Ein Jahrhundert voll Leben: Jakob Schellenberger aus Gersthofen kann selbst kaum glauben, dass er 100 Jahre alt ist und blickt auf ein bewegtes Leben zurück
Als Jakob Schellenberger im März 1917 in Ungarn zur Welt kam, hatte seine Familie weder Elektrizität, noch fließendes Wasser. Nicht einmal ein Radio gab es und die Toilette bestand aus einem Misthaufen im Hof, erinnert sich der 100-Jährige lachend. Jedes vorbeifahrende Auto war eine kleine Sensation. Als sechstes von insgesamt neun Kindern – „alles Buben“ – kam er in einem kleinen Dorf, circa 100 Kilometer von Budapest entfernt, zur Welt. Seine Geschwister hat er inzwischen alle überlebt.
„Es ist Wahnsinn, was sich alles verändert hat“, blickt der Gersthofer auf sein langes Leben zurück. Er hätte nicht gedacht, dass er so alt werden würde. Auch nicht, dass seine geliebte Frau Maria vor ihm gehen müsse. Immerhin war sie elf Jahre jünger als er. Mit Tränen in den Augen erzählt er: „Wir hatten ein sehr schönes Leben, sehr erfüllt.“ Ein Schlaganfall krempelte das Leben der beiden um, die letzten Jahre verbrachte sie in einem Altersheim. Dort besuchte er seine Frau jeden Tag. Insgesamt 69 Jahre war das Ehepaar miteinander verheiratet. Seit zwei Jahren ist Jakob Schellenberger nun Witwer.
Aus der Ehe ging ein Sohn hervor, mit dem er sich das Haus teilt. Oben wohnt Sohn Otto, unten Jakob Schellenberger. Der 70-Jährige schaut regelmäßig nach seinem hochbetagten Vater, kocht, hilft im Haushalt. Doch ihm ist es wichtig, dass die Selbstständigkeit seines Vaters möglichst lange erhalten bleibt. „Wenige sind in seinem Alter so fit wie er“, betont Otto Schellenberger.
Dass Jakob Schellenberger in seinen eigenen vier Wänden wohnen bleiben kann, ist ihm ein großes Anliegen. Das Haus hat es sich selbst gebaut, berichtet er mit Stolz. Nach Gersthofen kam der Ungarndeutsche 1951, wo er mit seiner Familie zuerst in der Gleisstraße lebte, bis er 1958 sein Haus in der Langemarckstraße baute. Dass sein Weg ihn über Ungarn nach Cham in Niederbayern führte und schließlich in Gersthofen endete, wo er seinen Lebensmittelpunkt fand, ist Zufällen und den historischen Umständen geschuldet.
1939, zu Beginn des Zweiten Weltkrieges, musste Jakob Schellenberger einrücken und seine Familie zurücklassen. Kurz darauf starb seine erste Frau an einer Hirnhautentzündung. Sie wurde nur 21 Jahre alt. Die beiden Kinder des Paares, die zweijährige Valeria und der fünfjährige Tibor, wuchsen während des Krieges ohne Eltern auf. Jakob Schellenbergers Schwiegermutter kümmerte sich um sie. „Es war eine schlimme Zeit“, erinnert er sich. 1944 wurde er verwundet, der Lungensplitter steckt noch heute in seinem Körper. Im März 1945 kam er ins Lazarett nach Cham, wo er zusammen mit seiner zweiten Frau Maria, die er 1946 heiratete, erst mal blieb. Als Flüchtlinge bekamen die Ungarndeutschen Wohnraum bei einem Bauern zugewiesen. Wie er seine zweite Frau kennenlernte, ist „eine lange Geschichte“. Obwohl sie seine Cousine war, kannten sich die beiden nicht von Kindesbeinen an, sondern sahen sich erst 1939, kurz vor Jakob Schellenbergers Einsatz im Krieg, das erste Mal.
Nach dem Krieg „ging es bergauf“, erzählt Jakob Schellenberger. Über den Mann seiner Schwägerin fand die Familie zusammen mit den drei Kindern den Weg nach Gersthofen. Dort versuchte er Arbeit in seinem Beruf – er lernte Fliesenleger in Budapest – zu finden. Zunächst vergebens: „Wir stellen keine Flüchtlinge ein“, bekam er von zahlreichen Fliesenlegerbetrieben zu hören, so dass er schließlich als Maurer sein Geld verdiente. Doch er bekam seine Chance: Beim Bau des AWO-Seniorenheims – das Heim, in das viele Jahre später seine Frau ihre letzten Lebensjahre verbrachte – wirkte er zunächst als Maurer mit. Als man erkannte, dass er Fliesenleger war, durfte er in seinem gelernten Beruf arbeiten. Obwohl die Arbeit hart war und er oft im Akkord schuftete, mochte er seinen Beruf und übte ihn gerne bis zu seinem Renteneintritt als 63-Jähriger aus. Im Ruhestand widmeten er und seine Frau sich vor allem ihrem Garten und ihrem Haus. Große Reisen waren nicht ihr Ding, obwohl es sie „zwei- oder dreimal“ nach Amerika verschlug, wo Tochter Valeria lebt.
In Gersthofen kennen Jakob Schellenberger viele über sein Engagement in Vereinen. Aktiv brachte er sich beim TSV Gersthofen ein: zuerst als Jugendbetreuer im Fußball, dann als Jugendleiter und schließlich im Präsidium. 40 Jahre lang passives Mitglied war er bei der Stadtkapelle Gersthofen, die zu seinem 100. Geburtstag für ihn spielte. Es freut ihn, dass an seinem Ehrentag seine Familie mit ihm feierte und sogar seine Tochter aus dem US-Bundesstaat Indiana anreiste. Neben den drei Kindern komplettieren die Großfamilie acht Enkel, 15 Urenkel und sogar vier Ururenkel. Der jüngste Spross ist die zweijährige Emma.
Hat man als 100-Jähriger noch Wünsche für die Zukunft? „Nein“, sagt er. Er wünscht sich nur, friedvoll einzuschlafen.
Allen Respekt vor dieser Lebensleistung!