Brauchen wir ein Tempolimit?
Gefühle im Rausch der Geschwindigkeit
"Die Frau am Schalter der Mietwagenfirma sagte, sie habe einen M4 für mich. Ich nickte. Ich hatte keine Ahnung. Bis auf dem digitalen Tacho die Zahl 200 aufleuchtete, und ich ein Triumphgefühl empfand: Dr. Seltsam, auf der Rakete reitend."
Ein Erlebnisbericht über schnelles Fahren von Hauke Goos.
„Bis vor Kurzem war meine Haltung zum Tempolimit erfreulich eindeutig: Wir fahren privat einen VW-Bus, wegen der Kinder, wir fahren meistens nicht schneller als 120 Stundenkilometer, weil man sonst sein eigenes Wort nicht versteht; ein Tempolimit schien mir daher ebenso vernünftig wie bedeutungslos.
Dann brauchte ich eines Tages sehr kurzfristig einen Mietwagen. Ich hatte einen Termin in Rotterdam, der Flug nach Amsterdam fiel aus, ich stand also vor dem Sixt-Schalter am Flughafen und überschlug, wie viel Zeit mich eine Autofahrt von Hamburg nach Rotterdam kosten würde.
Sie habe einen M4 für mich, sagte die Frau am Schalter. Ich nickte. Was ein M4 war, wusste ich nicht, ich erinnerte mich aber an den R4 aus meiner Kindheit, einen schmalen, unfassbar hässlichen Kastenwagen von Renault – ich sagte, ich würde schon irgendwie ans Ziel kommen. Als ich im Parkhaus die Funkfernbedienung betätigte, leuchteten die Blinker eines schwarzen BMW: auffallend breite Reifen, Sportsitze, vier Auspuffrohre. Eine Bestie. Der M4, ich habe das später gegoogelt, wird von BMW als „Hochleistungssportler“ und „Pulsbeschleuniger“ beworben. 450 PS, von 0 auf 100 in unerhörten 4,0 Sekunden. Ich schickte ein paar Fotos per WhatsApp an die Familie: den Tacho (bis 330), eine Seitenansicht, die schlitzförmigen Scheinwerfer. „Was soll das für ein Auto sein?“ schrieb meine Frau zurück. „Soundcheck, bitte“, schrieb mein 17-jähriger Sohn Ich hielt mein Handy aus der offenen Tür und ließ den Motor röhren.(...)
Ich lenkte den M4 in Richtung Autobahn. Das Beschleunigen nach einer Ampel machte Spaß, das Bremsen vor der nächsten Ampel frustrierte mich. War es notwendig, dass Fußgänger die Straßenseite wechselten? 450 PS durch den Stadtverkehr zu lenken hat ja etwas herrlich Absurdes. Auf der A1 Richtung Bremen, kaum war das Tempolimit aufgehoben, zog ich nach links und gab Gas. 150, 170, 190 – das ging praktisch wie von allein. Als auf dem digitalen Tacho die Zahl 200 aufleuchtete, empfand ich ein leichtes Triumphgefühl: Dr. Seltsam, auf der Rakete reitend.(...)
Hinter Bremen wurde der Verkehr zunächst zähflüssig. Ich blieb links. Missmutig blickte ich auf die Kleinwagen vor mir, denen die rechte Spur, warum auch immer, nicht genug war. Ich pendelte mit dem Wagen ein wenig hin und her, um den Hinterleuten zu signalisieren, dass es nicht an mir lag, dass wir nicht vorankamen.
Dann, endlich war die Bahn frei: gerade Strecke, flaches, herrlich weites Niedersachsen. Zu Testzwecken trieb ich den Wagen auf 220. Es fühlte sich richtig an. 240? Kam mir nicht so flott vor, wie ich erwartet hatte. Der M4 unter mir war wie ein Pitbull, der an der Leine zerrte.
Ein Porsche überholte mich. Ich setzte mich dahinter. Wir waren auf einmal eine Kampfgemeinschaft, so sah ich das, Glorious Basterds. Gemeinsam räumten wir die Bahn frei. Aus irgendeinem Grund war es mir wichtig, den Fahrer vor mir wissen zu lassen, dass es nicht an mir lag, wenn wir nicht noch zügiger vorankamen. 250 also. Draußen wischte Niedersachsen vorbei.
Hirnforscher haben herausgefunden, dass bei hohen Geschwindigkeiten der Adrenalinspiegel steigt. Botenstoffe wie Dopamin werden ausgeschüttet, das Gehirn arbeitet im Rausch.
Natürlich verengt das Tempo die Wahrnehmung, der Blick geht vor allem nach vorn. Autos auf der linken Spur werden plötzlich zu potenziellen Hindernissen. Auch Autos auf der rechten Spur bedeuten: Gefahr. Was, wenn einer plötzlich auf die Idee kam, nach links zu ziehen? Ich merkte, wie ich auf die anderen Fahrer eine Art Zorn entwickelte. Ich war wütend, dass sie so langsam unterwegs waren, in lächerlich langsamen Autos; ich war wütend, dass sie überhaupt unterwegs waren. Warum fuhren sie nicht mit der Bahn?
Bei hohen Geschwindigkeiten, auch das wissen die Gehirnforscher, entsteht im Hirn ein Mix aus Lust und Angst. Das Tempo gibt den Kick. Die Frustration, von Langsameren blockiert zu werden, führt zu Ärger, der Ärger macht aggressiv. Ich schob den M4 auf 260. Noch nie in meinem Leben war ich so schnell gefahren. Ich war ein Schaf im Wolfspelz; wer vor mir mit 180 überholte, war mein Feind. Das Triumphgefühl hielt über ungefähr 15 Kilometer, dann hatte ich das Gefühl, dass Konzentration anstrengend ist und Anstrengung, über viele Kilometer, müde macht. Und unleidlich. Ich hatte mich in jemanden verwandelt, den ich im Rückspiegel unseres VW-Busses nur ungern sehen würde. Ich ließ den Wagen ausrollen, bis hinunter auf 160. Dort blieb ich. Der Porsche verschwand am Horizont.
Was ich an jenem Tag auf der A1 lernte: Es gibt, neben dem umwelt- und dem verkehrspolitischen, auch ein moralisches Tempogebot. Tempo 130, meinetwegen auch Tempo 150, gestattet eine Art Konversation. Autofahrer, die im ständigen Austausch miteinander sind. Man lässt andere rein, nimmt Rücksicht, achtet aufeinander. Antizipiert Fehler, verzeiht Fehler, macht selbst Fehler, ohne dafür gleich von der Bahn geschossen zu werden.
Wer 200 fährt, verlässt diese Gemeinschaft. Tempo 200 ist nicht Konversationston, sondern ein leicht manischer Monolog. Wer 250 fährt, der schreit.“
Zitiert aus: Hauke Goos: "Wie ich lernte das Tempolimit zu lieben". DER SPIEGEL 07/2019
Bürgerreporter:in:Bea S. aus Gießen |
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