Überfall der Heuschrecken
Gießen im "anarchistischen" Ausnahmezustand

Einkaufsmeile Seltersweg
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Unter dem Motto »ZeitenWende« feierten die Gießener*innen an einem Wochenende im Juli 2000 die kalendarische Jahresmitte - quasi als Kompromiss zur damals viel diskutierten Frage: Hat das neue Jahrtausend wirklich am 1. Januar angefangen oder beginnt es erst 2001.

Was als Kunstaktion startete, endete als "anarchistischer Streich", wie der SPIEGEL damals schrieb, der landesweit für Aufsehen sorgte. Im folgenden ein Auszug aus SPIEGEL Nr. 28/2000:

"Und da der Name Konzept war, stellten sich um Mitternacht einfach alle vor, es wäre zwölf Uhr mittags: So wurden in der Nacht die Läden geöffnet und der Wochenmarkt aufgebaut. Die Behörden verlängerten Personalausweise, Busse fuhren im tagesüblichen Takt, im Schwimmbad wurde geplanscht, an der Uni wurden Vorlesungen gehalten, Pärchen auf dem Standesamt getraut.
Alles wie immer, nur mit einem Hauch Mondschein-Romantik. Und als Beigabe: überall ein bisschen Kunst.

Richtig nett wär's gewesen, wenn nicht die Meute wie eine Heuschreckenplage über den Stadtkern hergefallen wäre. Über 200 000 Menschen quetschten sich durch die Fußgängerzone - Ausnahmezustand in Gießen. »Wir mussten unsere Türen eine halbe Stunde früher öffnen, sonst wären die Leute im Gedränge massenweise kollabiert«, sagt Karstadt-Geschäftsführer Wilfried Behrens.
Der anschließende Run auf die Regale übertraf jeden bisherigen Schlussverkauf. »Unsere Verkäufer sprangen zur Seite, sonst wären sie überrannt worden«, klagt Behrens, »Rolltreppen und Fahrstühle wurden aus Sicherheitsgründen abgestellt.« Vor lauter Glück vergaßen einige Nachtschwärmer glatt das Kaufen. Im Gegenteil: Sie ließen ihre alten Klamotten dort, nahmen dafür aber neue mit. Behrens: »Selbst wenn direkt vor den Augen unserer Detektive geklaut wurde, kamen sie meist gar nicht an die Leute ran. Sie konnten ihnen höchstens eine Warnung zurufen.«

Mit ins Getümmel stürzte sich auch der hessische CDU-Innenminister Volker Bouffier, 48. Da er zwar in Wiesbaden regiert, aber in Gießen lebt, wollte auch er das Wunder der nächtlichen Stadtbesetzung hautnah erleben. Doch im direkten Körperkontakt mit seinen Untertanen wurde selbst dem Politiker etwas mulmig. »Ich dachte nur immer: Mensch, wenn hier mal keine Panik ausbricht.«"

"...Dass Politik, Wirtschaft und Kunst vergleichsweise gut zusammenarbeiteten, ist das eigentliche Kunststück. »Nur die Gewerkschaft ging auf die Barrikaden«, sagt Behnecke. Die Interessenvertreter von Handel, Banken und Versicherungen (HBV) protestierten gegen die ungewöhnlichen Dienstzeiten. Mit Erfolg: Die Kaufhaus-Angestellten kassierten eine kräftige Gehaltszulage."

  "...Werden die Kaufhäuser von nun an regelmäßig nachts öffnen? Innenminister Bouffier jedenfalls ist »für eine generelle Aufhebung der Ladenschlusszeiten«.
»Nachtarbeit in der Verkaufsbranche kommt für Gießener Bürger nicht in Frage«, kontert dagegen Oberbürgermeister Mutz. »Rechtlich war das Projekt ein früher Sonntagsverkauf, wie er viermal im Jahr erlaubt ist. Diese Aktion ist und bleibt einmalig.«"

"...Doch das Gießener Modell zieht Kreise: So erwägen nach HBV-Informationen auch Kassel und Frankfurt am Main für ihre nächsten Museumsfeste erstmals eine nächtliche Ladenöffnung. Denn was in der Provinz funktioniert, kann in den Großstädten wohl schlecht floppen, oder?"
INA FREIWALD

Bürgerreporter:in:

Bea S. aus Gießen

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