Vom „Wut-Winter“ zum „Mut-Winter“
Unsere Sprache ist wirkmächtig. Sie schafft Realitäten, kann diese stabilisieren, verfestigen oder verändern. Wie wir mit Sprache umgehen, wie wir miteinander und übereinander sprechen oder wie wir unsere Welt beschreiben, ist daher von Bedeutung. Was als Wort, als Zuschreibung, Urteil oder Beschreibung eines Umstands ausgesprochen ist, setzt etwas in Gang, gibt eine Richtung vor, ermöglicht oder erschwert Kommunikation. Mir fällt dazu eine Stelle aus dem Buch Jesaja ein, in der ähnliches über das Wort Gottes gesagt wird: „So ist es auch mit dem Wort, das meinen Mund verlässt: Es kehrt nicht leer zu mir zurück, ohne zu bewirken, was ich will, und das zu erreichen, wozu ich es ausgesandt habe.“ (Jes 55,11) Können wir das von unseren Worten auch sagen, dass sie immer so durchdacht und reflektiert sind, dass sie bewirken, was wir wollen und erreichen, wozu wir sie ausgesprochen haben? Das geht bei ganz unscheinbaren Dingen los, z.B. wenn jemand über sich selbst sagt: „Ich bin zu dumm für dieses und jenes.“ Mit der Zeit glaubt man das selbst, auch wenn das gar nicht der Fall ist. Manchmal wird es aber auch gefährlich, wenn etwa Worte ausgesprochen werden, die das Zeug zum sozialen Sprengstoff haben. Aktuell wäre da vielleicht der zynische Begriff „Sozialtourismus“ im Blick auf Flüchtende zu nennen. Da betritt ein Gedanke die Welt, der gewisse Bilder weckt und zu einem unreflektierten Urteil einer komplexen Wirklichkeit führt.
Weshalb ich das schreibe? Mir persönlich stößt derzeit die Voraussage eines „Wut-Winters“, vor dem manche Politiker warnen, bitter auf. Denn ich frage mich, weshalb herausfordernde Sachverhalte, die es in unserer krisengebeutelten Zeit zuhauf gibt, stets in schlimmsten Farben gemalt werden müssen? Redet man damit nicht die Wut herbei und provoziert, dass sich die Prophezeiung tatsächlich erfüllt? Die Wut ist vielerorts bereits da und bricht sich mitunter darin Bahn, dass Menschen deutlich ruppiger miteinander umgehen als dies noch vor einigen Monaten war.
Ich bin weit davon entfernt, die vielen Herausforderungen und die damit verbundenen Ängste klein zu reden oder in unrealistisch bunten Farben auszumalen. Jedoch frage ich mich, ob es nicht besser wäre, diesen Dingen nicht nur mit Worst-Case-Szenarien zu begegnen, welche die Menschen noch weiter verunsichern, sondern vielmehr danach zu fragen, welche Ermutigungen Menschen genau dann benötigen, wenn so Vieles in Frage steht. Ich würde mir wünschen, dass auch davon gesprochen wird, wie wir den orakelten „Wut-Winter“ als „Mut-Winter“ angehen können. Denn es gibt ja nicht nur den Blickwinkel, der sich an den Problemen festbeißen kann und mitunter dafür sorgt, dass wir wie das Reh vor dem Scheinwerfer in Schockstarre verfallen – oder eben in Ventilhandlungen gewalttätiger Art. Wir haben auch Stärken, die wir gerade jetzt zu mobilisieren haben. Als Gesellschaft haben wir in den zurückliegenden Krisen doch viel dazu gelernt! Zum Beispiel, wie wertvoll der gesellschaftliche Zusammenhalt ist. Oder wie viel wir bewirken können, wenn wir solidarisch handeln. Oder wie stark wir sein können, wenn es darum geht, die Schwächsten zu schützen. Und jeder einzelne von uns hat doch seine Strategien erweitert, wie er der Angst und dem Ungewissen begegnet. Das löst natürlich nicht die drängenden Fragen derer, die um ihren Arbeitsplatz fürchten, die nicht wissen, wie sie ihre Rechnung bezahlen sollen und die ratlos vor teuren Lebensmitteln stehen und überlegen, wie sie an das tägliche Brot kommen. Da ist sicher die Politik gefragt. Und jeder Einzelne muss sich überlegen, was er beitragen kann. Doch wir haben zugleich ein stabiles gesellschaftliches Fundament, das wir stärken müssen, nicht untergraben.
Nun klinge ich schon wie ein Politiker. Was ich schreibe ist aber auch von meiner Glaubensüberzeugung geprägt. Sie lässt mich zuversichtlich nach vorne blicken – allem zum Trotz – weil ich an einen Gott glaube, der an uns Menschen glaubt und der uns zur Seite steht, damit wir mit seiner Hilfe den Blick füreinander nicht verlieren und zu guten Entscheidungen finden, die das Leben fördern, nicht die Angst. Und ich glaube an einen Gott, an dem man sich regelrecht klammern kann, wenn alles andere zu schwanken anfängt. Ihm kann ich mit dem Vertrauen begegnen, das sagt: Auch wenn ich noch nicht den Ausweg sehe, kein Ende und kein Ziel, so glaube ich dennoch, dass es eine Zukunft gibt. Und bis mir die Zukunft wieder festen Boden schenkt, bist Du der, dem ich mein Leid klage und auf den ich meine Hoffnung setze, damit ich mich selbst nicht verliere.