Eine Reise in das grüne Herz Italiens
Niemals in meinem späteren Leben hatte ich je wieder ein so sicheres Gefühl, zu einem bestimmten Zeitpunkt genau das Richtige zu tun wie damals, als ich mit meiner Großfamilie in Richtung Umbrien fuhr. Es waren die 80er Jahre und ihr unvergleichliches Fluidum:
Tante Tilly badete die Hände anderer Leute in grünem Palmoliv-Geschirrspülmittel, J.R. Ewing klärte seinen perwollweichgespülten, geschäftsuntauglichen Bruder Bobby über die harten Gesetzmäßigkeiten des Ölgeschäftes („Bobby, wir verkaufen Öl und keine Emotionen“) auf und meine Lieblingsserienfigur „Monaco Franze“ tummelte sich Kaviar schlürfenderweise heiter-unbeschwert mit einer Gruppe bauchnabelfreier Girlies im Englischen Garten, um ihnen zu erklären, dass die von seinem „Spatzl“ prognostizierte Wirtschaftskrise nur eine Massenpsychose ohne Realitätsgehalt sei. Heiterkeit und Unbeschwertheit waren also die Kennzeichen dieser glorreichen, im Nachhinein zugegebenermaßen leicht verklärten Epoche und dementsprechend munter wurden die Reisevorbereitungen in Angriff genommen. Wir Kinder mussten uns natürlich um nichts kümmern, denn die Schinken-Käse-Doppeldeckerstullen, die unsere Tanten in Maßarbeit anfertigten, hätten nährstofftechnisch bis nach Stalingrad gereicht.
Spätestens auf der Höhe von Florenz begannen die nach Grundsätzen der Steiner-Anthroposophie erzogenen quengeligen Zöglinge ihren nervtötenden Schlager „Wie viel Kilometer noch?“ in melodiösen Endlosschleifen zu intonieren. Die Eltern, leicht genervt ob der gesanglichen Darbietungen ihrer Nachzucht, gaben stereotyp - völlig unabhängig vom tatsächlichen Kilometerstand - die Auskunft „Jetzt sind wir wirklich gleich da!“ Und tatsächlich: nach 860 km war das grüne Herz Italiens („Il cuore verde d’Italia“) erreicht. Umbrien ist die einzige Region Italiens, die nicht ans Meer grenzt. Im Vergleich zur eher mondänen Toskana geht’s in Umbrien bäuerlich, unverfälscht und rauchig zu; wildzerklüftete, karge Berglandschaften sowie alte, verfallene Bauernhöfe sind Charakteristika dieser Region. Das Ferienhaus meiner Tante, ebenfalls ein altes Bauernhaus, liegt an der Grenze zwischen der Toskana und Umbrien, wobei die offizielle Familienideologie von jeher darauf bestand, dass unsere „Casa fossati“ auf umbrischem Grund und Boden stand bzw. steht. Es waren schwerelose, sorgenfreie Tage: beinahe jeden Tag ging es nach Tuoro zum Trasimenischen See. Baden war solange angesagt, bis der See eines Tages kippte und anstatt der Menschen die Fische oben schwammen. Die örtliche Dorfjugend traf sich in der Diskothek „Ciao Ciao“; aus der Jukebox donnerten wahlweise Celentanos Meisterwerke „Azzurro“ oder „Una festa sui prati“. Unsere umbrische Datscha liegt fernab der Zivilisation mitten im umbrischen Hügelland. Häufig kam die alte Bäuerin Gesira, ein kauzig-knorrig anmutender Waldschrat, zu Besuch. Sie brachte frische Steinpilze und verkaufte diese zu Phantasiepreisen an meine Tante und unser Gärtner Giovanni, ein notorischer Schwerenöter vor dem Herrn, umarmte feurig langhaarige Heranwachsende männlichen Geschlechts in der irrigen Annahme, es handle sich um „belle ragazze“.
Während die Toskana eher ein Land der Verheißung, ein gelobtes Stück Erde, in dem Milch und Honig in nie versiegenden Strömen zu fließen scheinen, ist, steht Umbrien eher für die harte, ungeschminkte Realität. Keine sanft geschwungenen toskanischen Hügel, an denen sich das fluoreszierende Sonnenlicht bricht, sondern kantig-trutzige Berge prägen das umbrische Landschaftsbild. Mit folgenden Worten hat MERIAN-Autor Hermann Peter Piwitt die Seele Umbriens so schön wie kaum ein anderer beschrieben: „In Umbrien rauschen keine Meereswellen, sondern die Wälder. Hier blühen keine Zitronen, sondern Heiligenlegenden. Umbrien ist ein Land von sprödem, verhaltenem Zauber.“ Renaissance und Barock haben in Umbriens Städte kaum Spuren hinterlassen, die Romanik dagegen umso mehr. Besuchen Sie zum Beispiel die Abtei San Pietro in Valle, eine wunderschönes romanisches Kloster zwischen den Wasserfällen Cascate delle Marmore und Spoleto. Ein Ort des spirituellen Energieflusses und der seelischen Erbauung. Ein Ort der „absoluten Freiheit“, wie ihn der Schriftsteller Alfred Andersch in seinen Büchern häufiger beschreibt. Die Zeit scheint hier tatsächlich still zu stehen. Doch Umbrien bietet nicht nur Platz für Muße und Kontemplation. Man findet dort ebenso urbane Lebensfreude und Lebenslust. Flanieren Sie ausgiebig auf dem Corso Vannucci in Perugia oder der Piazza del Comune in Assisi, wobei Sie auf dem Corso ein Feuerwerk der Eitelkeiten und modischen Eleganz erwartet. Die zauberhaften Städte Gubbio, Spoleto oder Todi (nach einer amerikanischen Studie die Stadt mit der höchsten Lebensqualität weltweit) sind ebenfalls lohnende Ausflugsziele. Fernab der Touristenströme können Sie ein unverbrauchtes, vor Energie strotzendes Land entdecken. Denn vom Massentourismus toskanischer Prägung ist Umbrien - bis auf wenige Ausnahmen wie Assisi oder Perugia - weitgehend verschont geblieben.
Im Sommer dieses Jahres werde ich - nach einer langen, zu langen Abstinenz von dreieinhalb Jahren - wieder dorthin reisen, wo meine Seele eine Heimstätte gefunden hat. Wenn auch Sie an fernen, nordischen Abenden das Fernweh packt und Sie das Gefühl bekommen, in Richtung Süden reisen zu müssen, zögern Sie nicht allzu lange und machen Sie sich auf den Weg nach Umbrien. Sie werden es nicht bereuen!
Text und Bilder: Joachim Meyer
myheimat-Team:Joachim Meyer aus Friedberg |
Kommentare
Sie möchten kommentieren?
Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.