Stolperstein für ein Opfer der sog. "dezentralen Euthanasie", Charlotte Rappold

14. Juli 2020
15:30 Uhr
Konrad Adenauer Allee 25, 86150 Augsburg
Charlotte Rappold mit ihren Kindern
7Bilder

Charlotte Rappold, geb. am 5.9.1865, protestantisch., Fabrikantenwitwe, ermordet in Kaufbeuren am 27.3.1945; ehem. wohnhaft in Augsburg, Kaiserstraße 25, Opfer der sog. „dezentralen Euthanasie“.

Charlotte Christine Blatter ist am 5. September 1865 in Augsburg geboren. Ihre Eltern, der Privatier Josef und Magdalena Blatter geb. Schwarz stammen ebenfalls aus Augsburg. Über die schulische Laufbahn und berufliche Ausbildung Charlottes haben wir keine Kenntnisse. Wir können davon ausgehen, dass sie wie alle Frauen im 19.Jahrhundert dazu erzogen wird, den Haushalt zu führen und dem Ehemann beruflich „den Rücken freizuhalten“. Der Broterwerb wird noch bis ins 20. Jahrhundert als Männerdomäne angesehen.
Mit 26 Jahren, am 8. Juni 1891 heiratet Charlotte den um 12 Jahre älteren Prokuristen und späteren Essigfabrikanten Albert August Rappold.
Mit ihm gemeinsam hat sie fünf Kinder. August , der noch am Tag seiner Geburt verstirbt, Alwine Pauline; Karl August , der im Kindesalter verstirbt, Georg Herbert Egon und Paula Marta Rappold.
Die Essig- und Spirituosenfabrik und das Wohnhaus in der Kapuzinergasse 24-26 sind im Besitz der Familie Rappold, sie verfügen somit über einen überaus stattlichen Grundbesitz mitten in Augsburg. Die Familie ist nach Familienangaben bis ins 16. Jahrhundert in Augsburg nachweisbar. August Albert, der Ehemann von Charlotte Rappold, verstirbt 1914 im Alter von 61 Jahren, kurz nach Beginn des ersten Weltkrieges. Sein Bruder Julius Rappold führt die Geschäfte alleine weiter, verstirbt aber ebenfalls bereits 1919.
Charlotte erbt gemeinsam mit ihren Kindern Alwine, Marta und Egon die Anteile ihres verstorbenen Mannes an dem Anwesen in der Kapuzinergasse 24 und an dem Haus an der Kaiserstraße 25.
Von 1890 bis 1931 wohnt die Familie Rappold in dem riesigen Haus in der Kapuzinergasse. Dann zieht Charlotte mit ihren Kindern in das repräsentative Haus in der Kaiserstraße (Konrad Adenauer Alle), in dem auch die Erben von Julius Rappold wohnen.
Obwohl sie keine kaufmännische Erfahrung hat, führt sie nun als Familienoberhaupt eigenverantwortlich die Geschäfte und trifft alle wesentlichen Entscheidungen. Dabei agiert sie nicht immer ganz glücklich. Während des I. Weltkriegs zeichnet sie als Patriotin Kriegsanleihen und verliert dabei viel Geld.
Als ihr Sohn Egon heiratet, zieht Charlotte gemeinsam mit ihrer ledigen Tochter Alwine vom 2. Stock ins Erdgeschoß der heutigen Konrad-Adenauer-Allee 25. Das hochherrschaftliche Haus hatte August Albert gemeinsam mit seinem Bruder Julius im September 1890 für 100. 000 Mark erworben. Alwine pflegt ihre Mutter hingebungsvoll, sie ist eine vorzügliche Köchin und dankbare Tochter.
Charlotte Rappold ist fast 79 Jahre, als sie am 30 März 1944 vom Städtischen Krankenhaus in Augsburg in die Heil- und Pflegeanstalt überwiesen wird. Ausdrücklich hält der Befund des Städtischen Krankenhauses Augsburg fest, dass Charlotte nicht erbkrank sei, sondern an „seniler Demenz“ leide.

Sie ist mit einer Größe von 1, 63 m und nur 40 kg eine sehr zierliche Person. Am Tag der Überstellung nach Kaufbeuren lässt sie sich willig baden und ins Bett bringen, lehnt aber jede Nahrungsaufnahme ab.
Die Nacht über schläft sie sehr unruhig und tritt gegenüber den Pflegekräften überaus forsch und herrisch auf. Bei der Anamnese gibt sie an, nie ernsthaft krank gewesen zu sein. Charlotte möchte sich nicht untersuchen lassen.
Nach einigen Monaten hat sie sich in Kaufbeuren eingelebt. Als 79-jährige verbringt sie tagsüber viel Zeit im Bett, aber spricht sehr klar und geordnet. Sie kann sich vollkommen selbst versorgen.
Ab August 1944 verweigert sie die Nahrungsaufnahme wegen Appetitlosigkeit. Das Heimessen ästimiert sie ganz und gar nicht, sie ernährt sich vornehmlich von den Lebensmittelpäckchen, welche ihr ihre Töchter Alwine und Marta regelmäßig schicken.
Am 5.September 1944, ihrem 79. Geburtstag, soll die Patientin wieder nach Augsburg entlassen werden. Aber es wird ihr übel, sie hat Schweißausbrüche, so dass sie erst mit dem nächsten aus Augsburg kommenden Transport zurück nach Hause geschickt wird.
Dr. Faltlhauser erwähnt in den Entlassungspapieren, dass Charlotte Rapppold „in gebessertem Zustande“ zu ihren Angehörigen zurückgeschickt werden könne, allerdings mit der Diagnose „Senile Psychose“.
Schon im Verlauf des Oktobers wird sie wiederum in Kaufbeuren eingewiesen. Bis März 1945 ist ihr Zustand unverändert. Nach den Beobachtungen der Ärzte bringt sie fast täglich die gleichen Klagen vor. Es bleibt den Ärzten nicht verborgen, dass sie an „Gelbsucht“ leidet. Die Ärzte unternehmen aber nichts und verordnen ihr lediglich eine „Diätkost“.
3 Wochen später wird ihre Gelbsucht immer noch nicht therapiert, sie ist zitronengelb und „geht körperlich sehr zurück“, eine Standardformulierung in Kaufbeuren für die Patienten, die durch Hungerkost bzw. eine Überdosis an Medikamenten zu Tode gebracht werden.
Tatsächlich verstirbt Charlotte Rappold am 27. März 1945 morgens um 3 Uhr. Der Arzt konstatiert eine doppelseitige Lungenentzündung bei akuter Leberatrophie.
Charlotte Rappold litt an Gelbsucht. Sie hatte keine Leberzirrhose, sondern Gallensteine. Die Ärzte verabreichten ihr eine Überdosis von Medikamenten und führen so bewusst ihren beschleunigten Tod herbei.
Charlotte Rappold wird in Kaufbeuren eingeäschert, ihre Urne wird im protestantischen Friedhof in Augsburg beigesetzt.
Mit einem Stolperstein wollen wir an sie erinnern. Sie wurde ein Mordopfer der wahnhaften sozialdarwinistischen Ideologie und der Krankenmorde.

Biografie erstellt von Dr. Bernhard Lehmann, StD i.R., Gegen Vergessen-Für Demokratie RAG Augsburg-Schwaben, 86368 Gersthofen, Haydnstraße 53
Quellen:
Hist. Archiv BKH Kaufbeuren, Patientenakte Charlotte Rappold, Nr. 14123
StadtAA, MB und MK Charlotte Rappold
Interview mit Edith Kovats am 16.7.2019
Interview mit Axel Frommelt und Mechthild Berger am 8.1.20
Michael von Cranach/Petra Schweizer-Martinschek, Die NS-„Euthanasie“ in der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee, in: Stefan Dieter (Hrsg.): Kaufbeuren unterm Hakenkreuz, Kaufbeurer Schriftenreihe Band 14, Thalhofen 2015, S. 270-287

Wohnort in Augsburg:
Kaiserstraße 25 (heute Konrad Adenauer Allee 25)

Wir freuen uns, wenn Sie die Patenschaft für einen Stolperstein übernehmen.
In diesem Fall wenden Sie sich bitte an folgende e-mail-Adresse: info@stolpersteine-augsburg.de oder aber an bernhard.lehmann@gmx.de
Ein handgefertigter Stolperstein kostet 120 Euro.
Sie können den Betrag überweisen auf das folgende Konto:

Initiative Stolpersteine
IBAN: DE19720900000001290509
BIC: GENODEF1AUB
bei der VR Bank Augsburg-Ostallgäu eG


Bürgerreporter:in:

Dr. Bernhard Lehmann aus Gersthofen

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