), ist gut zu verstehen. Die theosophischen „Irrwege“ Kandinskys bei der Suche nach einem neuen „modernen“ eigengesetzlichen Natur- und Formbegriff sind historisch nachvollziehbar. Immer wieder experimentierte W.K. in den Pariser Jahren im Spätwerk mit biomorphen Formen. Hatte er dabei das Thema „Evolution“ im Blickfeld? - das ist die große unbeantwortete Frage (siehe oben). Der Künstler-Theoretiker vertrat indessen in seiner Schrift „Über das Geistige in der Kunst" von 1910 die Ansicht, dass Malerei „sich als wirklich reine Kunst in den Dienst des Göttlichen stellt". Ich wiederhole: Das Copyright für Abstraktion als Kulturleistung lag bei Künstlern des 19. JHs: „Turner, Hugo und Moreau“ (Schirn). Das Copyright für die Erfindung antiplatonischer „hermaphroditisch“-evolutionärer Formwelten, in denen klassische Kategorien wie „Natur“ und „Kultur“ (Kunst) überbrückt werden (z. B. in ars evolutoria als Erkenntniskunst, die Perspektiv- und Harmoniegesetze reanimiert) wird im Darwinjahr 2009 gefeiert. Das Verhältnis der „Kunst“-Menschen zu Religion & Evolution hat sich verändert. „Reine Kunst“ kann sich heute in den Dienst der EVOLUTION stellen. (Vgl. auch (5) hierzu.)
LITERATUR
(1) HAHN, Werner (2008): Kandinsky – Malewitsch – Richter: Abstraktion & Evolution 2008/2009. In: ZEIT Online v. 13.11.2008.
(2) FRIEDEL, Helmut (Hrsg. 2008): KANDINSKY ABSOLUT ABSTRAKT. München 2008. (Ausstellungs-Katalog bearbeitet von Annegret HOBERG.)
(3) RIECHELMANN, Cord (2009): Ausstellung: Darwin und die Kunst. Darwinismus ist eine Kunstepoche. In Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ.Net) v. 05.02.2009.
(4) HAHN, Werner (2009): VERGESSEN im DARWIN-Jahr?: Ernst HAECKELs 175. Geburtstag & J.-B. LAMARCK - erster Begründer der EVOLUTIONSTHEORIE. In: ZEIT Online v. 16.02.2009.
(5) HAHN, Werner (2008): Rückkehr zur Renaissance: Kandinsky und Malwitschs Kunst-Evolution (Mutationen). STIL-Fragen. In: ZEIT Online v. 15.11.2008.
(6) MAAK, Niklas (2008): Wassily Kandinsky- Verlassen von allen Geistern der Moderne. FAZ.Net v. 01.11.2008. (Mit Bildergalerie.)
Bürgerreporter:in:W. H. aus Gladenbach |
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