Theo Waigel - Bundesfinanzminister der CSU aus Krumbach (Schwaben)
Er saß bei Bill Clinton zum Frühstück. Seine Augen sahen einen müden, gebrochenen Michail Gorbatschow nach dem Putsch, seine Hände unterzeichneten für die Bundesregierung 1992 den Vertrag über die Währungsunion in Maastricht, seine Füße betraten geschichtsträchtigen Boden im Kaukasus. Neuneinhalb Jahre stand Dr. Theo Waigel an der Spitze des Bundesfinanzministeriums – so lange wie keiner seiner Amtsvorgänger. Ironisch bezeichnete der CSU-Politiker seine Zeit als Finanzminister einmal als „Hundejahre“. In einer schwierigen wirtschaftlichen Umbruchsphase bestimmte der 68-jährige Christsoziale die finanzpolitischen Geschicke der Bundesrepublik Deutschland maßgeblich. An Helmut Kohls Seite kämpfte der gebürtige Schwabe für die Deutsche Einheit. Myheimat-Redaktionsleiter Joachim Meyer besuchte Theo Waigel in Oberrohr. Er traf einen aufgeräumten, sichtlich entspannten Bundesfinanzminister a.D., der amüsant über seine Liebe zur schwäbischen Heimat, die Schulzeit in Krumbach und die Vorzüge einer ungemähten „Gartenwiese“ plauderte.
myheimat: Herr Dr. Waigel, lassen Sie uns ein wenig über den Heimatbegriff sprechen. Das Wort „Heimat“ scheint eine Renaissance zu erleben. In einer zunehmend unübersichtlichen Welt sehnt sich der Mensch nach lokaler beziehungsweise regionaler Verortung. Marcel Reich-Ranicki sprach davon, dass er in der Literatur ein „tragbares Vaterland“ gefunden habe, das er überall mitnehmen konnte. Was bedeutet für Sie Heimat? Ist Heimat an einen bestimmten geographischen Raum, an einen Dialekt oder an Mitmenschen gleicher Gesinnung gebunden?
Dr. Theo Waigel: Ich leiste mir den „Luxus“ Heimat. Viele Menschen glauben, wenn sie ein Appartement in Mallorca oder der Toskana haben, dann wäre das Luxus. Mein Luxus heißt Oberrohr. Obwohl ich die überwiegende Zeit bei meiner Familie im Allgäu verbringe, wäre es für mich unvorstellbar, das Haus in Oberrohr, in dem ich geboren wurde und aufgewachsen bin, zu verkaufen, zu vermieten oder zu verpachten. Während die meisten Menschen an Weihnachten oder Ostern in den Süden fahren, fahren wir an diesen Festtagen häufig nach Oberrohr. Gerade im Frühling, wenn alles blüht, ist es hier wunderschön. Zuerst kommen die Birnenbäume, dann die Pflaumenbäume. Später folgen die Apfelbäume und der Flieder. Als ich früher beruflich viel unterwegs war, fiel mir jeder Abschied schwer. Besonders stolz bin ich auf meine „Gartenwiese“, die nicht gemäht wird. Das Gras bleibt 5 oder 6 Wochen stehen. Normalerweise wird ja ab 10 cm bereits zum Rasenmäher gegriffen. Ich will alles blühen und „leuchten“ sehen. Ein weiterer wichtiger Aspekt: Hier stehen Bäume, die bereits mein Vater gepflanzt hat. Die ältesten sind 80 oder 90 Jahre alt. Jeder Baum bleibt stehen. Ratschläge, einige Bäume zu fällen, ignoriere ich bewusst. Mein Anwesen in Oberrohr soll in einem möglichst ursprünglichen Zustand erhalten bleiben. Eine Besonderheit in meinem Garten: Vor 25 Jahren fertigten Steinmetze aus einem alten Grabstein für mich eine Vogeltränke an. Das Haus in Oberrohr wurde 1974 zum ersten Mal umgebaut. Ursprünglich handelte es sich um einen Bauernhof mit Kuhstall und Städel. Den Speicher habe ich zu einem „politischen Archiv“ umfunktioniert. Alles, was ich jetzt aufgezählt habe, bedeutet für mich „Heimat“. Mein Vater war Maurerpolier, meine Mutter Bäuerin. Hier gehöre ich her. Oberrohr war auch meine politische Heimat als Stimmkreisabgeordneter. Der Begriff „Heimat“ ist also durchaus an geographische Einheiten wie Dorf, Stadt, Bezirk, Täler oder Flüsse gebunden. Hinzu kommt allerdings noch ein anderer Aspekt: Ohne den Bezug zu Mitmenschen, die man schätzt und mag, wäre das Wort „Heimat“ kalt und leblos. Dazu zählen Nachbarn und Verwandte. Die Kategorien „schwäbische Sprache“ und „Erinnerung“ gehören ebenfalls zu meinem Heimatverständnis. Martin Walser hat in seinem Roman „Ein springender Brunnen“ sehr schön beschrieben, was „Heimat“ bedeuten kann. Zu meiner schwäbischen Heimat gehören auch Denker wie der Schriftsteller Arthur Maximilian Miller oder der Theologe Joseph Bernhart. Was mich sehr beeindruckt hat, waren Sätze des marxistischen Denkers Ernst Bloch, der sagte, dass zu seinem „Prinzip Hoffnung“ untrennbar der Begriff Heimat gehöre. Man entstamme ihr und kehre eines Tages wieder zu ihr zurück.
myheimat: Sie besuchten ja in Krumbach das Gymnasium. Inwieweit bezieht sich Ihr Heimatbegriff auch auf die Kammelstadt?
Dr. Theo Waigel (lacht): Als fünfjähriger Bub war für mich zunächst nur das „äußere“ Dorf die Heimat. Das „innere Dorf“ war schon sehr weit weg und Ursberg war gar schon einen Kilometer weg. Stück für Stück habe ich mir dann die Heimat „erobert“. Eine nette Anekdote: Als ich im Alter von 7 oder 8 Jahren für eine Impfung einmal nach Krumbach musste, war das für mich schon eine „Weltreise“. Das hat sich dann natürlich geändert Sie sehen also: Der Begriff „Heimat“ erfuhr im Lauf meines Lebens auch eine Bedeutungserweiterung. Irgendwann gehörten dann auch Ursberg, Bayersried, Thannhausen und Krumbach dazu. In Thannhausen spielte ich gern Fußball. In Krumbach besuchte ich 9 Jahre lang das Gymnasium. Im Sommer radelte ich nach Krumbach.
myheimat: Sie haben beruflich sehr viele Reisen unternommen. Gab es irgendeinen Ort, der Ihnen so etwas wie einen Heimatersatz bieten konnte?
Dr. Theo Waigel: Nein, eigentlich nicht. Am ehesten vielleicht noch Washington, Rom oder Helsinki. Aber grundsätzlich hatte ich während meiner Reisen immer auch Sehnsucht nach der Heimat. Wenn wir zurückflogen und man von oben den Rieskrater in Nördlingen oder das Mindeltal sehen konnte, blühte meine Seele wieder auf.
myheimat: Welche Erinnerungen haben Sie an Ihre Schulzeit in Krumbach?
Dr. Theo Waigel: Im Jahr 1959 machte ich in Krumbach mein Abitur. Die 1950er Jahre waren ein spannender und interessanter Zeitabschnitt in einer wirtschaftlichen Umbruchphase nach dem Zweiten Weltkrieg. Bildung war für viele ein Luxus. Die Heimatvertriebenen wussten damals schon frühzeitig den Stellenwert von Bildung zu schätzen. Für jemanden, der Heimat und Vermögen verloren hatte, war Bildung die einzige Aufstiegsmöglichkeit. Mitunter waren in manchen Klassen mehr Heimatvertriebene als „Einheimische“. Ich kann mich noch gut erinnern: In Oberrohr herrschte blankes Unverständnis, als mich mein Vater auf die Oberschule schickte. Mein Vater hatte allerdings schon im Jahr 1950 begriffen, dass die kleineren Bauernhöfe keine Zukunft hatten. Meine Lust, die Oberschule zu besuchen, war am Anfang nicht besonders stark ausgeprägt. Auch meine Mutter war strikt dagegen. Schließlich setzte sich aber mein Vater durch. Übrigens: Selbst der Pfarrer von Ursberg mischte sich ein. Er warnte meine Mutter davor, dass der Bub bei den Omnibusfahrten sittlich verdorben würde. Was erschwerend hinzukam: Ich war kein braver Schüler. Schwester M. Beda als Lehrerin wurde nicht mit mir fertig. In der sechsten Klasse hätte dann in Ursberg ein strenger Hauptlehrer auf mich gewartet. Er drohte damit, mich an die Kandare zu nehmen. Um dieser Drohung zu entgehen, entschloss ich mich, die Oberschule in Krumbach zu besuchen. In Krumbach lernte ich dann Latein. Leider hatte ich keinen Französischunterricht. Das bedauere ich im Nachhinein. Die Behauptung einiger Altphilologen, Französisch sei leicht zu lernen, wenn man Latein beherrsche, halte ich für eine glatte Lüge. Bei manchen Konferenzen hätte ich Französisch gut brauchen können. Französische Minister wie Dominique Strauss-Kahn oder Jean- Pierre Chevènement verfügten über sehr gute Deutschkenntnisse. Da war es natürlich peinlich, dass man deren Landessprache nicht beherrschte. An dieser Stelle muss ich allerdings der Stadt Krumbach ein Kompliment machen. Trotz schwieriger finanzieller Rahmenbedingungen und beengter Verhältnisse hat die Stadt in ihrer Eigenschaft als Trägerin der Schule alles unternommen, um das Gymnasium „am Leben“ zu halten. Ein großer Vorteil unserer Schule damals: Die vielen heimatvertriebenen Lehrer haben uns etliches beigebracht, was einen aus der provinziellen Enge herausgeführt hat. Wir hatten beispielsweise einen Deutsch-, Englisch- und Lateinlehrer, der aus Ostpreußen stammte.
myheimat: Wie würden Sie Ihre Beziehung zur Familie Rothermel beschreiben?
Dr. Theo Waigel: Ich kann mich noch gut an Willy Rothermels Vater, Dr. Fridolin Rothermel, erinnern. Familie Rothermel wohnte auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Mein Vater war genauso alt wie Fridolin Rothermel. Beide besuchten dieselbe Schule. Fridolin Rothermel machte sein Abitur in Dillingen und studierte in München Volkswirtschaft. Er promovierte über Ursberg. 1932 wurde Fridolin Rothermel Landtags- und Reichstagsabgeordneter, aber schon 1933 enthoben ihn die Nazis aller Ämter. Er blieb lediglich Vorsitzender der Raiffeisenbank. Bis 1945 bewirtschaftete er seinen Bauernhof und lebte zurückgezogen. Er leitete dann das Ernährungsamt in Krumbach und wurde später zum ersten Landrat gewählt. Schließlich wurde er Präsident des Bayerischen Bauernverbandes. Ich begegnete ihm regelmäßig in Ursberg beim Gottesdienst. Zum Hintergrund müssen Sie Folgendes wissen: links auf der Empore waren die Oberrohrer und rechts die Bayersrieder. Fridolin Rothermel blieb seiner Linie treu und „bekannte“ sich zu den Oberrohrern. 1955 verunglückte Fridolin Rothermel leider tödlich auf einer Dienstfahrt in Frankreich. Man kann schon sagen, dass Fridolin Rothermel in gewisser Weise ein Vorbild für mich war. Es imponierte mir, wie er am Morgen mit seinem Dienstwagen von Bayersried nach Krumbach fuhr. Als Sechstklässler dachte ich: „Mensch, Landrat von Krumbach, das wäre doch was!“
myheimat: Herr Dr. Waigel, vielen Dank für dieses Gespräch.
myheimat-Team:Joachim Meyer aus Friedberg |
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