Systemisches Versagen
"Wenn ein Reich in sich gespalten ist, kann es keinen Bestand haben." Deshalb ist es immer ein Alarmzeichen, wenn sich zeigt, dass ein "Reich", wie es Jesus nennt, in sich gespalten ist - oder eine Institution, ein Team, eine Gruppe, eine Partei... Oft genug ist das der Anfang vom Ende. Vielleicht kommt Ende nicht gleich, sondern langsam und schleichend. Aber es kommt, wenn das Gemeinsame erst einmal verloren gegangen ist.
"Die katholische Kirche in Deutschland ist an einem toten Punkt angelangt." So hat das einer der höchsten Kirchenvertreter in Deutschland am Freitag attestiert und damit ein regelrechtes Beben ausgelöst. An dieser Aussage von Kardinal Marx liegt es nicht, dass das "Reich", auf das er zeigt - in diesem Fall die Kirche - in sich gespalten ist. Er ist nicht der Auslöser. Im Grunde ist er nur der, der ausspricht, was schon lange sichtbar ist. An diesen toten Punkt hat sich die Kirche in Deutschland selbst manövriert. Viele Jahre lang hat man mit der immer gleichen Haltung versucht, die eigenen Probleme selbst zu lösen: "Wir bekommen das alles aus eigener Kraft wieder hin. Wenn wir uns nur genug anstrengen, können wir dafür sorgen, dass wir das Schiff der Kirche aus dem Schlingerkurs wieder in ruhiges Fahrwasser bekommen." Ein Trugschluss. Denn genau diese Haltung war es doch, die den Schlingerkurs verursacht hat. Noch mehr des immer gleichen macht es nicht automatisch besser. Was ist passiert? Mit gutem Willen wurde der Gesprächsprozess des Synodalen Weges gestartet. Doch sehr bald wurde sichtbar, dass er an einem der Themen, die er behandeln sollte, gleich wieder zu scheitern drohte: Mit aller Macht warfen sich einige der Bischöfe dagegen und signalisierten schon zu Beginn, dass man die Ergebnisse nicht akzeptieren würde. Demokratie sieht anders aus. Noch schlimmer: Die Aufarbeitung des unsäglichen Missbrauchskandals, die viel zu oft wieder dem alten Schema folgt: Wir regeln das auf unsere Weise. Anstatt sich um echte Transparenz zu bemühen, macht es den Eindruck, dass man so lange Gutachten in Auftrag gibt, bis eines dabei ist, mit dem man möglichst glimpflich davonkommt. Oder: Die Themen der Zeit werden - wie man es immer gemacht hat - kurzerhand oberhoheitlich vom Tisch gebügelt: Zuletzt die Segnung gleichgeschlechtlicher Paare oder die Zulassung von Frauen zu den Dienstämtern der Kirche. Es ist kein Wunder, dass der Spalt zwischen dem System Kirche und den Menschen immer größer wird. Genau dadurch sind wir an einem toten Punkt angelangt, an dem das System in den eigenen Regeln erstarrt ist: Wir verspielen das, was für unsere Verkündigung am Wichtigsten ist: Die Glaubwürdigkeit. Das System funktioniert weiter, doch die Menschen suchen das Weite. "Kein Reich, das in sich gespalten ist, wird Bestand haben."
Und dann wagt ein ranghoher Kardinal einen mutigen Schritt: Damit meine ich gar nicht so sehr das Angebot des Rücktritts. Denn der Rücktritt als solcher ist nicht der mutige Schritt. Kardinal Marx ist in meinen Augen der erste, der nicht nur davon spricht, dass man Vieles anders machen soll, sondern auch den Weg aufzeigt, wie es anders gehen kann - wie Heilung und Erneuerung geschehen kann. Für mich war das Schlüsselwort seiner Erklärung, dass er offen von "systemischem Versagen" spricht. Wenn das so ist, dann kann sich das System Kirche, so wie es jetzt ist, nicht selbst heilen. In Abwandlung des Wortes Jesu, dass "der Satan nicht den Satan" austreiben kann, möchte ich es so ausdrücken: Wer Teil des Problems ist, kann es nicht lösen. Wer innerlich das Böse mitträgt, wird es nicht bekämpfen. Das ist eine wichtige Einsicht, die für die Kirche oft ganz schwer ist. Denn wir glauben manchmal, dass wir alles besser machen als die anderen und tragen genau damit das Böse weiter: Priester, die des Missbrauchs schuldig sind, wurden aus falsch verstandener Mitbrüderlichkeit versetzt, anstatt ihnen sofort das Amt zu nehmen. Man hielt es für ein Werk der Barmherzigkeit. Auf dem entscheidenden Auge war man blind, nämlich auf dem, das die Opfer im Blick haben sollte. Kardinal Marx sagt im Grunde: "Wenn ich Teil dieses Systems bin, dann muss ich weg! Dann muss ich den Weg für jemanden frei machen, der nicht unheilvoll in all das verstrickt ist." Wie oft wäre diese Erkenntnis in den vergangenen Jahren wichtig gewesen! Denn dieses systemische Versagen war häufig offenkundig. Limburg zum Beispiel. Da hat nicht nur ein Bischof zu viel Geld ausgegeben. Da hat das ganze System versagt, weil die, die wirksam Kontrolle ausüben sollen, nicht dem weisungsbefugt unterstellt sein dürfen, den sie kontrollieren sollen.
Was ich nun hoffe ist, dass das Zeichen, das Kardinal Marx damit gesetzt hat, der Anfang ist, den "toten Punkt" zu überwinden. Ich wünsche mir, dass damit ein ehrlicher Blick auf das Thema möglich wird, das die Ursache vieler Fehlentwicklungen war und ist, nämlich das Thema "Macht". Denn solange Macht nur als uneingeschränkte Leitungsgewalt missverstanden wird und nicht als Verpflichtung zur Verantwortung gegenüber denen, die uns anvertraut sind, wird man in der Kirche immer wieder über die gleichen Themen stolpern. Es ist an der Zeit, all das zu hinterfragen und den Schritt zu wagen, die unheilvollen Strukturen neu zu denken. Nicht allein auf Priester, Bischöfe und hohe Leitungsämter ausgerichtet, sondern demokratischer, transparenter, weiblicher und näher am Evangelium. "Wer den Willen Gottes tut, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter", sagt
(Predigt zum 10. Sonntag im Jk - B)
Wenn dich dein rechtes Auge zur Sünde verführt, dann reiß es aus und wirf es weg! Es ist besser für dich, du verlierst eines deiner Glieder, als dass du ganz in die Hölle geworfen wirst. (Mk 9,43)
Wenn die katholische Kirche als Institution überzeugen will, muss sie vorbildlich den Dienst am Menschen pflegen. Das Setzen auf Machtansprüche und Tabuisierung hat als Perspektive längst ausgedient.