Leben im Lechtal am Beginn der Bronzezeit vor 4000 Jahren
800 Jahre ein Systen mit "mobilen Frauen"
Wie muss es sich anfühlen, seine Tochter mit 17 Jahren von zu Hause in die Ferne gehen zu lassen in der Gewissheit, dass man sie nie mehr im Leben wieder sehen würde? Dass dies gängige Praxis war und nicht auf Freiwilligkeit fußte, dass ein solches System mit mobilen Frauen während der Bronzezeit über 800 Jahre bestens funktionierte, sogar zu Frieden ohne weitreichende kriegerische Auseinandersetzungen führte, erfuhren mehr als 90 Zuhörer im großen Saal des Friedberger Schlosses in einem spannenden Vortrag über das Leben im Lechtal. Philipp Stockhammer, Professor für Prähistorische Archäologie der Ludwig-Maximilians-Universität München, berichtete von völlig neuartigen Erkenntnissen, die er mit seinem Team aus Grabfunden im Lechtal südlich von Augsburg gewonnen hatte. So stellte man fest, dass ab etwa 2200 vor Christus, also ab der beginnenden Bronzezeit, die Mehrheit der Frauen aus der Fremde stammte.
Die Frauen, die ins Lechtal kamen, hatten offenbar metallurgisches Knowhow
Sie kamen aus Mitteldeutschland in der Gegend von Halle und Leipzig sowie aus Böhmen, aus Gebieten also, die Zentren der Bronzeherstellung waren. Bekanntestes Zeugnis ist die runde mit Goldauflagen versehene bronzene Himmelsscheibe von Nebra. Frauen, die von dort an den Lechrain kamen, dürften damit Kenntnis von der Metalltechnologie mitgebracht haben. Bronze ist eine Legierung, die aus 90% Kupfer und 10% Zinn besteht. Sie war leicht zu gießen und glänzte wie Gold. Rohstoffe wurden quer durch Europa transportiert, verbunden mit einem Austausch von Kulturgütern und Ideen. Bronzebarren wurden vermutlich als Zahlungsmittel genutzt.
Wie reisten die Frauen?
Mindestens zwei Monate hätte es für die Frauen gedauert, um auf Schusters Rappen zur neuen Heimat, dem Lechrain zu gelangen. Kamen sie vielleicht auf Ochsenkarren hierher? Wie war die Versorgung auf dem langen Weg, wie wurde für die Sicherheit gesorgt, vor wilden Tieren, vor Wegelagerern? Darüber weiß man nichts. In ihrer neuen Heimat am Lechrain waren sie Ehefrauen von Männern, die allesamt ortsansässig waren. Doch auch einige dieser Männer mussten als Kinder mit 7 oder 8 Jahren in die Ferne, kehrten aber mit 16 oder 17 Jahren wieder ins Lechtal zurück. Offenbar eigneten sich die jungen Männer in der Fremde Wissen an.
Wo sind die Töchter geblieben?
Die Gehöfte im fruchtbaren Lechtal fanden sich wie Perlen an einer Schnur locker entlang der Lößterrasse aufgereiht. Über die männliche Linie wurde der Bauernhof über vier bis fünf Generationen geführt, bevor ein neuer Standtort gewählt wurde. Östlich des Hofes befanden sich die Gräber. Die von weit her stammenden Ehefrauen dürften eine hohe Stellung innerhalb der Familie gehabt haben. Das belegen reichhaltige Grabbeigaben. Daneben finden sich die Skelette der angestammten (Ehe-) Männer. Mit beerdigt wurden auch die wahrscheinlich unverheirateten Mägde und Knechte, die größtenteils ortsansässig gewesen und arm verstorben sind. Keine Spur fand man von den Töchtern der Bauern, so sie nicht bereits als Kinder verstarben. Im Alter von 17 Jahren mussten auch sie, wie ihre aus der Ferne stammenden Mütter, fortziehen – für immer. Somit stammten alle hier bestatteten Frauen, bis auf die Mägde und Mädchen, nicht von hier.
Erstaunliche Erkenntnisse trotz Schriftlosigkeit der Kulturen
Wie kommt man zu solchen Erkenntnissen? Knochen haben sich im Lechfeld phantastisch erhalten. Zähne nehmen über die Nahrung Strontium auf. Mit entsprechender Analyse lässt sich feststellen, wo und wie Menschen sich bis zum Eintritt ins Erwachsenenalter ernährt haben. So basiert die Ernährung südlich der Donau vorwiegend auf den hier befindlichen Löß- und Kalkböden. Anders als in den 500 km entfernten Gebieten, aus denen die Frauen stammten. Dass neben anderen Krankheiten auch die Pest Menschen im Lechfeld heimsuchte, belegen Pestbakterien in den Blutresten unter dem Zahnschmelz. So bringen ausgefeilte Analysen erstaunliche Erkenntnisse zutage, zumal diese frühen Kulturen wegen ihrer Schriftlosigkeit uns nichts mitteilen konnten. Allerdings tappt man bei vielen gesellschaftlichen Themen (noch?) im Dunkeln, z. B. bei der Frage damaliger religiöser Vorstellungen.
Humorvoll, kurzweilig und verständlich - Prof. Dr. Philipp Stockhammer berichtet über das Leben im Lechtal vor 4000 Jahren:
https://www.br.de/mediathek/video/prof-dr-philipp-w-stockhammer-die-bronzezeit-ueber-mobile-frauen-und-soziale-ungleichheit-av:5ea57e382b5b530013d9a6e8
und
https://www.youtube.com/watch?v=WT3HOR0LcFY&list=LL&index=14&t=175s
Danke Regine, sehr interessant zu lesen !