Mahngang zum Gedenken an die Opfer der Novemberpogrome 1938
Rund 150 Menschen, darunter viele junge Leute, beteiligten sich in diesem Jahr an dem seit 1978 alljährlich in Gießen am Abend des 09. November durchgeführten Mahngangs zum Gedenken an die Opfer der Novemberpogrome 1938. Dieser führte vom Mahnmal für die Opfer des Faschismus vor dem Rathaus am Berliner Platz über die Neuen Bäue zum DGB-Haus, von dort über den Asterweg zum Standort der 1938 zerstörten Synagoge in den Steinstraße und dann weiter über die Westanlage vorbei an der Goetheschule zurück zum Berliner Platz. Dabei wurden an verschieden Orten kurze Redebeiträge gehalten.
Zu Beginn der Aktion am Berliner Platz verlas Henning Mächerle vom Bündnis gegen Rechts Gießen (BgR) den diesjährigen Aufruf zum Mahngang, in dem an die Ereignisse im November 1938 im Deutschen Reich und speziell in Gießen erinnert wurde. So wurden in ganz Deutschland „vom 07. bis 13. November ca. 400 Menschen ermordet oder in den Selbstmord getrieben und nahezu alle Synagogen sowie über 7.500 jüdische Geschäfte zerstört.“ (aus dem Aufruf) Auch in Gießen wurden am 10. November Geschäfte, Häuser und Wohnungen von deutschen Jüdinnen und Juden geplündert und beide Synagogen (die in der Steinstraße direkt gegenüber der Feuerwehr und die am heutigen Standort der Kongresshalle) niedergebrannt. „Dabei sah die Bevölkerung weg, klatschte Beifall oder machte selbst mit.“ (aus dem Aufruf) Dieses dreitägige Pogrom war ein wichtiger Schritt zur weiteren Festigung der Macht der Faschisten und auf dem Weg zum späteren Massenmord an den Juden.
Vor dem Restaurant Burghof in der Neuen Bäue, dem früheren Bankhaus Herz und Sitz der Gestapo in Gießen, folgte dann der nächste Redebeitrag. Hier sprach ein Vertreter des Motorradclub Kuhle Wampe. Er erinnerte an die Deportation in die Konzentrationslager und der Auswanderung (Flucht) von Juden sowie anderer Verfolgter und schilderte einzelne Schicksale näher. Auf die Frage, warum man heute hier stehe, erinnere und mahne antwortete er mit dem bekannten und mehr als zutreffenden Zitat des Theologen Martin Niemöller:
“Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist.
Als sie die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Sozialdemokrat.
Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Gewerkschafter.
Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.“
Dieser Mahngang so der Redner weiter, sei neben dem Erinnern und Gedenken auch eine Demonstration für Frieden und Menschlichkeit. Man dürfte die Neofaschisten und andere rechtsextreme und rechtspopulistische Kräfte, die es heute wieder oder immer noch in Deutschland gebe, nicht unterschätzen, so seine abschließende Forderung.
In der Walltorstraße vor dem DGB-Haus erinnerte eine Rednerin an die 1942 bestehenden „Judenhäuser“ für die noch verblieben Gießener Juden, welche sich einige Meter weiter in der Walltorstraße 42 und 48 und in der Landgrafenstraße 8 befanden. (Quelle: http://www.alemannia-judaica.de/giessen_synagoge.h...) Unverständnis zeigte sie über die Tatsache, dass wenige Meter von diesem Standort entfernt am Landraf-Philipp-Platz noch immer eine Kriegerdenkmal stehe, während jedoch an die Gettoisierung der Juden keinerlei Hinweise vor Ort zu finden seien. In einem kurzen geschichtlichen Abriss ging sie auf die Geschichte des Antisemitismus und die Rechte der Juden seit Beginn des 19. Jahrhundert ein. So habe der Judenhass in Deutschland eine lange „Tradition“ und sei auch während der Weimarer Republik durchaus weit verbreitetet gewesen, was die hohe Auflage des Buches „Die Weisen des Zions“, das schon damals als Fälschung entlarvt worden war, belege.
Die Ereignisse am 10. November 1938 in Gießen schilderte eine Vertreterin der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend (SDAJ) Gießen-Marburg, am früheren Standort der orthodoxen Synagoge in der Steinstraße direkt gegenüber der Feuerwehr, welche von den Nazis niedergebrannt wurde. Schon damals hatte die Feuerwehr ihren Standort an dieser Stelle; sie war jedoch von höchster Stelle dazu angewiesen worden, den Brand nicht zu löschen und nur dafür zu sorgen, dass er nicht auf andere Gebäude übergriff. Per Verordnung wurden die Juden im Deutschen Reich gezwungen, für die entstanden Schäden auch noch selbst aufzukommen. Auch in Gießen, so die Erinnerung der Zeitzeugin und Gießener Antifaschistin Ria Deeg (1907-2000), mussten die Juden die Straßen aufräumen und von den Glassplittern der zerstörten jüdischen Geschäfte sowie den aus den Wohnungen geworfenen Möbeln säubern, Dies tat nicht die Stadt.
In ihrem Redebeitrag ging die Vertreterin der SDAJ jedoch nicht nur auf die Ereignisse des Jahres 1938 ein, sondern verwies auch an die aktuellen Vorfälle und Umtriebe von Neonazis im Lumdatal. Auch wenn rechte Parteien hierzulande nicht so stark seien wie in anderen Ländern Europas, wachse mit der aktuellen Krise doch die Zustimmung der Bevölkerung zu rechtsextremen Gedankengut und antisemitischen Einstellungen. Um dem Ansehen Deutschland nicht zu schaden, wendeten sich die Regierenden in ihren Reden gegen Rechts und sehe die deutsche Wirtschaft (das Kapital) noch keine zwingende Notwendigkeit für eine neue Nazi-Herrschaft. Dies aber könne sich durchaus ändern, so ihre eindringliche Warnung. Sie schloss daher mit dem Zitat des Sozialphilosophen Max Horkheimer, der einmal äußerte: “Wer nicht vom Kapitalismus reden wolle, solle vom Faschismus schweigen.“
Stefan Walther vom Linken Bündnis Gießen (LiBü) übernahm den Redebeitrag an der nächsten Station des Mahnganges vor der Goetheschule in der Westanlage. Er ging zunächst auf die Geschichte dieses Ortes ein. So wurden am 14. September 1942 die noch in der Stadt lebenden jüdischen Personen (141 Personen) sowie Juden aus der Umgebung (neun aus Wieseck, 180 aus weiteren Orten) in einem Massenquartier in der Goetheschule eingesperrt. Am 16. September 1942 erfolgte über den Güterbahnhof die Deportation in die Vernichtungslager des Ostens. Die Schüler bekamen einige Tage Schulfrei und die Stromrechnung wurde anschließend den Stadtwerken in Rechnung gestellt. Nur fünf der damals deportierten Personen haben überlebt. Vor Beginn des NS-Regimes hatten in Gießen über 1.200 Juden gelebt. (Quelle: http://www.alemannia-judaica.de/giessen_synagoge.h...) Da zahlreiche NS-Gegner im November 1938 bereits inhaftiert und die Macht der Faschisten durchaus schon stark gefestigt war, waren Widerstand und offene Ablehnung der Pogrome nur schwer möglich und gab es somit auch folglich wenig Kritik an den Aktionen, so die Einschätzung von Stefan Walther. Die Losung heute müsse daher lauten „Keinen Fußbereit den Faschisten!“, wobei der Kampf gegen alte und neue Nazis, gegen Rechts nur gemeinsam und über alle weltanschaulichen Differenzen hinweg erfolgreich geführt werden kann.
Aus diesem Grund ist es eigentlich unverständlich, dass die Stadt Gießen zusammen mit den christlichen Kirchen und der jüdischen Gemeinde seit einigen Jahren eine eigene Gedenkveranstaltung zur Erinnerung an die Novemberpogrome organisert. In den 1980er und 1990ern hatte sich die Stadt mit an dem Mahngang des Bündnisses gegen Rechts beteiligt und hatte der frühere Gießener Bürgermeister Lothar Schüler (SPD) jedes Jahr eine Rede für den Magistrat gehalten.
Den Abschluss bildete wie immer eine Kranzniederlegung und einer Schweigeminute vor dem Gedenkstein am Standort der liberalen Synagoge vor der heutigen Kongresshalle, welche ebenfalls 1938 niedergebrannt wurde. Umrahmt wurde die Kranzniederlegung von dem aus Sliven (Bulgarien) stammenden und in Mittelhessen lebenden Geiger Georgi Kalaidjiev.