Schwester Engeltraud wird 100!

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Sehr geehrte Festgemeinde, sehr geehrte Kulturreferentin Eva Leipprand, sehr geehrte Frau Dr. Schuber, sehr geehrter Oberbürgermeister der Stadt Donauwörth, Armin Neudert, liebes Geburtstagskind Schwester Engeltraud!

Grußworte in dieser Kategorie, Begrüßungsansprachen in dieser Größenordnung, Reden in dieser Dimension sind für mich ein gänzlich ungewohntes Erlebnis. Als Orientierungspunkt für eine gute Ansprache habe ich mir den Leitfaden eines meiner akademischen Lehrer ins Gedächtnis gerufen. Eine gute Rede müsse 3 Dinge enthalten, so mein damaliger Germanistikprofessor. Erstens: Bekanntes. Damit meinte er bekannte Anknüpfungspunkte, die es dem Zuhörer erleichtern, am Geschehen dranzubleiben. Der Zuhörer müsse im Verlauf des Vortrages immer wieder auf Dinge stoßen, die er einordnen und bewerten könne. Zum Zweiten müsse eine fesselnde Rede auch Unbekanntes enthalten, um die Zuhörer verblüffen und überraschen zu können. Ein Nachdenkprozess solle somit in Gang gesetzt werden. Der dritte Baustein eines ausgefeilten Vortrages wirkt auf den ersten Blick verwirrend, hat aber aus meiner Sicht trotzdem seine Berechtigung. „Gänzlich Unverständliches“ solle dem Zuhörer präsentiert werden, um Aufmerksamkeit, Staunen und Neugierde zu erzeugen. Mit zuletzt genanntem Punkt dürfe man es aber nicht übertreiben, denn leicht neige das geschätzte Publikum dazu, die Geduld zu verlieren. Und die durch dieses Stilmittel anfänglich geweckte Neugierde schlage nur allzu schnell in Verdruss, Wut oder gar Aggression um, die dann in scheelen Blicken und unzufriedenem Gemurmel in den ersten Sitzreihen ihren sicht- und hörbaren Ausdruck fänden.

Nach diesen theoretischen Vorüberlegungen starte ich wagemutig mit etwas Unbekanntem. Die meisten von Ihnen dürften nicht wissen, dass ich meinen ersten Kontakt mit Schwester Engeltraud im Spätsommer 1973 hatte. Auch die Jubilarin selbst dürfte sich kaum an diese erste zarte Tuchfühlung erinnern, denn ich lag wohlbehalten und geschützt in der Gebärmutter meiner Mama und Schwester Engeltraud versuchte meiner Mutter die Vorzüge einer „sanften Geburt“ näher zu bringen. Selten dürfte sich Schwester Engeltraud als Schwangerschaftsgymnastin so vergeblich abgemüht haben wie an meiner Mutter, denn außer deren Augenbrauen ließ sich kein Körperteil auch nur annähernd in einen entspannten Zustand überführen. „Anna, Anna so wird das nichts. Du musst dich schon entspannen“, richtete Schwester Engeltraud verzweifelt immer wieder einen Appell an die Entspannungsunwillige. Es half alles nichts. Die von Schwester Engeltraud gewünschte „sanfte Geburt“ fand nicht statt. Der Kaiserschnitt befreite mich am 1. März 1974 aus einer gänzlich unübersichtlichen, im wahrsten Sinne des Wortes verwickelten Lage. Eine Lage, aus der ich ohne größeres eigenes Zutun durch fachmännische Hilfe des Klinikpersonals im Josefinum befreit wurde. Schwester Engeltraud besuchte meine Mutter häufiger und erkundigte sich detailliert nach dem Befinden des munteren, properen und aufgeweckten Säuglings.

Nach 6 Jahren Kindheit, 4 Jahren Grundschule, 9 Jahren Gymnasium und einigen, hier nicht näher zu beziffernden Hochschulsemestern, nach insgesamt also 32 Jahren (!) stand ich in meiner Eigenschaft als Journalist erneut vor Schwester Engeltraud. Ich konnte ihrer strengen, aber durchgehend von Wohlwollen getragenen Musterung standhalten und wurde in ihre Wohnung im Josefinum eingelassen. Schon das neben der Eingangstür angebrachte Türschild „Engel 99“ beeindruckte mich außerordentlich. Ich nahm auf einem kleinen Hocker Platz. Das Handy lag wie selbstverständlich neben der Bibel. Wellensittich Hansi hatte quietschfidel auf der Hand seines Frauchens Platz genommen. Ich bekam eine Privataudienz bei Schwester Engeltraud. Ein bisschen spüre sie das Alter schon, sagte sie zu Beginn unseres Gespräches mit sanfter Stimme und einem charakteristischen verschmitzten Lächeln um die Mudwinkel. Die linke Hand „mache nicht mehr so mit wie früher“, der Blutdruck gehe „rauf und runter“, aber ansonsten fühle sie sich „fit“. Auf den Festakt zu ihrem 100. Geburtstag im Goldenen Saal freue sie sich schon sehr. Zum letzten Mal habe sie diesen prunkvollen Raum vor dem Zweiten Weltkrieg betreten. Sie sei gespannt, wie sich alles verändert habe. Schwester Engeltrauds Biographie ist in jeder Hinsicht beeindruckend. Den meisten Zuhörern ist sicherlich bekannt, dass Schwester Engeltraud seit 1973 im Geburtskrankenhaus Josefinum werdende Mütter auf eine „sanfte Geburt“ vorbereitet. Vor ihrer Tätigkeit als Schwangerschaftsgymnastin erteilte Schwester Engeltraud 43 Jahre lang Turn- und Sportunterricht an der Klosterschule Maria Stern. Trotz ihres hohen Alters gibt sie heute noch Schwangerschaftskurse und greift selbst ein, wenn es „nötig ist“. Sie sei 1929 ins Kloster gegangen, um in der Abgeschiedenheit und einer christlichen Atmosphäre zu leben, erzählte mir Schwester Engeltraud aus ihrem bewegten Leben. Ausschlaggebend für ihren Eintritt ins Kloster sei die Sozialisation in einer katholischen Familie gewesen. Ihr eigener Glaube sei sehr stark von Theologieprofessor Deissler geprägt worden. Jesus Christus und seine Botschaft der Liebe stünden im Zentrum ihres Glaubens, so Schwester Engeltraud in unserem Gespräch. Als ich sie danach fragte, warum ein gütiger, allmächtiger Gott Leid und Übel zulasse, antwortete sie theologisch fundiert, dass Gott den Menschen mit einem freien Willen ausgestattet habe. Das bedeute eben auch eine Freiheit zum Bösen. An vielen Katastrophen seien die Menschen selber schuld. Ob sie am Ende der Tage auf einen gerechten oder barmherzigen Gott hoffe, wollte ich wissen und Schwester Engeltraud gab eine Antwort, die mir noch lange im Gedächtnis haften bleiben wird. Sie hoffe auf einen „Gott der Liebe“. Eine Hoffnung, der ich mich uneingeschränkt anschließen kann. Ein Patentrezept, um so alt zu werden, gebe es zwar nicht, aber zwei Dinge seien für sie sehr wichtig gewesen: Zum einen habe sie einen „tollen Beruf“ ausüben dürfen, zum anderen sei sie stets mit der Jugend in Kontakt geblieben. Einen speziellen Ernährungsratschlag hatte Schwester Engeltraud zum Abschluss unseres Interviews auch noch parat: Sie esse ganz gerne Weißwürste und trinke ab und zu - in kleinen Mengen - auch mal ein Glas Weißwein oder Bier zum Essen. Der weltliche Schalk blitzte ihr dabei aus den Augen. Die Gesprächsatmosphäre war wohltuend authentisch. Sie rede eben, wie ihr der Schnabel gewachsen sei, so meine Gesprächspartnerin. Mit dieser Haltung unterscheidet sie sich Schwester Engeltraud von vielen anderen Interviewpartnern. Keine falschen Maskeraden, keine permanenten Kostümierungen, sondern direkte, unverfälschte Antworten machten das Gespräch zu einem besonderen Erlebnis.

Kommen wir abschließend zum gänzlich Unverständlichen: Wie ist es überhaupt möglich, dass ein Mensch 100 Jahre alt wird? Wie kann es sein, dass sich eine 100-jährige Schwangerschaftsgymnastin zwanzigmal schneller vom Sofa erheben kann als ein kaum manövrierfähiger 32-jähriger Journalist? Warum strahlt eine 100-Jährige mehr unverbrauchte Lebensenergie aus als manche 18-Jährige? Wie kann es sein, dass es im Land der PISA-Versager eine 100-Jährige gibt, deren mündlicher Sprachgebrauch leuchtendes Vorbild für so manchen Jugendlichen sein könnte. Alles gänzlich unbergreifliche Phänomene! Mysterien, die nicht ergründet werden können, aber auch nicht sollen!
Als Journalist träumt man sein Leben lang von der einzigen, fetten, dicken, satten, unverwechselbaren Schlagzeile im Stile der Bild-Zeitung „Wir sind Papst“. Ich freue mich schon seit Monaten auf die Schlagzeile meines Journalistenlebens: „Die Unsterbliche – Schwester Engeltraud wird 100“. Mein Dank gebührt in allererster Linie dem Geburtstagskind, das tapfer durchgehalten und diese Schlagzeile überhaupt erst ermöglicht hat. Wer unsterblich ist, ist über jeden Zweifel erhaben, ist menschlichen Vergänglichkeitskategorien längst entrückt, ist Bestandteil eines größeren, göttlichen Zusammenhangs. Der bekannte Fernsehmoderator Robert Lembke hat über das Alter einmal Folgendes gesagt:
„Alt werden ist natürlich kein reines Vergnügen. Aber denken wir an die einzige Alternative.“ In diesem Sinne: Vermeiden Sie, Schwester Engeltraud, auch in den nächsten 100 Jahren diese einzige denkbare Alternative, ertragen Sie die Unbilden des Alters weiterhin mit der Ihnen eigenen Mischung aus trotziger Gelassenheit, weltlichem Humor und Gottesfürchtigkeit. Bleiben Sie uns noch möglichst lange erhalten!

myheimat-Team:

Joachim Meyer aus Friedberg

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